Die Unkonventionelle

Der Schriftsteller Jean-Lin Lagarrigue präsentiert während der Art Basel seine Werke auf Holz oder Metall in der Galerie Kudos, die alles andere ist als ein klassischer Ausstellungsraum.

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(Bild: Ernst Field)

Vor dem Beginn der Art Basel am 13.6. wirft Bajour einen Blick auf verschiedene Basler Galerien. Auch wenn wir nicht alle zeigen können, möchten wir einen kleinen Einblick in die Welt der Galerist*innen geben. Unsere Galerienschau macht halt in der Galerie Kudos in der Drahtzugstrasse.

«Ich möchte die Sprache dekontextualisieren», sagt Jean-Lin Lagarrigue vor der Kunstgalerie Kudos an der Drahtzugstrasse und zieht an seiner selbstgedrehten Zigarette. Der in Martinique, französische Karibik, geborene Schriftsteller wird von Montagabend an hier seine erste Ausstellung unter dem Titel «Kunstlichebefruchtung» präsentieren. Auf verschiedenen Materialien und Medien wie Holz, Metall, Rostplatten unterläuft er mit seinen Texten die konventionellen Normen des Schreibens, der Orthographie und der Interpunktion.

Während der Art geben die beiden Kuratoren Simeon Jankovic und Jonas Eggenberger, die auch in der Kunstsammlung der Novartis arbeiten, in der Kudos-Galerie bereits zum vierten Mal jungen Künstler*innen die Möglichkeit, sich zu präsentieren. Gleichzeitig machen die beiden so auf sich aufmerksam. Dieses Mal hat Jean-Lin Lagarrigue die Ehre, der in weissem Hemd und Plüschhut ganz zappelig ist vor Vorfreude und Aufregung. «Mit Jean-Lin hat es sofort gematcht», sagen die beiden, «die Ästhetik hat uns überzeugt». Auch möchten sie, die selbst erst Anfang 30 sind, jungen Menschen eine Chance geben. «Das ist wichtig», sagt Simeon, «denn in der Kunstszene fehlt es ihnen oftmals an Support». 

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Kudos ist keine Galerie im klassischen Sinne: es ist ein Raum, der nun auch ausserhalb der Art bespielt werden soll. (Bild: Ernst Field)

Kudos, ein Durchgangsort zwischen der Messe mit ihren Art Awards und der Kaserne mit der Liste, ist keine Galerie im klassischen Sinne. Es ist eher ein Raum, der in Zukunft auch ausserhalb der Art als Ausstellungsort bespielt werden soll. Das Haus selbst ist Kunst mit seiner bemalten Fassade von Robert Berry. Die beiden Kollegen Simeon und Jonas haben im September ihr Büro International vom Kleinbasel in die Grossbasler Innenstadt verlegt, von wo aus sie  Sammler*innen coachen, Ausstellungen betreuen und Kunst konservieren.

Vorerst soll das Schaufensteratelier aber von Jean-Lin Lagarrigue bespielt werden, dessen Interesse für Sprachen seine Kunst beeinflusst hat. Ja, Sprache und Kunst haben sich geradezu gegenseitig «befruchtet», wie er erklärt. Der 34-Jährige, der seit Jahren auch in der Gastronomie tätig ist, hat mit der Zeit stapelweise vollgerkritzelte Kellnerzettel mit poetischen Texten angehäuft, sich selbst dabei aber nie als Schriftsteller gesehen. 

Als er innerhalb von Wien, wo er 9 Jahre lebte, umgezogen ist, hat er gemerkt: «Die Schriftstellerei ist einfach schon da in meinem Leben.» Was seine Texte noch brauchten, war ein Raum. Also hat er einen «Space» gebildet, «der sie halten kann». Die Werke des Künstlers entstehen im Moment, er arbeitet mit dem, was gerade da ist: Mit Asche von Zigaretten beispielsweise. Die schwarze Tinte – er verwendet ausschliesslich Tinte für seine Kunst, keine Farbe – mischt er mit Spirituosen, mit Campari, Rot- oder Weisswein. Auch während der Ausstellung sollen Besucher*innen mit Getränken und Leckerbissen versorgt werden. «Jede*r ist willkommen! Während der Art ist das hier ein Kommen und Gehen», erzählen die beiden Kuratoren Simeon und Jonas. «Es ist immer was los.»

