Psychologischer Thriller im Stadtkino

Am 24. August wird im Stadtkino Basel die Kinosaison mit dem psychologischen Thriller «Until Branches Bend» von Sophie Jarvis eröffnet. Unsere Kolleg:innen von Filmexplorer haben eine Rezension geschrieben.

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Niemand in Troja hört auf die Unheilswarnungen von Kassandra, der Priesterin des Apollo.

Ihre Gabe der Prophezeiung wird von Apollo zum Fluch gemacht, als sie nicht mit ihm schlafen will; ihre Vorhersage des schrecklichen Schicksals Trojas wird von allen ignoriert. Als die Griechen schliesslich die Stadt plündern, steigt Ajax vom Holzpferd und vergewaltigt sie im Tempel der Athene. Dafür werden die Griechen bestraft und dürfen zehn Jahre lang nicht in ihre Heimat zurückkehren. Kassandras Prophezeiung bleibt unbeachtet, erfüllt sich aber.

Robin (Grace Glowicki), die Heldin von Until Branches Bend, erinnert mich an Kassandra. Sie ist Sortiererin in einer Pfirsichfabrik in ihrer Heimatstadt Montague in Kanada. Robin findet einen Pfirsich mit einem Wurmloch und nimmt sich die Zeit, ihn aufzuschneiden, wobei ein riesiger, bisher unbekannter Käfer zum Vorschein kommt. Robin macht ihren verheirateten Chef (und Liebhaber, der sie geschwängert hat) auf das Insekt aufmerksam. Ihre Entdeckung wird inspiziert; Pfirsiche werden gewaschen, weiterbefördert und abgepackt wie viele andere Millionen Pfirsiche, die dieses florierende Agrarunternehmen zum Weitervertrieb verarbeitet hat. Robin interpretiert den Käfer als Zeichen dafür, dass etwas Verheerendes bevorsteht.

Vom Resultat ihrer Beziehung zu Dennis (Lochlyn Munro), ihrem Chef in der Pfirsichfabrik, erfahren wir erst dadurch, dass Robin den gesamten Film hindurch versucht, einen Termin für eine Abtreibung zu bekommen. Wie der Käfer in der Frucht wächst auch der Embryo als unerwünschte Präsenz heran. Wir bekommen immer wieder Bilde-Montagen zu sehen von gereiften Pfirsichen, aufgeplatzt und in verschiedenen Stadien des Verfaulens. Orange Farbtöne sättigen die Szenen, gewisse Bilder sind mit einem leichten, flauschigen Flaum überzogen, der an einen Pfirsich erinnert.

Vom Resultat ihrer Beziehung zu Dennis (Lochlyn Munro), ihrem Chef in der Pfirsichfabrik, erfahren wir erst dadurch, dass Robin den gesamten Film hindurch versucht, einen Termin für eine Abtreibung zu bekommen. Wie der Käfer in der Frucht wächst auch der Embryo als unerwünschte Präsenz heran. Wir bekommen immer wieder Bilde-Montagen zu sehen von gereiften Pfirsichen, aufgeplatzt und in verschiedenen Stadien des Verfaulens. Orange Farbtöne sättigen die Szenen, gewisse Bilder sind mit einem leichten, flauschigen Flaum überzogen, der an einen Pfirsich erinnert.

Robin wird von Dennis eingeschüchtert und verunsichert. Ihr Warnruf wird von den Männern ignoriert, die sich eigentlich kümmern sollten, die ihre Arbeit erledigen und Verantwortung für die Stadt übernehmen sollten. Dennis bringt Robin – wie die Männer in Troja, bevor ihr Schicksal besiegelt ist, und wie alle bisherigen „Machthaber“ in der Geschichte – zum Schweigen: «Davon will ich nichts mehr hören.»

Die  Lebensgrundlage von Robins Eltern und den meisten anderen in der Stadt wurde durch einen Mottenbefall zerstört. Die „flussabwärts“ lebende indigene Bevölkerung wurde durch den chemischen Krieg gegen die Natur langsam ausgerottet, wodurch der immense Reichtum einiger weniger und die einfachen Jobs beim Pflücken und Packen, die es ausserhalb des Tourismus gibt, zerstört wurden. Robin, getrieben von ihrem Wissensbedürfnis, alarmiert die Behörden. Die Farmen und Fabriken werden geschlossen und die Stadt wendet sich gegen sie.

