Alle reden von Integration. Bajour tut was.

Die Idee ist so bestechend wie einfach. Damit geflüchtete Bewohner*innen Fuss fassen können, brauchen sie ein Netzwerk. Das ist das Ziel von myfive: 5 lokale Göttis für jede geflüchtete Person. Bajour und Gärngschee lancieren das Pilotprojekt in Basel.

myfive app animiert

Wir sehen alle die Nachrichten und Bilder aus der Ukraine. Heute wird viel über Artillerie-Reichweiten und Stellungskriege im Donbass gesprochen. Die Bilder der Millionen von Geflüchteten, die am Anfang die Berichterstattung des Ukraine-Kriegs geprägt haben, sind etwas in den Hintergrund getreten. Doch täglich treten weitere Vertriebene die Flucht aus ihren zerstörten Häusern an. Und viele sind schon hier.

In der Schweiz sind rund 61’000 Geflüchtete aus der Ukraine angekommen. Rund 1’700 sind in Basel-Stadt, rund 2’140 in Baselland gelandet (die Statistik erfasst die Menschen, die sich für ein Aufenthaltsgesuch registriert haben).

Die Welle der Solidarität mit den ukrainischen Geflüchteten ist historisch fast einzigartig. Bewundernswert viele Menschen in der Schweiz haben sich entschlossen, Geflüchtete privat bei sich aufzunehmen. Wie etwa Nina Jecker, leitende Journalistin bei der BaZ und zweifache Mutter. Sie nahm fünf Ukrainerinnen bei sich auf und hat viel geweint in den letzten Monaten. Vor Mitgefühl, vor Rührung mit den Ukrainer*innen, die bei ihr lebten, und auch ein bisschen aus Erschöpfung. 

«Am aufwändigsten ist der Kontakt zu den Behörden», erzählt sie am Telefon. Die Jeckers mussten kämpfen, dass Olena und Olena bei ihnen im Baselbiet bleiben durften, die eine Familie war im Aargau gemeldet. Das zu regeln, brauchte viel Zeit. 

Nina Jecker
Nina Jecker und die beiden Ukrainerinnen Olena und Olena. (Bild: Lucia Hunziker)

Für die Ausländerausweise mussten die Ukrainer*innen nach Frenkendorf, das Sozialhilfegeld in Pratteln abholen. Nina war ein bisschen nervös, sie sorgte sich: Würden die Frauen das richtige Drämmli erwischen, würden sie die Adresse finden und rechtzeitig dort sein? Nicht, dass sie nachher ohne Geld dastehen. Die Fragen und die grossen und kleinen Sorgen gehen nie aus. Die Freuden, die dieses neue Zusammenleben bringt, aber auch nicht. Man lernt viel voneinander und nie aus.

Die tausenden Jeckers in Basel sind Held*innen. Und die zehntausenden Geflüchteten, die von zu Hause gekommen sind, um länger zu bleiben, irgendwie auch.


Bei Gärngschee, der vernetzten FB-Nachbarschaftshilfe von Bajour reihen sich inzwischen jede Woche einige Dutzend Ukrainerinnen in die Schlange bei der Lebensmittelabgabe ein. Sie ertragen ihr Schicksal klaglos. Wer mit ihnen spricht, trifft auf viele Frauen, deren Männer im Krieg sind. Sie selbst sind hier oft mit ihren Kindern und müssen sich mit dem Gedanken abfinden, dass das alles viel länger dauern wird als zunächst geplant. Stellungskrieg heisst vor allem, dass alle ganz lang da bleiben, wo sie gerade sind. Viele sind hier und viele werden lange oder für immer bleiben müssen.

Und du und ich?

Bajour-Herz
Zusammen ist man weniger allein.

Komm zu Bajour!

Wir im Bajour-Team haben uns häufig gefragt, ob wir selbst eine Familie aufnehmen könnten. Aber wir müssen zugeben, dass viele von uns das kräftemässig und auch emotional im Moment schlicht überfordern würde. Allein für einen oder mehrere Geflüchtete als einzige Ansprechperson in Not, Leid, aber auch bei den hundert anstehenden Frage zu dienen, das könnten wir nicht. Aber was wäre, wenn jede Person, sagen wir mal, mit einem kleinen Netzwerk von fünf anderen Basler*innen den Geflüchteten von Nina Jecker und auch den Jeckers selber unter die Arme greifen könnte? Eine von fünf Göttis eines Geflüchteten sein und in Kontakt zu stehen? Das liesse sich machen!

Als die Robert Corti Stiftung an uns mit der Idee herangetreten ist, ihre Vernetzungs-App myfive in Basel als Versuchsstadt zu lancieren, waren wir sofort begeistert. Mit Bajour als täglichem Medium und der Gärngschee Facebook Gruppe mit 23’000-fach gelebter Nachbarschaftshilfe, seien wir die ideale Plattform und Basel sei die ideale Stadt für die Lancierung mit dem hohen Anteil an privat untergebrachten Geflüchteten. Aber die App muss erst gestartet und dann laufend weiterentwickelt werden. Das bedingt natürlich auch eine hohe Anpassungsfähigkeit.

Anpassungsfähigkeit, Nachbarschaftshilfe, laufende Entwicklung? That’s Bajour! Und Basel auch noch grad.

