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99-Prozent-Initiative

Ueli Maurers Scheinargumente

Das reichste Prozent besitzt fast die Hälfte der Vermögen. Die 99-Prozent-Initiative will diese Reichen höher besteuern. Finanzminister Ueli Maurer antwortet darauf mit wirtschaftlich zweifelhaften Einwänden. Eine Analyse der WOZ.

08/24/21, 10:21 AM

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Für Reiche ist es mit der Tiefzinspolitik momentan leicht, noch mehr Geld zu verdienen.

Für Reiche ist es mit der Tiefzinspolitik momentan leicht, noch mehr Geld zu verdienen. (Foto: Jingming Pan via Unsplash)

Dieser Artikel ist zuerst am 19. August 2021 in Die Wochenzeitung WOZ erschienen. Die WOZ gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

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Seiner Meinung nach werde bereits heute «krass» viel Wohlstand umverteilt, warnte Ueli Maurer jüngst an einer Pressekonferenz, an der er die 99-Prozent-Initiative zu zerzausen versuchte, die Ende September an die Urne kommt. Die Juso-Initiative will Kapitaleinkommen wie etwa Dividenden künftig etwas höher besteuern als Lohneinkommen aus Arbeit. Der «Bogen» sei heute schon «angespannt», so der SVP-Finanzminister.

Bereits heute würde über Sozialleistungen ein Viertel der jährlichen Wirtschaftsleistung umverteilt, argumentiert Maurer. Und: Die zehn Prozent mit den höchsten Einkommen bezahlten 78 Prozent der direkten Bundessteuern.

Maurers erster Punkt sagt kaum etwas aus, da auch Reiche, die in die AHV oder die Berufsvorsorge einzahlen, dafür Leistungen erhalten. Umverteilt wird nur ein kleiner Teil. Sein zweiter Punkt ist vielmehr ein Beleg dafür, wie ungleich die Einkommen verteilt sind. Zahlen der World-Inequality-Datenbank zeigen: Obwohl die reichsten zehn Prozent einen Grossteil der Steuern zahlen, sinkt ihr Anteil am gesamtwirtschaftlichen Einkommen dadurch lediglich von 32 auf 29 Prozent.

Einkommen aus Kapital für wenige

Grund für die Einkommensungleichheit ist nebst den Spitzensalären die ungleiche Verteilung der Vermögen wie Aktien, Anleihen oder Immobilien. Aktualisierte Zahlen einer Studie des St. Galler Wirtschaftsprofessors Reto Föllmi und der Ökonomin Isabel Martínez, die der WOZ vorliegen, zeigen: Das reichste Prozent besitzt inzwischen gut 43 Prozent aller Vermögen. Die reichsten zehn Prozent halten gemäss einer neueren Studie von Martínez 73 Prozent der Vermögen, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung kaum etwas besitzt oder gar verschuldet ist (siehe Grafik).

Entsprechend ungleich werden auch die Kapitaleinkommen wie Dividenden, Mieteinnahmen und Zinsen aus diesen Vermögen verteilt. Jemand, der zum Prozent mit den höchsten Einkommen gehört, steckt gemäss Berechnungen des Gewerkschaftsbunds (SGB) monatlich durchschnittlich 28 000 Franken an Vermögenseinkommen ein. Dazu kommen noch die Wertsteigerungen der Vermögen wie Aktienkursgewinne, die anders als in anderen Ländern – mit Ausnahme von Grundstücken – weder als Einkommen registriert noch besteuert werden.

Das reichste Zehntel besitzt in der Schweiz 73,4 Prozent aller Vermögen wie Aktien oder Immobilien, die ärmsten zwanzig Prozent haben dagegen Schulden. (QUELLE: ISABEL MARTÍNEZ 2021, SCHÄTZUNG ANHAND VON ACHT FÜR DIE SCHWEIZ REPRÄSENTATIVEN KANTONEN FÜR DAS JAHR 2010.; GRAFIK: WOZ)

