Die Krux mit den Idealen
Der kommende Monat gehört den Fussballfans. Endlich ist wieder EM! Aber darf man sich in Zeiten einer Pandemie und im Hinblick auf die Klimasituation überhaupt auf eine Grossveranstaltung in elf verschiedenen Ländern freuen?
Ideale fallen schnell. Einst schrieb ich in einem Raptext: «Ich bii halb so ideal wie miini Ideal.» Damals schrieb ich das eigentlich vor allem aufgrund der schönen Wortharmonie. Heute holt mich dieser Satz immer wieder ein. Mitunter auch im Fussball.
Heute startet tatsächlich eine Europameisterschaft. Ein Jahr zu spät und immer noch in ganz Europa. Die UEFA hat ordentlich Druck gemacht, dass Zuschauer*innen zugelassen werden. Diese EM wird sehr speziell. Einerseits ist da die Hoffnung auf eine postpandemische Normalität. Andererseits ist das ganze ziemlich pervers. Die EM findet an 11 Spielorten in ganz Europa verteilt statt. Für ihre drei Gruppenspiele fliegt die Schweizer Nati zwischen Rom und Baku zweimal hin und her. Das sind insgesamt rund 12’600 Kilometer. Was für eine Zahl. Was für ein CO2-Austoss! Was für eine Idee in Zeiten einer Pandemie!!
So viel zu den Idealen.
«Für ihre drei Gruppenspiele fliegt die Schweizer Nati zwischen Rom und Baku zweimal hin und her. Das sind insgesamt rund 12’600 Kilometer.»
Normalerweise fiebern wir im Didi einem Grossanlass wie der EM lange im Voraus entgegen. Die letzten nationalen Entscheidungen sind im Mai gefällt und spätestens ab diesem Zeitpunkt wächst die Vorfreude kontinuierlich. Dieses Jahr ist dieses spezielle Gefühl nicht wirklich da.
Erst wenige Tage vor EM-Start beginnt es zu kribbeln. Meine erste Impfung ist durch, die Schutzwände stehen, Abstände zwischen den Tischen aussen sind vermessen, QR-Codes für das Kontaktformular sind auf die Tische geklebt und Granit Xhaka sorgt mit seinem neuen Tattoo für einen kleinen Skandal.
Als ich am Mittwoch die letzten Schutzelemente fertig und die letzte Bestellung vor EM-Beginn aufgegleist hatte, sass ich alleine im Didi. Die Ruhe vor dem Sturm. Ich schaute mir den Spielplan an: «Geil, am Samstag spielt die Schweiz gegen Wales, am Sonntag trifft England auf Kroatien und die Niederlande gibt endlich ihr EM-Comeback. Was für ein Wochenende!», schoss es mir durch den Kopf.
«Und wenn man auch noch keine Fussballeuphorie spürt, so merkt man doch, dass die Hoffnung auf eine gute kommende Zeit in der Bevölkerung wächst.»
Die EM bedeutet sehr viel für das Didi und die Gastronomie generell. Es kann nun tatsächlich vorwärts gehen. Und wenn man auch noch keine Fussballeuphorie spürt, so merkt man doch, dass die Hoffnung auf eine gute kommende Zeit in der Bevölkerung wächst. Das hat diesen Sommer vielleicht nur beschränkt mit Fussball zu tun.
Aber auch.
Wir wagen wieder zu träumen. Denn wenn die Schweiz gegen Wales tatsächlich gewinnt, dann kann sie in Rom mit einem guten Gefühl gegen Italien antreten und mit viel Glück einen Lucky Punch setzen, bevor es in Baku gegen die junge türkische Nationalmannschaft geht. Das sind drei wichtige Spiele für die aktuell spielende Schweizer Fussballgeneration.
Stell dir vor, was gäbe es doch für eine schillernde EM, wenn die Schweizer Nati endlich den eigenen Ansprüchen gerecht würde. Landete sie tatsächlich auf dem ersten Gruppenplatz – gut gut, das ist doch eher unwahrscheinlich, aber hey, das Motto heisst träumen – würde sie im Achtelfinale im Londoner Wembley spielen. Stell dir das vor! Und von Baku wäre das eine Flugreise von «nur» 3974 Kilometern entfernt. Ach, «ich bii halb so ideal wie miini Ideal».