«Menschen geht es besser, wenn sie unter Menschen sind»

Hausgemachtes Essen in entspannter Atmosphäre – auf den ersten Blick wirkt das Bistro «neuewelt» wie jedes andere. Doch das wirklich Besondere steht nicht auf der Karte: In der Küche und hinter dem Tresen arbeiten Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Und das mit Freude.

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Willkommen im Bistro – ist ein Ort mit gutem Essen und echte Chancen (Bild: Nora Trabelsi)

Zur Mittagszeit brummt das Bistro «neuewelt» in Muttenz vor Leben. Die Küche läuft auf Hochtouren, es riecht köstlich – und das Wasser läuft einem im Mund zusammen. Auf den ersten Blick ist es ein Bistro wie viele andere. Zwei plaudernde Studenten sitzen oben an der Theke. Am Nebentisch verschlingen Geschäftsleute aus den umliegenden Büros dampfende Pasta-Teller – denn die Mittagspause ist bald vorbei und auf dem Arbeitsmarkt herrscht Zeitdruck.

Auch Leistungsdruck, Anpassungsdruck und Wettbewerbsdruck kommen in den Sinn. Als wäre permanenter Druck das Geheimrezept, um alles und jede*n in Bestform zu pressen. Hier im Bistro wird anders gekocht.

Andreas Hartman
«Wir leben in einer Gesellschaft mit so viel Druck. Natürlich werden da manche Menschen krank. Hier versuchen wir, den Druck zu justieren. Und zwar jeden Tag.»
Andreas Hartmann, Pressearbeit, Projektmanager Verein «neuewelt»

Andreas Hartmann vom Verein «neuewelt» sitzt am Tisch und erzählt von der Vision dieser neuen Welt. Das Bistro ist Teil des gleichnamigen Vereins, der in den 80ern gegründet wurde und vor vier Jahren das Gebäude an der Hofackerstrasse gekauft hat.

Der Verein ist christlich geprägt. Er setzt auf Nächstenliebe. In den Anfangsjahren konzentrierte sich die Arbeit auf die Unterstützung von drogensüchtigen und gesellschaftlich marginalisierten Menschen. Heute hilft der Verein Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, Schritt für Schritt wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Hier finden sie betreutes Wohnen, Tagesstrukturen und Arbeit. Dabei ist das Spektrum der individuellen psychischen Belastungen – auch in ihren komplexen Kombinationen – so bunt wie die Sorten der «Pasta Sociali», auf die man im Haus besonders stolz ist.

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1. und 2. Arbeitsmarkt

Der erste Arbeitsmarkt ist öffentlich, während der zweite Arbeitsmarkt geschützt ist und den ersten ergänzen soll. Bei der Arbeit im Bistro werden Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen eins zu eins betreut – eine Person aus dem ersten Arbeitsmarkt arbeitet mit einer aus dem zweiten. In der Regel empfangen sie eine IV-Rente und können diese durch ihre Arbeit aufstocken. Die Arbeitsplätze werden von der Stadt-Basel subventioniert.

Da ist zum Beispiel Michela. Sie arbeitet im Bistrot. In ihrer Freizeit spielt sie Fussball beim FC Gelterkinden. Sie ist in der Region verwurzelt und hat hier eine Lehre in der Pflege gemacht – ein stressiger Beruf, der viel abverlangt: knapper Personalschlüssel, hoher Druck, wenig Zeit.

«Besonders der Zeitdruck hat mich überfordert», berichtet Michela, während ihre Finger auf ihrem Schoss keine Ruhe finden.

Diese Bedingungen können selbst bei neurotypischen Menschen zu Burnout, Depressionen oder anderen psychischen Schwierigkeiten führen. In Michela’s Fall kam noch ein undiagnostiziertes ADHS dazu. Etwas, das besonders bei Frauen lange unentdeckt bleibt und durch Veränderungen wie dem Einstieg ins Berufsleben zum Vorschein gebracht werden kann.

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Michela serviert heute Pasta alla Norma. (Bild: Nora Trabelsi)

«Egal, wie sehr man sich anstrengt – man kann nicht immer steuern, wie das Gehirn gerade reagiert. Manchmal überfluten die vielen Reize einen dann», erklärt Michela. An ihrem früheren Arbeitsplatz gab es wenig Raum für Schwächen oder Anlaufstellen bei Schwierigkeiten, da blieb sie mit ihren Problemen allein.

Anders als hier – ihre Augen suchen immer wieder die ihrer Sozialarbeiterin. Ihr Selbstwertgefühl litt, die Gedanken kreisten und die Probleme wurden gravierender. Zusätzlich zum ADHS entwickelt sich eine Depression. «Man gerät in eine Spirale», beschreibt sie. Und in einem Moment kann alles zusammenbrechen – bei Michela passierte das vor sieben Jahren.

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Ruhig gelegen auf der Hofackerstrasse in Muttenz.

