Hier spricht Coco, der Rehbock vom Hörnli

Derzeit wird wieder über die Rehe auf dem Friedhof Hörnli gestritten, die die Gräber zerstören. Einmal mehr wird über sie, statt mit ihnen gesprochen. Wir geben Coco, dem Rehbock, eine Stimme.

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Coco auf der Flucht vor den Paparazzi. (Bild: Valerie Zaslawski)

Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Coco, ich bin ein Rehböckli, also ein kleines Männli. Das kannst du an meinem Geweih erkennen. Ich bin mindestens ein Jahr alt, dem hellen Gesicht nach vielleicht sogar etwas älter. Laut Wildtierexperten vom Schweizer Tierschutz STS soll ich in ziemlich guter Verfassung sein.

Ansonsten bin ich gerade etwas entnervt. Denn: Ich lebe hier mit schätzungsweise 60 Artgenoss*innen auf dem rund 50 Hektaren grossen Friedhof Hörnli und seinem umliegenden Waldgelände. Und wie du bestimmt mitbekommen hast, wird in den Medien und der Politik gerade wieder einmal darüber gestritten, was mit uns passieren soll.

LDP-Grossrat Lukas Faesch hat eine Interpellation eingereicht wegen der «unzumutbaren Zunahme von Rehschäden» auf dem Friedhof. Die Rehpopulation habe sich nochmals massiv und unkontrolliert vermehrt aufgrund des geschützten Habitats und der stets im Überfluss vorhandenen Nahrung.

Ausserdem wird im Vorstoss behauptet, wir seien struppig und kleinwüchsig, weil wir Inzucht betrieben. Am Ende kommen sie womöglich doch wieder auf die Idee, uns abzuknallen.

Andrea Fopp zugeschnitten
Abschiessen und gut ist!

Ein Kurzkommentar von Andrea Fopp

Als Jägerstochter kann ich die Aufregung der Tierschützer*innen nicht verstehen: Warum soll man nicht einige Rehe erschiessen, damit es nicht zu viele werden? Wir leben nun einmal in einem Land, in dem die Tiere keine natürlichen Feinde haben. Also werden die Populationen immer grösser, wenn man sie lässt.

Das schadet nicht nur dem Grabschmuck, sondern ist auch ungesund für die Tiere. Ich weiss, Tierschützer*innen geht es auch um philosophische Prinzipien. Von wegen der Mensch sollte sich das Tier nicht Untertan machen. Das finde ich einen durchaus löblichen Denkansatz.

Aber manchmal braucht ein Problem auch schnelle, unkomplizierte Lösungen statt Grundsatzdebatten. Sorry, Coco. 

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Coco im Schatten. (Bild: Valerie Zaslawski)

«Chill mal deine Leber!», sag ich da. Nur weil wir ein paar Knospen von den Gräbern fressen. Wir waren schon vor dir da, schon lange vor dir sogar. Gehören genauso zur Flora und Fauna, jäwoll! Wir sind die häufigsten Wildhuftiere, der Gruppe der Hirschen zugehörig. 

Und von wegen struppig: Sommerfell, kännsch? Wir sind einfach im Fellwechsel. 

Ganz im Gegenteil kann die Tatsache, dass wir hier so viele sind und uns so prächtig vermehren, auch als Zeichen dafür gewertet werden, dass wir uns wohlfühlen. Die Lebensbedingungen sind huärä guät! Immer was zu futtern. Keine Luchse, keine Wölfe. Nur der Fuchs macht den Rehkitzen, den Kleinsten unter uns, hin und wieder zu schaffen.

«Mach doch eine wissenschaftliche Studie, finde heraus, wie viele wir hier sind, und ob wir zu eng leben.»
Coco, der Rehbock

Ich schlage dir Folgendes vor: Mach doch eine wissenschaftliche Studie, finde heraus, wie viele wir hier sind, und ob wir zu eng leben. Ob wir derart keinen Austausch haben mit anderen Populationen, dass wir uns untereinander fortpflanzen müssen. Wie gross unsere Streifgebiete sind. Untersuche unser Sozialverhalten. 

Wie das gehen soll? Es bräuchte Fotofallen oder Markierungen. Vielleicht auch beides. Anders ist die Bestandsschätzung kaum möglich. 

Erst durch solche Erkenntnisse kannst du sehen, wie diese Situation nachhaltig zu verbessern wäre. Der Runde Tisch, wie er derzeit stattfindet, reicht dafür nicht aus. 

Natürlich könntest du auch Sterilisierung in Betracht ziehen, wie das bei invasiven Arten wie den Waschbären im Ausland gemacht wird. Ein schöner Gedanke ist das aber nicht. Ob ich mich persönlich schon fortgepflanzt habe, sage ich dir nicht, das ist mir zu intim. Geschlechtsreif bin ich seit meinem ersten Geburtstag.

Natürlich könntest du uns auch ganz vertreiben. In den Nationalpark nach Graubünden verfrachten, zum Beispiel. Doch: Die Lebensräume sind gesamtschweizerisch bereits besetzt, wir würden also ganz schön aufs Dach bekommen in der neuen Wildnis. Unsere Überlebenschancen wären alles andere als grandios. Uns fehlen schlicht die Erfahrungen.

  • Petunien

    Petunien schmecken Coco nicht.

  • Gitter2

    Mit Gittern soll Coco vom Fressen abgehalten werden.

Einfacher ist es, Gitter auf die Gräber zu legen. Wie das heute anscheinend mit einem gewissen Erfolg gemacht wird. Oder Petunien zu pflanzen, die mögen wir nämlich nicht. Wir sind Feinschmecker, lieben Blüten, Knospen, Früchte. Aber denke daran, sinnvoller wären einheimische Pflanzen, da hätten nicht nur wir, sondern auch die Insekten etwas davon.

Nun liege ich also da zwischen den Grabsteinen, während die Rehgeissen am Waldrand Junge zur Welt bringen. Du wunderst dich, dass ich erst wegspringe, wenn du mir wirklich zu nahe kommst? Wenn deine Fotografiererei nervt? Ja, ich habe mich an dich gewöhnt. 

Und nur dass du es weisst: Viele Menschen, die hierherkommen, um ihre verstorbenen Angehörigen zu besuchen, finden mich auch siidig. Sie freuen sich, dass ich Leben hierherbringen. Und überleg doch mal: Willst du die ewige Ruhe wirklich mit Jagdgewehren stören?

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Valerie Zaslawski

Das ist Valerie (sie/ihr):

Nach einem ersten journalistischen Praktikum bei Onlinereports hat Valerie verschiedene Stationen bei der Neuen Zürcher Zeitung durchlaufen, zuletzt als Redaktorin im Bundeshaus in Bern. Es folgten drei Jahre der Selbständigkeit in Berlin, bevor es Valerie zurück nach Basel und direkt zu Bajour zog, wo sie nun im Politikressort tätig ist.

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