«Jarvis konstruiert ihre filmische Dramaturgie mit den epischen Tönen und der Energie eines Mythos.»

von Jodie McNeilly, Filmexplorer

Das Trauma ist offensichtlich, ob der Käfer ignoriert wird oder nicht. Die Angst und die Verletzlichkeit eines jeden sind spürbar, aber Jarvis spielt hier nicht das Offensichtliche aus. Die Entwicklung von Robins Charakter wird erfrischenderweise nicht von psychologischen Defiziten oder Entdeckungen bestimmt. Auch die Szene in der Abtreibungsklinik ist nicht mit Emotionen überladen. Vielmehr offenbart sie die Absurdität einer Rechtsfiktion. Die Abtreibungsärztin warnt Robin vor den unwissenschaftlichen und unbegründeten Risiken der Unfruchtbarkeit, des Brustkrebses und des Selbstmords bei einem Schwangerschaftsabbruch, damit der Eingriff legal durchgeführt werden kann. Dies könnte durchaus eine Warnung von Jarvis an diejenigen Nationen sein, die vom lebensrettenden Präzedenzfall Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973), profitiert haben. 

Stattdessen konstruiert Jarvis ihre filmische Dramaturgie mit den epischen Tönen und der Energie eines Mythos. Robins Schwangerschaft ist eine moralische Strafe der Götter für ihre Beteiligung am Ehebruch, die Käferplage, die schliesslich die Stadt heimsucht, eine Art Rache für die Zerstörung des Planeten. Der gesamte filmische Apparat ist an dieser Konstruktion beteiligt. Die Klangkomposition (Kieran Jarvis) tritt oberflächlich gesehen hinter die Charaktere, weit entfernt von jeder natürlichen Immersion. Das erinnert an ein Zeitalter des Kinos – oder ironischerweise an einen schlechten Fernsehfilm –, in dem Cello und Flöte Gefühle unter Vermeidung von Gefühlen dramatisierten. Die Inkongruenzen werden durch das bedachte, nicht hysterische Spiel verstärkt, wobei der abgeschwächte  Naturalismus, der an den „Mamet-Stil“ grenzt, eine unheilvolle Affäre mit dem Expressionismus eingeht. Robins Fehlgeburt erzeugt Formen, die eine seltsame Verschmelzung von Bela Lugosi und Mary Wigmans Hexentanz erzeugen. 

Jarvis scheut sich nicht, die Gier und die schändliche Ignoranz der Männer in dieser Stadt aufzudecken. Sogar der Obst pflückende, reiche, auswärtige Künstlerfreund von Robins jüngerer Schwester Lainey (Alexandra Roberts) verspürt das Bedürfnis, seine Theorien grossartig zu erläutern. Ideen werden symbolisch untergetaucht, wenn Lainey mitten im Satz unter Wasser verschwindet. Wird sie diejenige Generation sein, die sie endgültig ertränkt? 

Until Branches Bend erinnert uns durch die Fabel und die filmischen Entscheidungen an die Kraft und die Wahrheit der Intuition, daran, offenzubleiben für Zeichen und die wahre Kraft der Natur niemals zu unterschätzen.

FilmexBan
Das sagt Filmexplorer

Dieses beeindruckende Erstlingswerk wurde an den diesjährigen Solothurner Filmtagen mit dem Prix de Soleure ausgezeichnet und lief eben am Locarno Film Festival im Panorama Suisse. Diese Schweizer-kanadische Filmemacherin muss man definitiv im Auge behalten.

Am Donnerstag, 24. August um 19:30 Uhr wird im Stadtkino Basel die Kinosaison mit «Until Branches Bend» von Sophie Jarvis eröffnet. Im Anschluss an den Film gibt es ein exklusives Q&A mit Sophie Jarvis, moderiert von Giuseppe Di Salvatore von FILMEXPLORER. Danach lädt das Stadtkino zum Apéro ein.

Alle Informationen findest Du hier.

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