Das reichste Zehntel besitzt in der Schweiz 73,4 Prozent aller Vermögen wie Aktien oder Immobilien, die ärmsten zwanzig Prozent haben dagegen Schulden. (QUELLE: ISABEL MARTÍNEZ 2021, SCHÄTZUNG ANHAND VON ACHT FÜR DIE SCHWEIZ REPRÄSENTATIVEN KANTONEN FÜR DAS JAHR 2010.; GRAFIK: WOZ) (Foto: WOZ)

Trotz der von Maurer beschworenen Umverteilung nimmt die Vermögensungleichheit seit zwei Jahrzehnten zu. Das reichste Prozent, das heute 43 Prozent der Vermögen besitzt, hielt 2003 erst 36 Prozent. Brisant: Zu diesem Schluss kommt auch eine neuere Studie aus Maurers eigenem Departement: «Die Ungleichheit zwischen Reichen und dem Rest der Bevölkerung vertieft sich.» In dieser Vermögensungleichheit liegt das eigentliche Kernproblem, das die Initiative zu entschärfen versucht.

An der Pressekonferenz darauf angesprochen, gab Maurer die heisse Kartoffel an Steuerverwaltungsdirektor Adrian Hug weiter, der behauptete, dass unter Berücksichtigung der Rentenvermögen die Vermögensungleichheit «wesentlich weniger gravierend» sei «als in anderen Ländern». Fakt ist: Rechnet man die Rentenvermögen hinzu, besitzt das reichste Prozent immer noch 30 Prozent der Vermögen. Das ist mehr als in Frankreich (22 Prozent) oder Grossbritannien (20 Prozent), der Wiege des Laissez-faire-Kapitalismus. Und auch in diesen Ländern tobt eine Debatte über Ungleichheit.

Die Ungleichheit ist das Resultat jahrzehntelanger rechter Umverteilungspolitik: Insbesondere die schrittweise Abschaffung der Grenzen für Kapital hat mächtige Konzerne hervorgebracht, die ihr Geld dorthin bewegen, wo die Staaten ihre Wünsche erfüllen, wie etwa die Deregulierung des Arbeitsmarkts. Dies trug dazu bei, dass in fast allen Ländern ein immer grösserer Teil der Wirtschaftsleistung etwa als Dividenden an das Kapital geht und ein immer kleinerer als Lohn an die Arbeitskräfte, wie unter anderem eine Studie des Internationalen Währungsfonds von 2019 zeigt. In der Schweiz blieb die entsprechende sogenannte Lohnquote relativ stabil, allerdings profitieren die Vermögenden hier auch von Investitionen im Ausland.

Für Kleinsparer*innen bedeutet Tiefzinspolitik Minuszinsen auf ihrem Sparbuch. Gleichzeitig befeuert das billige Geld die Nachfrage nach Aktien und Immobilien, die die Reichen halten.

Die Staaten haben den Konzernen auch die Steuern gesenkt, womit mehr Geld für die Aktionär*innen bleibt. Nach drei Steuerreformen in den letzten 24 Jahren liegen die effektiven Steuersätze in gewissen Kantonen bei international rekordtiefen zehn Prozent. Hinzu kommt die inzwischen jahrelange Tiefzinspolitik, die auch die Schweizer Nationalbank verfolgt: Für Kleinsparer*innen bedeutet dies Minuszinsen auf ihrem Sparbuch. Gleichzeitig befeuert das billige Geld die Nachfrage nach Aktien und Immobilien, die die Reichen halten, womit deren Werte immer weiter in die Höhe schiessen.

Diese Politik spiegelt sich etwa auch im Swiss Market Index (SMI), der die zwanzig grössten Schweizer Konzerne umfasst: Seit 1995 hat sich dessen Wert von 2500 auf 12'400 Punkte verfünffacht. Schütteten die SMI-Konzerne zudem Anfang der neunziger Jahre zusammengenommen noch Dividenden in Millionenhöhe aus, sind es inzwischen jährlich rund vierzig Milliarden Franken.

Schliesslich wurden auch die Vermögenden, bei denen diese Einkommen letztlich landen, zunehmend verschont. Der Steuersatz für einen ledigen Einkommensmillionär sank seit 1984 laut Berechnungen des SGB von gut 38 auf rund 33 Prozent; und auch die Vermögenssteuern wurden in den letzten zwanzig Jahren um bis zu über 60 Prozent gesenkt. Schliesslich haben fast alle Kantone ihre Erbschaftssteuer für direkte Nachkommen abgeschafft.

