Ein neuer Geheimdienst für Keller-Sutter

Eine neue Behörde soll Zugriff auf die Daten sämtlicher Flugpassagiere erhalten. Die Justizministerin will damit den Terrorismus bekämpfen. Doch die Kritik von links und rechts ist scharf.

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Dieser Artikel ist am 04.08.2022 zuerst bei der WOZ erschienen. Die Wochenzeitung gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

Bundesraetin Karin Keller-Sutter, Mitte, spricht an der Seite von Alt-Staenderat Roland Eberle, links, und Nationalrat Kurt Fluri, rechts, kurz vor des Erstes Treffen der Evaluationsgruppe Status S, am Donnerstag, 7. Juli 2022, im Bernerhof, in Bern. Die von Bundesraetin Keller-Sutter eingesetzte Gruppe hat den Auftrag, den Schutzstatus fuer Vertriebene aus der Ukraine auf der Basis der bisher gemachten Erfahrungen auszuwerten und allfaelligen gesetzgeberischen Handlungsbedarf in einem Bericht bis Ende Juni 2023 festzuhalten. (KEYSTONE/Anthony Anex)
Justizministerin Karin Keller-Sutter will eine neue Behörde schaffen, die Flugpassagierdaten auswertet. (Bild: KEYSTONE/Anthony Anex)

Für Sicherheitsbehörden sind ungenutzte Datensätze eine Zumutung. Wer kann schon ausschliessen, dass sich ausgerechnet dort, wo die Algorithmen und Analyst:innen nicht hinsehen dürfen, Hinweise auf einen geplanten Terroranschlag finden lassen? Eine Anomalie womöglich nur im riesigen Datenrauschen, doch vielleicht auch der Anfang von etwas ganz Grossem. Neue Datensätze erfreuen aber auch die politisch Verantwortlichen der Behörden, denn sie führen zu neuen Stellen, mehr Mitteln und mehr Kompetenzen.

Einen gewaltigen Datenschatz will FDP-Justizministerin Karin Keller-Sutter nun mit dem geplanten Flugpassagierdatengesetz heben. Sechzig Millionen Flugpassagiere verzeichnete die Schweiz vor der Pandemie – sechzig Millionen Datensätze, in denen irgendwo ein Krümel Gold verborgen sein könnte.

Beobachtungslisten und Risikoprofile

In den Daten, die von den Fluggesellschaften bei der Buchung und beim Check-in erhoben werden, steckt eine Vielzahl von Informationen. Die Kreditkartennummer ist dabei, eine E-Mail-Adresse, eine Telefonnummer, Reiserouten, Sitzplatznummern, Mitreisende und vieles mehr. Insgesamt neunzehn verschiedene Informationen werden vor jedem Flug erhoben. Diese will das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) künftig flächendeckend sammeln und auswerten, um den Terrorismus und schwere Kriminalität zu bekämpfen.

Dazu will Keller-Sutter eine neue Behörde schaffen, die sogenannte Passenger Information Unit (PIU). Angesiedelt wäre diese beim Fedpol, der Schweizer Bundespolizei. Bei der PIU treffen die von den Fluggesellschaften erhobenen Daten automatisch ein, das verlangt der Gesetzesentwurf, dessen Vernehmlassung gerade zu Ende gegangen ist. Diese gleicht sie dann mit verschiedenen polizeilichen Datenbanken ab. Bei einem Treffer informiert sie die Strafverfolgungsbehörden oder den Nachrichtendienst (NDB).

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Damit es den Fahnder:innen nicht langweilig wird, soll die PIU allerdings noch vieles mehr tun. Karin Keller-Sutter baut sich mit der Behörde einen eigenen kleinen Geheimdienst: Die PIU darf gemäss Gesetzesvorschlag nämlich eigene Risikoprofile erstellen, also Algorithmen angeblich verdächtige Muster in den Daten aufspüren lassen, die irgendwie zu schweren Verbrechen passen könnten. Und sie darf sogenannte Beobachtungslisten aus den Personendaten erstellen. Damit sollen «polizeilich noch unbekannte» Kriminelle oder potenzielle Terrorist:innen entdeckt werden.

So weit, so heikel. Trotzdem ist eine wirkungsvolle Aufsicht über das Treiben der neuen Überwachungsagentur nicht vorgesehen: Ob bei der PIU alles rechtmässig zu- und hergeht, soll das Fedpol intern kontrollieren.

Im «Geist von 9/11»

Die Kritik am geplanten Gesetz fällt entsprechend deutlich aus. Die Grünen etwa lehnen den Gesetzesentwurf vollumfänglich ab. Als «besonders problematisch» bewertet Rahel Estermann, die stellvertretende Generalsekretärin der Grünen, die für ihre Partei die Stellungnahme zum Gesetz geschrieben hat, die Analysetätigkeit der neuen Behörde, zumal die Aufsicht über die PIU ungenügend sei. «Das ist für uns nicht akzeptabel», sagt Estermann. Es solle keine neue Überwachungsbehörde geschaffen werden, die Daten selbst analysieren könne.