Von einem Bekannte hat Michela von dem betreuten Wohnen der «neuewelt» erfahren. Das war ihr lieber, als in eine Klinik zu müssen. «Ich hatte Angst, Medikamente zu bekommen, die ich nicht will», erklärt sie. Erst zog sie ins Wohnheim, später wechselte sie in die ambulante Betreuung. Heute lebt sie in ihrer eigenen Wohnung ohne ambulante Betreuung, in der Nähe ihrer Familie und arbeitet im Bistro des Vereins.

Während des Gesprächs ist auch ihre Sozialarbeiterin und Leiterin der Betreuung des Vereins anwesend. Sie füllt ein paar Lücken, wenn Michela zögert oder Unterstützung in ihrer Erzählung braucht – so wie sie es im Alltag auch macht. Aber auf die Frage, was ihr besonders gut gefällt, sagt sie wie aus der Pistole geschossen: «der Kundenkontakt».

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«Wenn ich nur daheim bin, geht es mir schlecht.»
Michela, Mitarbeiterin Bistro

Wenn sie aber einen schlechten Tag hat oder es zu einer Reizüberflutung kommt, dann kann Michela in die Küche oder die Pasta-Produktion ausweichen – oder nach Hause. Diese Flexibilität ist selten auf dem ersten Arbeitsmarkt, genau wie das Verständnis für Krankschreibungen, das man ihr hier entgegenbringt.

«Wenn ich nur daheim bin, geht es mir schlecht.» Die Arbeit gibt Michela Struktur und sie braucht den Kontakt zu Anderen. «Menschen geht es besser, wenn sie unter Menschen sind», sagt Michela.

Ein Erfolgsrezept

Menschen verbinden, das will auch Simon Schneider. Er ist der Leiter der «Begleiteten Arbeit» und steckt hinter der Bistro-Idee. Nach dem Trubel des Mittagessens lässt er sich auf ein Sofa plumpsen – bereit für ein kurzes Gespräch.

Vor 25 Jahren hat er eine Lehre als Koch gemacht und seitdem in zwölf Gastronomien gearbeitet. Bis er schliesslich vor neun Jahren in der Küche des Wohnheims des Vereins landete.

Schneider bildete sich daraufhin in Arbeitsagogik weiter. So hat er gelernt, wie man Menschen begleitet, die es auf dem Arbeitsmarkt schwerer haben, und wie eine Integration in den Arbeitsplatz besser gelingen kann. Das hat er hier zunächst in der Küche und dann mit seiner Idee der «Pasta Sociali» verwirklicht. Und schliesslich kam das Bistro dazu. «Wir kochen ja eh für die Mitbewohner*innen und Mitarbeiter*innen. Und im Verkauf wurde die Pasta gut angenommen.»

Für ihn ist klar, im Vordergrund soll ein gutes Produkt stehen.

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«Die Leute sollen nicht kommen, weil hier irgendwo soziale Einrichtung dran steht oder hier Menschen mit IV-Rente arbeiten, sondern für ein gutes Mittagessen.»
Simon Schneider, Koch und Leiter der «Begleiteten Arbeit»

«Gleichzeitig haben wir hier die Möglichkeit, Brücken zu bauen», sagt Schneider. Einige der Menschen, die hier arbeiten, können nach einem Ausfall hier wieder Tritt fassen, sodass sie später wieder in den ersten Arbeitsmarkt einsteigen können. Andererseits bleibe immer eine Türe offen, wenn man sich dagegen entscheiden sollte. Hier gebe es den Raum für Menschen mit psychosozialen Schwierigkeiten, die in der Gesellschaft teilhaben und mitgestalten wollen.

Die Mitarbeiter*innen erhalten neben dem Motivationsgeld, bei dem es auch um Anerkennung und Wertschätzung der geleisteten Arbeit geht, auch «ein gutes Mittagessen», sagt Schneider «und sie dürfen stolz sein auf ein gutes Produkt – das wirkt sich auf den Selbstwert aus».

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Auf Alain's Käppi lodern 5 Flammen – eins für jedes Jahr, das er hier gearbeitet hat.

Das Konzept scheint zu funktionieren. Aus der Küche heraus strahlt Alain. Auf seiner Käppi leuchten fünf Flammen, eins für jedes Jahr, das er hier gearbeitet hat. Er wirkt selbstbewusst und gelassen. Auch er ist Fussball-Fan und hat durch einen Kontakt mit dem FCB-Fanshop eine FCB-Pasta-Edition kreiert. Mittlerweile arbeitet er 90 Prozent – woanders angestellt zu sein, hat er derzeit nicht vor. Hier gefällt es ihm und das Essen schmeckt auch  – sein letzter Favorit war eine Pasta mit Pistazienpesto und Halloumi. Aber es gibt immer etwas Neues.

Es wird klar: Hier soll es nicht nur um Arbeit gehen, sondern um Würde und um Zugehörigkeit. Darum geht es auch für Debby Chin, der Leiterin des Bistros, die während unseres Besuchs nicht anwesend war, aber noch betonen möchte: «Bei uns zählt der Mensch – ob in der Küche oder am Tisch. Das ‹bistro neuewelt› ist ein Ort, wo gutes Essen und echte Chancen aufeinandertreffen.» 

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