Ist die Frage nach dem Geschlecht überhaupt noch nötig?
Sollen wir Geschlecht überhaupt kategorisieren? Die Debatte rund um den dritten Geschlechtseintrag ist auch eine darüber, warum wir Gender brauchen. Wir haben Expert*innen gefragt.
In der Schweiz soll es vorerst keinen amtlichen dritten Geschlechtseintrag geben. Das findet zumindest der Bundesrat, der jüngst einen 25-seitigen Bericht im Auftrag eines Postulats der Grünen BastA-Nationalrätin Sibel Arslan vorlegte. Die Einschätzung, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür in der aus Sicht des Bundesrats stark binär geprägten Schweiz nicht erfüllt seien, sorgte für Diskussionen. Bei Basler SVP- und LDP-Vertretern hiess es, es gäbe nur zwei Geschlechter und eine Ausweitung würde zur Beliebigkeit in der Geschlechterfrage führen. Derweil startete die Operation Libero eine Petition zur rechtlichen Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt.
Die Debatte zur Frage des Tages nachlesen.
Auch wir bei Bajour widmeten uns bei unserer «Frage des Tages» der Debatte um den dritten Geschlechtseintrag. Und prompt stand eine neue Frage im Raum: Warum überhaupt Geschlecht? «Wie wäre es mit nur einem: Mensch», schrieb Melanie. Und Ueli kommentierte: «Geschlecht scheint mir neben beispielsweise Nation eine der administrativ-bürokratischen Identitäten, mit denen Menschen würdelos zu einem Objekt gestempelt werden.»
Aus einer gesellschaftspolitischen wurde eine philosophische Frage. Müssen wir Geschlecht klassifizieren? Wir haben verschiedene Expert*innen befragt und unterschiedliche Einschätzungen erhalten.
Anfrage an die Soziologin Elisa Streuli, früher Gleichstellungsbeauftragte in Basel. Sie erklärt, dass Kategorien aus soziologischer Sicht einen Ordnungsrahmen schaffen, an dem sich Menschen orientieren und damit auch eine Zugehörigkeit erfahren: «Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist wichtig für die Identität – und enthält gleichzeitig die Gefahr, andere dadurch auszugrenzen.»
Den Wunsch nach einem dritten Geschlecht könne aus soziologischer Sicht als Ausdruck gedeutet werden, dass sich sehr viele Menschen nicht mehr der einen oder anderen Geschlechtergruppe zugehörig fühlen. «Dies hängt damit zusammen, dass den Geschlechtern nach wie vor, auch in der Schweiz, von Geburt auf enge Korsetts auferlegt werden», sagt die Soziologin. Dass immer mehr Menschen aus diesem Korsett ausbrechen, sei deshalb folgerichtig.
Geschlecht kann aus dieser Perspektive also eine Form der Zugehörigkeit schaffen – und eine grössere Geschlechtervielfalt bildet eine individuellere Gesellschaft besser ab. Das findet auch der Basler Psychiater David Garcia Núñez. Er leitet am Universitätsspital Basel den Schwerpunkt für Geschlechtervarianz. «Aber eine amtliche Eintraung von Geschlechtern ist heutzutage überhaupt nicht mehr notwendig», findet er. Wichtig sei Geschlecht dann, wenn es um Fragen wie zum Beispiel jener der Lohngleichheit geht, «aber dafür können die Daten ja extra erhoben werden», so Garcia Núñez. Kleiner historischer Exkurs: In der Antike oder im Mittelalter hat die Datenerhebung zum Geschlecht keine Rolle gespielt. Die amtliche Klassifizierung hat erst in der Neuzeit begonnen – und sollte von Beginn an die Frage klären, wie sich die Reproduktion innerhalb einer «Nation», der Geburtsgemeinschaft, entwickeln wird. Heute aber sei diese Datenerfassung so unerheblich wie die Augenfarbe, findet Garcia Núñez. Er erinnert daran, dass die Augenfarbe bis in die 80er-Jahre im Schweizer Pass erwähnt wurde – und dann verschwand, weil das Spektrum zu gross ist und sie nicht trennscharf kategorisiert werden konnte. Ist die Farbe eher Blau oder eher Grau? Ist Grünbraun das gleiche wie Braungrün?