Die Luzerner Kantonsraetin, Rahel Estermann, von der Gruenen Partei Luzern anlaesslich einer Medienkonferenz am Dienstag, 28. Juni 2022 im Suedpol in Luzern. (KEYSTONE/Urs Flueeler).
Rahel Estermann, stellvertretende Generalsekretärin der Grünen, bewertet die Analysetätigkeit der neuen Behörde als «besonders problematisch». (Bild: KEYSTONE/Urs Flueeler)

Auch der Zugriff des Nachrichtendienstes auf die Flugpassagierdaten wirft Fragen auf. Der NDB könnte künftig ganz nach eigenem Gusto bestimmte Flugstrecken komplett überwachen lassen. Alle von der PIU eingesammelten Daten würden automatisch an den Geheimdienst weitergeleitet. Estermann und die Grünen lehnen diesen vollautomatischen Austausch ab: «Aufgrund der bisherigen, ausufernden Datensammelpraxis des NDB ist davon auszugehen, dass sehr viele Strecken davon betroffen sein werden.»

Eine Befürchtung, die Erik Schönenberger, Geschäftsleiter der Digitalen Gesellschaft, die sich für die Wahrung der Grundrechte im digitalen Raum einsetzt, teilt. «Der NDB kann auch Umgehungsstrecken definieren, die für Terroristen interessant sein könnten. Faktisch hindert den Nachrichtendienst nichts daran, so viele Daten wie möglich zu beschaffen.»

Erik Schoenenberger, Digitale Gesellschaft, Co-Kampagnenleiter, spricht waehrend einer Medienkonferenz des Komitees fuer ein NEIN zum E-ID Gesetz, am Montag, 14. Dezember 2020, in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
Erik Schönenberger, Geschäftsleiter Digitale Gesellschaft, sagt, das geplante Gesetz schaffe eine unzulässige Massenüberwachung. (Bild: KEYSTONE/Peter Klaunzer)

Schönenberger spricht von einem «Geist von 9/11», der im Gesetzestext zu spüren sei. Und tatsächlich orientiert sich Keller-Sutters Überwachungsprojekt stark an der EU, Grossbritannien und den USA, wo der Flugverkehr seit den Anschlägen vom 11. September 2001 unter scharfer Beobachtung steht. Die systematische Überprüfung der Flugdaten passiert dort längst. In der Schweiz fehlte eine Gesetzesgrundlage bisher. Der Uno-Sicherheitsrat hat die Schweiz dazu aufgefordert, entsprechend tätig zu werden.

Die Ausgestaltung bleibt allerdings Ländersache. Und diese ist oft problematisch: Grundrechtsverletzungen lassen sich kaum verhindern. Deshalb versenkte der Europäische Gerichtshof 2017 ein Abkommen zwischen Kanada und der EU über den Datenaustausch. Und eben erst entschied dasselbe Gericht im Fall von Belgien, dass der Deliktskatalog, auf den die Passagierdaten abgeklopft werden, viel zu breit ist. Auch Keller-Sutter geht es längst nicht nur um die Verhinderung von Terrorismus und die Aufklärung von schweren Verbrechen. Die neue Behörde soll etwa auch nach Produktpiraterie fahnden.

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Erik Schönenberger sagt, das geplante Gesetz sei nicht reformierbar. Egal ob jetzt noch an einzelnen Stellen korrigiert würde, es schaffe eine unzulässige Massenüberwachung. «Das geht noch weit über die Vorratsdatenspeicherung hinaus.» Richtig wütend sei er geworden, als er sich durch den Gesetzesentwurf gearbeitet habe. «Dieses Gesetz ist verheerend» – und ein böses Omen für die Zukunft, glaubt Schönenberger: «Sobald die gleichen Daten fürs Auto- und Zugfahren erhoben werden können, werden auch diese überwacht.»

Abenteuerliche Begründung

Schönenberger kündigt an, die Digitale Gesellschaft werde das Flugpassagierdatengesetz politisch und juristisch bekämpfen. Die Chancen für einen Erfolg stehen dabei nicht schlecht. Auch die SP lehnt das neue Gesetz ab, wenn auch weniger dezidiert und substanziell als die Grünen. Und Support für die Gegner:innen kommt selbst von ganz rechts. Die SVP ist ebenfalls gegen den Minigeheimdienst von Keller-Sutter. Sie kritisiert die lange Speicherung der erhobenen Daten auf Vorrat als «unverhältnismässig» und als «Eingriff in die Grundrechte der Passagiere». Die Daten dürfen gemäss Gesetz sechs Monate gespeichert und bearbeitet werden. Danach bleiben sie allerdings weitere fünf Jahre im System, anonymisiert und nur per Gerichtsbeschluss einsehbar. Dazu stört sich die SVP vor allem an der Schaffung der Passenger Information Unit, die sie in Konkurrenz zum NDB sieht.

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Völlig unklar bleibt, was die neue Sammelwut beim Verhindern und Aufklären von Verbrechen überhaupt leisten kann. Die Auswertung der Passagierdaten sei «effektiv», heisst es im Bericht zum neuen Gesetz bloss. Denn anders lasse es sich nicht erklären, warum dieses Mittel in so vielen Ländern seit bald zwanzig Jahren eingesetzt werde. Eine abenteuerliche Begründung. Denn natürlich lässt sich anders erklären, warum so viele Staaten darauf setzen: Wann wurden in den letzten Jahren und Jahrzehnten einmal Überwachungsmassnahmen zurückgenommen, wann ein Apparat zurückgebaut? In der Terrorismusbekämpfung gilt: Was einmal da ist, das bleibt.

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