Nur 3 Monate?
Als sich eine verdutzte Ukrainerin bei der Gärngschee-Community über den hiesigen Mutterschaftsurlaub erkundigt, geht’s ab: Der Schweizer Mutterschutz gibt zu reden.
«Stimmt es, dass der Mutterschaftsurlaub in der Schweiz nur drei Monate beträgt, während er in der EU ein Jahr beträgt?», fragt Maryna aus der Ukraine in der Gärngschee-Gruppe auf Facebook. «Was machen junge Eltern danach? Wird das Baby in die Кіta oder zur Tagesmutter geschickt? Wie viel kostet so eine Kita oder Tagesmutter im Vergleich zum Gehalt von Mutter und Vater des Kindes?»
Ihre verdutzten Fragen lösen in der Community eine Grundsatzdiskussion über den Mutterschutz in der Schweiz und das Elternsein aus. Es hagelt Kritik am Schweizer Mutterschaftsurlaub: «Ja, leider ist es nur sehr kurz. Danach ist die Kita so teuer, dass es sich nicht wirklich lohnt», erklärt Sera. Auch andere äussern Unmut über den vergleichsweise kurzen Mutterschaftsurlaub in der Schweiz. Eine «Frechheit» findet Selina, ein «Armutszeugnis» meint Jasmin. Sascha schreibt nüchtern: «Willkommen in der Schweiz, dem Arbeitgeberparadies Europas…»
Zum Hintergrund: In der Schweiz steht einer Mutter ein 14-wöchiger Mutterschaftsurlaub zu. Während diesem erhält sie eine Mutterschaftsentschädigung, finanziert über die Erwerbsersatzordnung (EO). Die Entschädigung beträgt 80 Prozent des vor der Geburt erzielten durchschnittlichen Erwerbseinkommens, höchstens aber 220 Franken pro Tag. Die heutige Mutterschaftsentschädigung wurde übrigens am 1. Juli 2005 eingeführt. 1984, 1987 sowie 1999 wurde die Einführung vom Stimmvolk jeweils abgelehnt. Weiter sieht das Obligationenrecht (OR) neben der Entschädigung einen Kündigungsschutz während der gesamten Schwangerschaft und während 16 Wochen nach der Geburt vor.
Im Vergleich zu Ländern wie Italien, Ungarn oder der Slowakei sind die 14 Wochen Mutterschaftsurlaub eher wenig. Europäischer Spitzenreiter ist Bulgarien mit 58,5 Wochen. Auf den ersten Blick wird den Schweizer Müttern nach der Geburt zwar mehr «Urlaub» gewährt als in Deutschland oder Österreich (je 8 Wochen). In beiden Ländern gibt es jedoch im Anschluss bezahlte Elternzeit. In Deutschland sind das 14 Monate, aufgeteilt auf beide Elternteile, bei in der Regel 65 Prozent des Gehalts. In Österreich können sich Eltern die Elternzeit – Karenz genannt – bis zum zweiten Geburtstag aufteilen. In der Schweiz gibt es die Elternzeit nicht.
Jedes Land hat unterschiedliche Systeme und Begriffe:
- Mutterschutz: Umfasst alle Massnahmen zum Schutz der Mütter von der Schwangerschaft bis zum Wiedereinstieg in den Berufsalltag (z.B. Urlaub oder Kündigungsschutz).
- Mutterschaftsurlaub: Die gesamte Zeit, in der eine Mutter vor und nach der Geburt von der Arbeit beurlaubt ist.
- Vorgeburtlicher Mutterschaftsurlaub: Nur die beurlaubte Zeit vor der Geburt. In der Schweiz gibt’s das nicht.
- Vaterschaftsurlaub: Dasselbe in Grün. In der Schweiz sind das 2 Wochen nach der Geburt.
- Elternzeit/Elternurlaub: Die Dauer, während der sich Eltern von der Arbeit beurlauben lassen können, um sich um ihr Kind zu kümmern.
- Elterngeld/Erziehungsgeld: Die Entschädigung, die Eltern während der Elternzeit/des Elternurlaubs erhalten.