Der Begriff «Geschlecht» ist vielfältig, erklärt Garcia Núñez: Ein Teil ist der Geschlechtskörper, im Englischen «Sex» genannt: «Selbst hier kann nicht in zwei trennscharfe Kategorien eingeteilt werden, denn die Natur erschafft Körper nicht nach Kategorien: Es gibt grosse Vulven und kleine Penisse.» Bei intersexuellen Menschen sind Eierstöcke und Hoden gleichzeitig vorhanden. Neben einer rein körperlichen Definition gehören zu Geschlecht aber auch die Geschlechtsidentität und die Geschlechtsrolle, im Englischen als «Gender» zusammengefasst. Zwischen den beiden Hauptgeschlechtsidentitäten «männlich» und «weiblich» gibt es eine grosse und stetig wachsende Menge an Begriffen, die diese Vielfalt an Identität abdeckt. Dasselbe gilt für die Geschlechtsrolle.
Aber ist denn die Augenfarbe wirklich so unerheblich? Kann sie nicht beispielsweise aus Sicherheitsaspekten trotzdem relevant sein, wenn es um die kriminalpolizeiliche Fahndung von Personen geht? Das gilt auch für Geschlecht: Kann man nach geschlechtslosen Personen überhaupt noch suchen?
Die Kantonspolizei Basel-Stadt erklärt auf Anfrage, dass die polizeiliche Fahndung den Fokus auf sicht- oder kontrollierbare Attribute der gesuchten Person richtet – Merkmale also, die beständig sind respektive nicht kurzfristig verändert werden können. «Das amtliche Geschlecht kann dabei eine Rolle spielen», heisst es zum Thema aus der Medienstelle. Aber eben: kann. Denn amtliches Geschlecht sei nur eines von diversen Merkmalen, das beim Finden und Erkennen einer gesuchten Person eine Rolle spielen könne.
Die wohl intensivste Debatte, die bislang in den Massenmedien rund um das Thema «Geschlechtliche Vielfalt» geführt wurde, betraf indes den Sport: Der Streit im Fall der südafrikanischen Läuferin Caster Semanya läuft seit Jahren. Läuft sie nur wegen dem hohen Testosteronwert zu Olympiatiteln? Wäre es da nicht einfacher, komplett auf Geschlecht zu verzichten?
Die ehemalige Sportjournalistin Jeannine Borer macht sich für die Sichtbarkeit von Frauen im Sport stark. Sie kann sich die Abschaffung amtlicher Geschlechter nicht vorstellen: «Die Gefahr, dass Frauen in vielen Sportarten noch mehr an den Rand gedrängt und ganz aus dem Lichtkegel der Scheinwerfer verschwinden, schätze ich als zu hoch ein.» Sie sei jedoch fest davon überzeugt, dass man die stark normierten Kategorien «Mann» und «Frau» aufweichen muss. Wie die Lösung genau aussehen soll, ist schwierig zu sagen.
«Geschlecht ist ein Kontinuum, und vor dieser Tatsache verschliesst der Sport bisher die Augen.»Jeannine Borer
Wie also könnte eine Lösung aussehen? Laut Borer sei wichtig, dass man Geschlecht nicht nur am Testosteron festmacht, sondern breiter denkt. Für sie steht auch fest: Der Ausschluss oder die Diskriminierung von non-binären oder intergeschlechtlichen Menschen im Sport (in allen Leistungsklassen) geht nicht. EIne Einführung einer dritten Kategorie für non-binäre, trans* oder intergeschlechtliche Personen hält sie aber ebenfalls für keine Option. «Der Stellenwert dieser Kategorie wäre bald mit dem der Paralympics und den Special Olympics zu vergleichen», findet sie – also Randphänomen und eben nicht Sichtbarkeit als Teil der Mitte der Gesellschaft.
Die Antwort liegt für sie also dazwischen: Starre Grenzen aufweichen.
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