«Die Liebe zu schreiben, ist grösser als die Angst, Fehler zu machen.»
Schriftsteller Jean-Lin Lagarrigue

Bei diesem Geläuf fühlt sich Lagarrigue wohl. Auch heute noch arbeitet er, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, in einer Bar, der Safari Bar, wo er mit Hingabe Getränke ausschenkt. Und, sofern er einen Moment Zeit hat, seine Gedanken weiter auf Kellnerzettel niederschreibt. Diese klingen dann zum Beispiel so: «Im Griff der Zeit, die im Rhythmus des menschlichen Mutes läuft, sind die gefallenen Tugenden unter ihren flüchtigen Fetzen zerbrechlich, die das Leben an die zähen Kämpfe ihrer Prägung binden.» («Aux prises du temps», Paper on Wood - 50 cm x 122 cm)

Jean-Lin Lagarrigue, der auf Französisch und Englisch schreibt, stammt nicht aus einer Künstler*innenfamilie. Sein Vater ist Waldingenieur, was ihn dem Medium Holz nähergebracht hat. Seine Kindheit hat er in Südfrankreich verbracht, lebte danach in Guadeloupe, in Französisch-Guayana, war im Internat zurück in Frankreich, studierte in Paris Internationale Wirtschaft. Lebte in der Slowakei und eben in Wien, wo er ebenfalls hinter einer Bar stand. Und seine aktuelle Kuratorin Wiktoria Tundys kennenlernte. Damals wussten die beiden voneinander noch nicht, dass sie im Kunstbereich tätig sind.

Heute kuratiert Tundys, die in Polen Malerei und Neue Medien studiert hat, die Ausstellung von Lagarrigue. Die Kudos-Kuratoren Simeon und Jonas halten sich derweil zurück, sie stellen den Raum zur Verfügung, liefern den Künstler*innen Support beispielsweise in Sachen Grafik oder bieten technische Hilfe. Den Lead überlassen sie aber den Ausstellenden.

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Kuratorin Wiktoria Tundys und Jean-Lin Lagarrigue lernten sich in Wien hinter der Bar kennen. (Bild: Ernst Field)

Es ist Wiktoria Tudys, die die Bilder arrangiert, die Kunstwerke so aufhängt, dass sie die Geschichten von Jean-Lin Lagarrigue erzählen. Dies geschieht in enger Zusammenarbeit mit ihm. Ein bisschen wirkt sie auch wie seine Managerin, sehr um sein Wohl besorgt, korrigiert ihn, wenn er sich im Deutschen gegenüber der Journalistin nicht exakt ausdrückt, übersetzt Wörter. «Ich leide unter Dyslexie», sagt Lagarrigue und Tundys ruft von der Fensterbank aus zu: «Legasthenie». Sprich: Jean-Lin Lagarrigue macht orthografische Fehler. «Schreiben ist ein komplexer Prozess», wie er sagt. Aber: «Die Liebe zu schreiben, ist grösser als die Angst, Fehler zu machen.» Die Legasthenie hat Lagarrigue geholfen, die Kunst besser zu verstehen. Aus seiner Legasthenie hat er Kunst gemacht. Er wollte seine Fehler akzeptieren, mit der Melodie der Wörter spielen. «Wir sind frei in der Kunst.»

Letztes Jahr kam Jean-Lin Lagarrigue nach Basel, «weil er hier Freunde hat», wie er sagt. Und sogleich kommt er ins Schwärmen: Die Menschen hier seien sich nicht bewusst, wie reich die Schweiz an Kultur sei. «Es ist die Apotheose», also die Vergöttlichung. «Göttlich», so schwärmt er, werde auch die Performance an der Vernissage am Montagabend; Klavierklänge von Eero Schoch sollen die Soloshow des Schriftstellers begleiten.

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