Jürg Grossen: «Wir sollten das Rahmenabkommen aus der Schublade nehmen»

Wenn die Schweizer Politik ihren Dogmatismus und die Angst vor der SVP nicht überwindet, droht uns ein kalter Winter. Die Mitte hätte die Möglichkeit, den Stillstand endlich zu überwinden – allein, es fehlt der Mut. Eine Analyse.

Schweizer Flagge und EU Flagge und Jürg Grossen
It's gettin' cold out here. GLP-Präsident Jürg Grossen hätte da eine Lösung. (Bild: Unsplash / Keystone)

Der Rhein strömt derzeit eher als Rinnsal durchs Dreiländereck. So warm, dass man die letzten verbliebenen AKWs wegen der zu hohen Wassertemperatur im schlimmsten Fall bald mal abstellen müsste. So kraftlos, dass die Wasserkraftwerke nur noch halb so viel Strom liefern. Der Strom kennt keine Grenze. Der Strom verbindet. In guten, wie in schlechten Zeiten. 

Die Schweiz bräuchte Gas und Strom aus Europa und sollte dringend Teil des europäischen Solidaritätsabkommens werden. Es sagt allen Ländern gegenseitige Gaslieferungen zu, die sich zu einer 15-prozentigen Gasersparnis verpflichten.

Über die Einhaltung des Abkommens wacht im Streitfall der Europäische Gerichtshof. Das sind die «fremden Richter», wegen denen unter anderem die SVP das Rahmenabkommen scheitern liess. 

«Die Bundesrät*innen gehören allesamt einer SVP-traumatisierten Generation an.» 
Michael Hermann, Politgeograf

Doch wer sollte sonst über die Einhaltung eines europäischen Solidarabkommens wachen? 

Prompt zeigt uns jetzt die EU die kalte Schulter. So sagte Robert Habeck, deutscher Vizekanzler, im Namen Brüssels Ende Juli zu CH Media: «Kein Rosinenpicken.» 

Gefangen in dieser Sackgasse kann die Schweizer Regierung wählen zwischen europaskeptischer Prinzipientreue und Sparkampagnen für die Bevölkerung angesichts drohender, kalter Heizkörper. Die Unfähigkeit des Bundesrats ist offensichtlich: Medien von links bis rechts haben sie am Nationalfeiertag beleuchtet, die Rede ist von Intrigen und Gehässigkeiten, von Wahlkampf statt Zusammenarbeit. 

Wie konnte es dazu kommen, dass die Regierung es nicht mal mehr fertig bringt, in einer Notsituation pragmatische Lösungen zu suchen und sich stattdessen auseinander dividieren lässt?

Die Antwort ist relativ einfach: Die Mehrheit der Schweizer Regierung lässt sich – unabhängig von der jeweiligen Sachlage – von der SVP vorantreiben. Oder wie es Michael Hermann, Geschäftsführer der Forschungsstelle Sotomo, auf den Punkt bringt: «Die Bundesrät*innen gehören allesamt einer SVP-traumatisierten Generation an.» 

Wetterwendische Mitte

Die populistische Rechtspartei hat es geschafft, dass die Bürgerlichen in Europafragen über die letzten Jahre nach rechts gerutscht sind. Den Anfang nahm die EU-Antihaltung mit Christoph Blochers erfolgreichem Widerstand gegen den EWR-Beitritt 1992 und zieht sich durch bis heute: Die SVP will mit allen Mitteln ein Rahmenabkommen mit der EU verhindern.

Die SVP hat jahrzehntelang vom emotionalen Engagement gegen Europa profitiert. Die Bevölkerung war zeitweise skeptischer gegenüber der EU als die bürgerlichen Parteien Mitte (ehemals CVP) und FDP. Die Europäische Union eignet sich bestens als Projektion gegen ein komplizierter werdendes Zusammenleben. Einfache Lösungen sind von der EU nicht zu erwarten. Die Bürgerlichen verloren in der Folge Stimmen an die populistische Rechte. 

Entsprechend wetterwendisch waren die Positionen der Mitte und FDP beim Rahmenabkommen. Die Parteipräsidenten Gerhard Pfister und Thierry Burkart (damals noch nicht Präsident) stellten sich gegen das Rahmenabkommen, viele aus der Basis waren dafür. Von Ignazio Cassis, Karin Keller-Sutter und Viola Amherd war also keine Leadership für Europa zu erwarten.