Und in der Tat. Vor zwei Monaten haben sich erste Bajour- bzw. Gärngschee Member nach einem Aufruf als Versuchsintegrationskaninchen dahintergeklemmt. 50 Basler*innen und zehn Geflüchtete meldeten sich. Sie nutzen einen ersten ganz rauen Protoyp der App und machen ihn mit ihren Feedbacks und ihrem Verhalten laufend besser. 

Und es funktioniert! Aktuell geht es Geflüchteten vor allem darum, häufig Deutsch zu reden. Einmal Deutschkurs pro Woche ist ein guter Anfang, reicht aber nicht, um fliessend sprechen zu lernen. Das ist aber die Voraussetzung, um einen Job zu finden. Andere suchen Jobs, Hilfe beim Gang zum Sozialamt, haben Fragen zur Ausbildung oder dem Schulsystem, oder suchen ganz einfach jemanden, mit dem sie reden können. Bei mindestens fünf Göttis hat immer jemand Zeit.

Die Geflüchteten stellen sich ihr Netzwerk von mindestens fünf lokalen Partner selbst zusammen. Wer die Anfrage akzeptiert, wird Teil des Mini-Netzes. Sobald fünf zugesagt haben, geht das Netzwerk auf und der Chat los. 

Nina Jecker findet die Idee super: Sie hat selbst eine ähnliche Aktion lanciert, einfach nur privat. «Ihre» Ukrainer*innen sind mittlerweile ausgezogen. Ninas Mann hat ihnen eigene Wohnungen organisiert. Sie trinken immer noch regelmässig Kaffee oder unternehmen etwas mit den Kindern. Doch das reicht nicht, findet Nina: «So lernen sie zu wenig schnell Deutsch.» Daher hat sie jetzt in ihrem Bekanntenkreis rumgefragt, wer sonst noch Interesse hätte, mit den Familien abzumachen, um Deutsch zu üben und den Kindern bei den Uffzgi zu helfen.

«Zusammen helfen ist einfacher als alleine.»
Nina Jecker

Jetzt hat sie ein Grüppli zusammen. Das sei Win-Win: «Zusammen helfen ist einfacher als alleine», sagt Nina. «Und ältere Leute freuen sich vielleicht über einen Besuch.» 

Auch Halyna Rinner ist begeistert von dieser Idee. Rinner ist selbst Ukrainerin, ist vor 22 Jahren nach Basel gekommen, um hier Wirtschaft zu studieren. Sie engagiert sich für den Verein Ukrainer in Basel und koordiniert die verschiedenen Angebote für die Geflüchteten. Auch sie stellt fest: «Die grösste Herausforderung aktuell ist die Sprache.» Und der Infofluss: Zwar gebe es viele Angebote für Geflüchtete, aber Rinner stellt immer wieder fest: «Die Ukrainer*innen wissen nichts davon.» Offenbar wird zu wenig kommuniziert. 

Rinner findet die Idee mit myfive super. Sie sagt: «Der Staat hat viele Angebote für Geflüchtete. Aber die Menschen wissen zu wenig davon.» Es brauche dringend mehr Unterstützung und Begleitung für die Familien. «Myfive ist die perfekte Lösung.» Und eins wissen wir schon seit Corona: Die Hilfsbereitschaft in der Region ist riesig.

«Der Staat hat viele Angebote für Geflüchtete. Aber die Menschen wissen zu wenig davon.»
Halyna Rinner

Rinner findet die Idee mit myfive super. Sie sagt: «Der Staat hat viele Angebote für Geflüchtete. Aber die Menschen wissen zu wenig davon.» Es brauche dringend mehr Unterstützung und Begleitung für die Familien. «Myfive ist die perfekte Lösung.» Und eins wissen wir schon seit Corona: Die Hilfsbereitschaft in der Region ist riesig.

Genug Gründe für Bajour, den Versuch öffentlich zu machen. Die App ist seit gestern in erster Beta-Version parat und kann von allen heruntergeladen und genutzt werden. Es ist wichtig zu wissen, dass es noch viele Anfangsprobleme geben wird. Es wird Abstürze und viele Fragen geben. Firstmovern, wie wir Basler*innen es hier sind, wird vermutlich einiges an Fehlertoleranz zugemutet. Aber nur unter stetiger Nutzung kann die App laufend verbessert werden. Wir werden also bei Bajour die Lancierung und die sämtlichen Weiterentwicklungsschritte sehr eng begleiten. Myfive ist aber nicht wirklich nur ein Bajour-Projekt. Es ist vor allem ein Basler Projekt. Wir sind sicher, dass es nach Basel in der ganzen Schweiz Schule machen wird.

Die App myfive ist ab sofort offen für alle Teilnehmer*innen und wird ständig weiter entwickelt. Bajour wird die Lancierung der App auch zum Anlass nehmen, das Thema Integration in verschiedenen Artikeln und Events schwerpunktmässig zu fassen und in den nächsten Monaten journalistisch zu begleiten.

Und eins ist selbstverständlich: Die App ist offen für alle Geflüchteten, egal ob aus Afghanistan, der Ukraine oder Syrien. Egal aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen. Und genau so für Urbasler*innen oder Wahlbasler*innen. Gärngschee.

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