Zurück in die Community: Geht es nach Pascale, sollte die Elternzeit beziehungsweise der Mutterschaftsurlaub aber noch länger dauern. In der Gärngschee-Diskussion plädiert sie für drei Jahre. «Man sieht doch, wie viele Kinder in irgendeiner Form Schwierigkeiten haben», schreibt sie. «Das beweist, wie ungesund unser System für Kinder ist. Das Kind braucht die Mutter in den ersten drei Jahren unbedingt.» Fremdbetreuung komme für sie erst ab dem dritten oder vierten Lebensjahr in Frage. «Vorher auf keinen Fall.»
In der Schweiz heisst es nach 14 Wochen aber eben wieder: An die Arbeit. Maryna wollte deshalb wissen, was so ein Kitaplatz koste. In Basel gibt es (bislang) keinen fixen Betrag. Die meisten Kitas verlangen für eine 100-Prozent-Betreuung, aber um die 2’500 Franken im Monat. Für Säuglinge (bis zu 18 Monaten) muss man vielerorts etwa 3’400 Franken bezahlen. Im August 2024 ändert sich das jedoch: Ab dann sollen alle Eltern maximal mit 1’600 Franken zur Kasse gebeten werden. Möglich machen das höhere Betreuungsbeiträge auf Rechnung des Kantons Basel-Stadt.
«Ich frag mich, wieso man hier, wo es Direktwahlen gibt, nicht dafür einsteht, dass es mindestens ein Jahr Mutterschaft gibt.»Doruntina
In der Gärngschee-Community teilt Doruntina Marynas Verwunderung über den Schweizer Mutterschaftsurlaub: «Ich frag mich, wieso man hier, wo es Direktwahlen gibt, nicht dafür einsteht, dass es mindestens ein Jahr Mutterschaft gibt. Kann man sowas nicht durchsetzen?» Ihrer Meinung nach seien 14 Wochen für Mutter und Kind unzumutbar.
Ein längerer Mutterschaftsurlaub findet jedoch nicht bei allen Müttern Anklang. Brigitte fragt nach: «Warum soll die Allgemeinheit dafür bezahlen, wenn Sie Kinder wollen?» Ausserdem will sie wissen, womit «so ein langer Mutterschaftsurlaub» bezahlt werden soll. Auch Melanie hat wenig Verständnis für Forderungen nach längerem Mutterschutz: «Weshalb macht man ein Kind, wenn man es sich nicht leisten kann, zuhause beim Kind zu bleiben?»
Einen ähnlichen Ton schlägt Florence an: «Wenn jemand ein Kind will, soll er/sie sich darauf vorbereiten. Dazu gehört auch das Finanzielle. Das ein Kind kostet, weiss mittlerweile wohl jeder.» Darauf schreibt Aischa zynisch: «Meiner Meinung nach sollten Menschen im Alter nicht gepflegt werden. Sie haben ja gewusst, dass sie mal alt werden und hätten vorsorgen können.»
Ein Thema, das kaum angeschnitten wird, ist der vorgeburtliche Mutterschaftsurlaub. Doch dieser gäbe auch Anlass für Diskussionen: Denn in der Schweiz – im Gegensatz zu allen anderen europäischen Ländern – gibt es ihn nicht. Hier heisst es: Arbeiten bis zum letzten Tag vor der Geburt. In Deutschland dauert der vorgeburtliche Mutterschaftsurlaub sechs Wochen, in Österreich acht. In der Schweiz lassen sich viele Schwangere vor der Geburt krankschreiben. Zu welchem Zeitpunkt sie das tun, ist unter anderem stark von ihren Gynäkolog*innen abhängig. Bajour-Chefredakteurin Ina Bullwinkel schrieb in ihrem Kommentar vor zwei Jahren, dass eine einheitliche Regelung für alle nur fair wäre.
In ihrem Kommentar schreibt Ina Bullwinkel darüber, dass Gebärende dafür verantwortlich sind, wann sie sich und ihr Ungeborenes schützen wollen. Der Anlass zum Kommentar von 2022 war ein EVP-Vorstoss für einen kantonalen vorgeburtlichen Mutterschutz im Grossen Rat. Dieser liegt seit der Überweisung beim Regierungsrat auf dem Tisch.
In der Diskussion bei Gärngschee gehen die Meinungen weit auseinander. In einem Punkt sind sich die Diskutierenden aber einig: «Als Grosseltern leisten wir ehrenamtlich einen grossen Beitrag zur Wirtschaft», schreibt Pia. Gegen diese Aussage hat niemand etwas einzuwenden. Sie erntet 30 Likes.
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