«In den 90er-Jahren waren CVP und FDP in der EU-Frage progressiver als die Bevölkerung. Jetzt ist es umgekehrt: Die Bevölkerung ist offener als die politische Elite.»
Michael Hermann, Politgeograf

Das galt auch für die SP, die sich in der Vergangenheit zwar immer wieder proeuroäisch zeigte, nun aber gespalten war: Der pragmatische, proeuropäische Flügel in der Partei stand den Gewerkschaften gegenüber, die Lohndumping befürchteten. Das brachte auch Simonetta Sommaruga und Alain Berset in eine Zwickmühle. Und am Schluss obsiegte die SVP.

Der Witz an der Misere: Die abgebrochenen Verhandlungen mit der EU sind offenbar gar nicht im Sinne des Volks, das die SVP für sich beansprucht und das FDP und Mitte fürchten. Im Mai 2021 gab der Pharma-Verband Interpharma eine Umfrage beim Meinungsforschungsinstitut gfs in Auftrag. Resultat: 64 Prozent der Befragten sprachen sich für ein Ja zum Rahmenabkommen aus.

Der Wind in Sachen Europa scheint in der Schweiz gedreht zu haben. Politgeograf Hermann sagt: «In den 90er-Jahren waren die bürgerlichen Parteien CVP und FDP in der EU-Frage progressiver als die Bevölkerung. Jetzt ist es umgekehrt: Die Bevölkerung ist offener als die politische Elite.» Man könnte auch sagen: eingemitteter. Das wäre angesichts der Krise eine Chance zum konstruktiven Pragmatismus.

Und wer könnte das angesichts der kompromisslosen Positionen an den Polen besser vertreten als eine starke Mitte?

«Der Bundesrat muss das Rahmenabkommen ein bisschen lockerer anpacken.»
Jürg Grossen, GLP-Präsident

Tatsächlich kommt der pragmatischste Vorschlag zum Thema von einer Partei aus der Mitte. Aber nicht von der Mitte selbst, sondern von den Grünliberalen: «Es ist ganz einfach», sagt Parteipräsident Jürg Grossen zu Bajour. «Wir sollten das Rahmenabkommen wieder aus der Schublade nehmen und unterschreiben.» Die GLP ist überzeugt: «Ein besseres Abkommen bekommen wir nicht.» Wenn der Vertrag mal unterschrieben sei, könne man die umstrittenen Punkte immer noch in der Praxis klären: «Der Bundesrat muss das ein bisschen lockerer anpacken. Andere Staaten legen einzelne Punkte auch nicht so eng aus.»

Der Vorschlag ist bestechend einfach. Man könnte anknüpfen, wo man aufgehört hat in den Gesprächen mit der EU und müsste nicht wieder von vorne beginnen mit den langjährigen Verhandlungen. Und die jetzige Krise hängt vor allem von Schnelligkeit ab: Ohne Abkommen gibt es vielleicht weder europäischen Strom noch Gas im Winter.

Nur hat die GLP wenig zu melden beim Rahmenabkommen. Sie stellt keine*n Bundesrät*in. Und es ist die Regierung, die ein Abkommen aushandeln muss. Aber vielleicht gibt es ja angesichts der Krise von Seiten der Mitteparteien nun mehr Kompromissfähigkeit?

Schliesslich gab es in den letzten Monaten und Wochen Zeichen dafür, dass die Bürgerlichen ein selbstbewusstes Comeback wagen. Als Putin in die Ukraine einfiel und Völkerrecht brach, traten die Präsidenten Gerhard Pfister (Mitte) und Thierry Burkart (FDP) auf und forderten eine undogmatische und zeitlich angepasste Schweizer Sicherheitspolitik, die sich der Nato und der EU annähert. Und das gegen den Widerstand der SVP, die auf einen Neutralitätsbegriff pocht, der sich aus einem Weltkriegs-Mythos nährt, vor allem aber aktuelle Auto- und Kleptokraten wie in Russland toleriert und Handel mit ihnen ermöglichen will.

«Bundesrätin Sommaruga ist offenbar auf gutem Weg, punkto Strom und Gas mit der EU eine Einigung zu erzielen.»
Gerhard Pfister, Mitte-Präsident

Könnte Putins Krieg ein Weckruf für die Bürgerlichen sein, sich nicht nur in der Neutralitäts- und Sicherheitspolitik von der SVP zu distanzieren und sich – selbstbewusst – gegenüber Europa zu öffnen?

Die Antworten tönen ernüchternd. Mitte-Chef Gerhard Pfister stellt sich nach wie vor gegen das Rahmenabkommen: «Das damalige Rahmenabkommen war nicht ausgewogen, sondern nachteilig für die Schweiz, unter anderem im Bereich des Lohnschutzes.» Die Schweiz müsse sich darum jetzt im Inland beim Lohnschutz und dem Schutz der Sozialwerke einigen,  um mit der EU eine gute Lösung finden zu können.

