«Diesen Sommer gehe ich in die Frühpension»

Jahrzehnte lange Arbeit hat die Eltern von Arzije gezeichnet. Weshalb dies Schuldgefühle in ihr auslöst und wonach sie sich sehnt, erzählt sie in ihrer Kolumne Arzije Kolumnije bei unseren Kolleg*innen von baba news.

Arzije-1Mai
(Bild: baba news)
Babanews baba news Peering

Dieser Artikel ist am 27. April 2022 zuerst bei baba news erschienen. baba news gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

Mein Vater winkt mir zu. Zwei Finger fehlen an seiner Hand. Vor Jahren verlor er sie bei einem Arbeitsunfall. Ich rufe meine Mutter im Krankenhaus an. Ihre müde Stimme am Telefon weckt alte Erinnerungen. «Eine Metallstange ist mir bei der Arbeit auf den Kopf gefallen.» Letztes Mal wurde ihr Rücken verletzt. «Dieses Mal ist es nicht so schlimm. Ich darf morgen wieder nach Hause kommen.» Zwischen Arztterminen und Aufenthalten im Krankenhaus arbeiten sie Vollzeit in Fabriken. Immer dankbar für ihre Arbeit, obwohl sie sich dieses Leben nie gewünscht haben. Sie hatten einst Träume und das Verlangen, beruflich etwas zu erreichen. Doch was für einen Wert hatten ihre Diplome hier in der Schweiz?

Wie viele Opfer noch für ein sicheres Leben im Westen, das rückblickend nicht mehr so sicher scheint?

Jetzt, wo alle Kinder ausgezogen sind, verdienen sie endlich genug, um alle ihre Rechnungen zu bezahlen. «Diesen Sommer gehe ich in die Frühpension», teilt mir mein Vater mit einem müden Lächeln mit. Unsicher argumentiert er seinen Entscheid. Eine Entscheidung, die ich schon lange gutheisse. Es bricht mir das Herz, dass er denkt, er müsse sich erklären. Doch trotzdem kommen bei mir Fragen auf. Wird seine Rente genügen? Wird sie gezeichnet sein von Arztterminen und Krankenhäusern? Wird er sich wenigstens in der Rente ein bisschen ausruhen dürfen? Wie viele Opfer noch für ein sicheres Leben im Westen, das rückblickend nicht mehr so sicher scheint?

Meine Eltern liessen alles zurück und schenkten mir und meinen Geschwistern Sicherheit und Bildung. Bildung, die hier und überall zählt. Mit dieser Bildung sind wir aufgestiegen in eine Schicht, in der wir uns unser Zimmer nicht mehr durch drei teilen müssen. In eine Schicht, in der wir uns mindestens dreimal im Jahr Urlaub leisten können und nicht immer auf den Sommer warten müssen. In eine Schicht, in der ein Restaurantbesuch nichts Besonderes mehr ist, sondern Normalität. Eine Schicht, in der Geldsorgen einen kleinen Stellenwert haben. Stattdessen bereiten mir Selbsterfüllung und das Streben nach Erfolg Kopfschmerzen.

Wie kann ich all dies annehmen, wenn ich sehe, wie ihnen all das verwehrt blieb? Wie kann ich meiner Mutter erzählen, dass ich heute das Doppelte von ihr verdiene?

Manchmal sitze ich in meiner Wohnung und fühle mich in meinen eigenen vier Wänden fremd. Ich sehne mich nach unserem kleinen Zuhause. Das Kinderzimmer, das ich mit meinen Schwestern geteilt habe. Wann geschah dieser Wechsel? Wie kann ich all dies annehmen, wenn ich sehe, wie ihnen all das verwehrt blieb? Wie kann ich meiner Mutter erzählen, dass ich heute das Doppelte von ihr verdiene? Als wären ihr Fleiss und ihre Arbeit weniger wert? Meine Mutter möchte so lange arbeiten, wie ihr Körper mitmacht und aushält. Doch was nützt ihr die Pension, wenn sie sich nicht mehr bewegen kann?

Ich schäme mich, denn meine Eltern sind stärker als ich. Mental wie auch körperlich. Sie arbeiten Vollzeit, schmeissen den Haushalt und beschenken uns mit ihrer Präsenz, wenn wir auch heute noch im Erwachsenenalter nach ihnen rufen. Werde ich jemals so viel stemmen können wie sie? Oder kommt das vielleicht mit der Zeit? Diese Resilienz?

Unsere Zukunft ist besser, doch ich kann sie immer noch nicht schuldfrei annehmen.

Sie haben sich längst mit dem abgefunden, was bei mir erst jetzt einen so tief steckenden Schmerz weckt. Ihre Kindheitsträume, Selbstverwirklichung, die Nähe ihrer Familie, Freundeskreise und Gesundheit – alles geopfert im Gegenzug für ewiges Heimweh, verpasste Familienzusammenkünfte und Krankheit. «Für eine bessere Zukunft für euch.» Und sie haben ihr Ziel erreicht. Unsere Zukunft ist besser, doch ich kann sie immer noch nicht schuldfrei annehmen. Geblendet von den sauberen Strassen, der Sicherheit, der Ordnung und dem Wohlstand, vergessen wir oft die Realität der Arbeiterschicht.

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