Eine kleine Korrektur

Die 99-Prozent-Initiative will diese Verteilungspolitik korrigieren: Konkret will sie Einkommen aus Kapital wie Dividenden – sofern sie einen bestimmten Freibetrag überschreiten – 1,5-mal so hoch besteuern wie Arbeitseinkommen. Obwohl die Freigrenze nicht im Initiativtext steht, schlägt die Juso 100 000 Franken vor. Betroffen wären also mal all jene, die mit Dividenden, Mieten und Zinsen jährlich mehr als 100 000 Franken kassieren. Das ist grob geschätzt das reichste Prozent, das Vermögen ab etwa drei Millionen Franken besitzt.

Allerdings sollen nicht nur etwa Dividenden, sondern neu auch Kapitalgewinne besteuert werden: jene Gewinne, die anfallen, wenn beispielsweise eine Aktie, die an Wert gewonnen hat, teurer verkauft wird. Hier haken die von Economiesuisse angeführten Gegner*innen der Initiative ein. Damit wären auch KMU-Besitzer oder Start-up-Gründerinnen betroffen: Beim Verkauf einer Firma würden so riesige Gewinnsteuern anfallen, rechnet der Wirtschaftsverband in Beispielen vor. Diese entstammen jedoch eher ihrer Fantasie.

Denn all dies hängt von der Ausgestaltung des Gesetzes ab: Wie hoch ist der Freibetrag? Werden Gewinne zum gleichen Steuersatz besteuert wie Einkommen? Gibt es wie bei der heutigen Grundstückgewinnsteuer auf Immobilien Rabatte für Gewinne, die über mehrere Jahre erzielt werden? Es wäre am Parlament, dafür zu sorgen, dass nur wirklich Reiche stärker an die Kasse kämen. Also an jener rechten Mehrheit, die nun den Teufel an die Wand malt.

Das zusätzliche Steuergeld soll laut Initiative rückverteilt werden: um Sozialleistungen zu finanzieren und Leute mit tiefem und mittlerem Einkommen steuerlich zu entlasten, von denen viele von der Coronapandemie hart getroffen wurden.

Zu viel Kapital, das nicht nachgefragt wird

Bleibt Maurers letztes Argument gegen die Initiative: Eine stärkere Besteuerung der Vermögenden werde zu niedrigeren Investitionen führen, womit Arbeitsplätze verloren gingen. Die Aussage ist gleich dreifach schief. Erstens sind die Investitionen in der Schweiz nicht von den hiesigen Vermögenden abhängig: Diese investieren genauso im Ausland, wie ausländische Geldgeber hier investieren. Zweitens gibt es seit Jahren nicht zu wenig, sondern zu viel Investitionskapital, das hier nach Anlagen sucht. Dies drückt den Franken in die Höhe und gefährdet so die Exportwirtschaft, was die Nationalbank zwingt, immer mehr Franken zu drucken.

Drittens ist die Vorstellung, dass wachsende Vermögen zu mehr Investitionen führen, längst überholt. Natürlich hat die Vorstellung aus der Wachstumstheorie der 1950er Jahre, wonach mit zwei Traktoren mehr Kartoffeln geerntet werden können als mit einem, ihre Berechtigung. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 zeigt sich jedoch: Trotz einer Unmenge von Vermögen, die nach Anlagen suchen, wird gemessen am BIP weltweit immer weniger in die Realwirtschaft investiert. Nachdem die Investitionen gemäss Zahlen der Weltbank auch in der Schweiz ab Anfang der neunziger Jahre eingebrochen sind, stagnieren sie seit zwanzig Jahren.

Es gibt zu viel Kapital, das nicht nachgefragt wird. So erlebt der Kapitalismus erstmals in seiner Geschichte Negativzinsen.

Die wachsenden Vermögen, die nach Anlagen suchen, treiben lediglich die Preise von Immobilien und Aktien an den Börsen immer weiter in die Höhe. Irgendwann werden diese Blasen platzen. Eigentlich wäre es am Finanzminister statt an der Juso, diese Probleme anzupacken.

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