Der Mitte-Präsident macht sich keine Sorgen, dass die Schweiz deswegen im Winter frieren muss: «Bundesrätin Sommaruga ist offenbar auf gutem Weg, punkto Strom und Gas mit der EU eine Einigung zu erzielen.» Pfister fühlt sich auch nicht bemüssigt zu handeln. «Eine Lösung mit der EU zu finden für die Strom- und Gasversorgung, liegt jetzt auch klar in der Verantwortung des Bundesrats. Dazu braucht es keinen zusätzlichen Auftrag des Parlaments, der ohnehin zu spät käme.»  

«Das Rahmenabkommen ist innenpolitisch nicht mehrheitsfähig.»
Thierry Burkart, FDP-Präsident

Das betont auch FDP-Präsident Thierry Burkart: «In der Europapolitik steht der Gesamtbundesrat in der Verantwortung.» Auch die FDP will das Rahmenabkommen nicht wieder aufnehmen, sondern «sektoriell» verhandeln. Burkart: «Der bisherige Ansatz mit einem Rahmenabkommen ist innenpolitisch nicht mehrheitsfähig und bot in den Verhandlungen zu wenig Spielraum für kreative Lösungen.»

Mit anderen Worten: Die Schweizer Regierung bleibt blockiert. Denn die Parteien im Rücken zaudern weiter. Die Schweiz leistet sich den Luxus, eine Regierung zu haben, bei der die grössten Parteien keine Regierungsverantwortung übernehmen. Und so bummeln wir durch die nächste akute Krise.

Und zwar nicht nur in Sachen EU, sondern auch in der Frage der erneuerbaren Energie. Man kann der Energieministerin die Schuld an den drohenden Versorgungsengpässen geben. Die Energiepolitik wird aber seit Jahren von den Autoparteien SVP und FDP im Verbund mit der ewigen AKW-Lobby blockiert. Mit freundlicher Unterstützung von Landschaftsschützer*innen und Umweltorganisationen, die sich gegen Fotovoltaik oder Windräder in den Alpen stellen.

Deutschland kann pragmatisch

Wie es anders gehen könnte, zeigt im Moment Deutschland in Person von Vizekanzler Robert Habeck. Der ist zwar grün, setzt aber angesichts der Krise auf äusserst mittig akzeptierte Lösungen. Greift vorübergehend auf Kohlekraftwerke zurück, um die Gasspeicher zu füllen, während er langfristig die Erneuerbaren antreibt. Er macht vor: In der Krise braucht es Pragmatismus, nicht Ideologie und Dogmatismus – und ein klar vermittelbares Vorgehen. 

Und Habeck ist eine Leaderfigur, die den Handlungsauftrag fasst und die Leute mitnimmt. Die fehlt in der Schweiz. So sagt Jürg Grossen: «Es bräuchte einen Bundesrat, der die Führung übernimmt. Jemanden vom Typ Doris Leuthard oder Adolf Ogi, die oder der auch den Konflikt mit der eigenen Partei im Ringen um Lösungen nicht scheut.»

Eine solche sieht er nicht im aktuellen Bundesrat. Energieministerin Simonetta Sommaruga hat zwar am Verlegertreffen vom Wochenende in Locarno Zeichen in Richtung Europa ausgesendet. Sie sagte in ihrer Rede: «Wir brauchen eine Lösung mit Europa.» Der Bundesrat müsse ein neues Paket mit der EU anstreben. 

Doch entschlossen tönt anders. 

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Davor: Chefredaktorin im Lokalmedium meines ❤️-ens (Bajour), TagesWoche (selig), Gesundheitstipp und Basler Zeitung

Kann: alles in Frage stellen

Kann nicht: es bleiben lassen

Liebt an Basel: Mit der Familie am Birsköpfli rumhängen und von rechts mit Reggaeton und von links mit Techno beschallt zu werden. Schnitzelbängg im SRF-Regionaljournal nachhören. In der Migros mit fremden Leuten quatschen. Das Bücherbrocki. Die Menschen, die von überall kommen.

Vermisst in Basel: Klartext, eine gepflegte Fluchkultur und Berge.

Interessensbindungen:

  • Vorstand Gönnerverein des Presserats
  • War während der Jugend mal für die JUSO im Churer Gemeindeparlament. Bin aber ausgetreten, als es mit dem Journalismus und mir ernst wurde.

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