Queer – Queer? – Queer!
Sascha stellt in der neuen Kolumne fest: Es gibt verschiedene Antworten auf die Frage, was «queer» bedeutet. Der unvollständige Versuch einer Büschelung.
Sie haben dieses englische Wort sicher auch schon gehört oder? Und sich vielleicht sogar gefragt: Was bedeutet es?
Ich habe mich das auch gefragt, beziehungsweise: Ich frage mich das immer wieder. Ich frage es mich, wenn ich eine Dosenbach-Werbung für Turnschuhe mit Regenbogensohle sehe oder H&M-T-Shirts auf denen «the future is queer» steht. Oder wenn ein skandierender Block mit einem Transparent vorausläuft, auf dem «queer, pervers und arbeitsscheu!» steht. Oder wenn ich einen Text aus der Geschlechterforschung lese und von queer politics und queer studies die Rede ist.
Das sind schon genau so ziemlich die drei grossen Gruppen mit unterschiedlichem Verständnis von queer, die ich ausmachen kann. Denn ich habe beobachtet: Da gibt’s Unterschiede.
Erste Gruppe: Alltags-Regenbögler*innen
Queer bedeutet für eine grosse Gruppe von Menschen nicht mehr und nicht weniger als: Du bist nicht hetero oder nicht cis. Du kannst also zum Beispiel eine lesbische Polizistin sein und mit deiner bei der UBS arbeitenden Partnerin an nichts Schöneres denken, als ein Einfamilienhäuschen irgendwo am Jura-Südfuss im zersiedelten Mittelland. Du bist zwar schon anders, aber eigentlich ganz normal. Du möchtest einfach, dass halt alle die gleichen Rechte haben. Queer sind du und deine Freund*innen aber alle, so lange sie homo, bi, trans (und eventuell weitere Kategorien) sind, egal, ob sie gesellschaftliche Strukturen stützen oder in Frage stellen.
Zweite Gruppe: Perverse Punks
Sie sind die falschsexuellen, non-binären, polyamoren Punks von heute. Sie sehen queer als gesellschaftliche Praxis, die Normen hinterfragt und subvertiert (unterlaufen, lat. «von unten verdreht»). Wechselweise mit Spass und mit Ärger möchte diese Gruppe als Stachel im Fleisch der Gesellschaft Normen aktiv hinterfragen und dekonstruieren. Queer in diesem Selbstverständnis trifft nur auf diejenigen zu, die sich auch quer zur Gesellschaft verhalten. Schwul zu sein und die Regenbogen-Sohlen-Turnschuhe im Dosenbach zu kaufen, wäre sozusagen nicht «queer genug».
Dritte Gruppe: Analyst*innen
Die queer studies oder queer politics sind unter anderem aus den Folgen der AIDS-Krise entstanden. Sie stellten moral minorities als gesellschaftliche Kategorie fest und formierten eine vielfältige Bündnispolitik. Queer entpuppte sich in den Gay und Lesbian Studies als Sammelbegriff für einen neuen theoretisch-kritischen Zugang zu nicht-normgerechten Sexualitäten. Die queer studies erkennen an: Die normative Geschlechterordnung ist ein Zwangsregime.
Sie bedienen sich an Erkenntnissen von Foucault, demnach Macht eine produktive Kraft ist, von der alle betroffen und an der alle beteiligt sind. Macht ist also nicht mehr nur repressiv, sondern auch produktiv. Queer analysiert werden können sämtliche Verwerfungen: Eine lesbische Polizistin auf dem Mittelland, Rainbow-Dosenbachschuhe und «queer, pervers und arbeitsscheu». Queer ist hier also ein geisteswissenschaftliches Instrument, das «Reibungen» und «Verwerfungen» innerhalb einer Gesellschaft im Hinblick auf Geschlecht und Sexualität untersucht.
Ich hoffe mit dieser dreifaltigen Einordnung...
...ein bisschen Licht ins Wirrwarr um den Begriff «Queer» gebracht zu haben, ohne den Anspruch auf absolute Gültigkeit zu erheben. Aber vielleicht ist es jetzt ein bisschen nachvollziehbarer, warum der cis-schwule Büezer-Nachbar eine andere Antwort gibt, als die*r genderfluide Kommiliton*in an der Uni :-)
Die Fotos dieser Serie sind Arbeiten der freiberuflichen Fotografin Anne Gabriel-Jürgens. Sie lebt und arbeitet in Zürich und Hamburg und begleitet Sascha für ein Langzeitprojekt mit dem Titel «Outbetweeninside». Die Fotografin beschreibt die Arbeit als visuellen Dialog mit Sascha. Alle Bilder dieser Artikelserie sind Teil dieser Zusammenarbeit.