Warum das Gesundheitswesen an der Informatik krankt
Das Bundesamt für Gesundheit hat dem digitalen Impfbüchlein den Stecker gezogen: Wieder läuft ein digitales Projekt des Bundes auf Grund. Was steckt dahinter?
Selten ist ein Projekt so spektakulär auf Grund gelaufen wie diese Woche Meineimpfungen.ch. Monatelang hat der Bund seinen Bürgerinnen und Bürgern empfohlen, doch bitte den persönlichen Impfausweis zu digitalisieren, damit später auch die Covid-19-Impfung digital eingetragen werden könne. Jetzt hat die «Republik» an den Tag gebracht, dass die Plattform simple Sicherheitsvorkehrungen missachtet und gleich eine ganze Reihe technische Fehler gemacht hat.
Jede Medizinfachperson, die auf der Plattform registriert war, konnte auf alle Impf- und Gesundheitsdaten zugreifen und sie manipulieren. Das ist besonders dramatisch, weil bei der Registrierung als Medizinfachperson keine Identitätsprüfung stattfand. Darüber hinaus bestanden bedenkliche Sicherheitslücken: Mit nur wenig Knowhow liessen sich Gesundheitsdaten nicht nur einsehen, sondern auch manipulieren.
Im Laufe der Woche stellte sich heraus, dass nicht nur die Datensicherheit der Plattform ein Problem war, sondern auch die Datenqualität: Einer Aargauerin wurde die Corona-Impfung einer Zürcherin mit dem gleichen Namen eingetragen.
Mittlerweile ist die Plattform vom Netz genommen worden. Der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB) hat ein Verfahren gegen die Betreiberin der Plattform eröffnet. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat sich von der Plattform distanziert und ihre Bedeutung heruntergespielt. BAG-Chefin Anne Lévy, die sonst perfekt Hochdeutsch spricht, hat am Point de Presse des BAG despektierlich auf Schweizerdeutsch vom «digitalen Impfbüechli» gesprochen.
Es ist nicht das erste Mal, dass in der Schweiz ein Informatikprojekt auf Grund läuft. Dass es der Schweiz auch in der Pandemie nicht gelingt, ihr Gesundheitswesen zu digitalisieren, ist aber besonders dramatisch, es hat negative Folgen für uns alle – und es ist auch peinlich für unser Land. Deshalb stellen sich grundsätzliche Fragen. Sind die Schweizer Informatiker*innen unfähig? Ist das BAG inkompetent? Sind die Beamt*innen faul? Woran könnten die Probleme der Schweiz mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens denn sonst liegen? Schauen wir uns die einzelnen Fragen etwas genauer an.
Sind die Schweizer Informatiker*innen unfähig?
Sicher nicht. Die Schweiz hat gute Ingenieur*innen und gute Informatiker*innen – bloss hat sie viel zu wenig davon und das seit vielen Jahren. Seit Jahren bildet die Schweiz nur knapp 70 Prozent der Informatik-Fachkräfte aus, die sie benötigt. Der Verband ICT-Berufsbildung Schweiz geht davon aus, das in den nächsten Jahren über 35’000 Informatik-Fachkräfte fehlen werden.
Ein Problem mit Ansage: Die Schweiz unternimmt auf allen Ebenen seit vielen Jahren zu wenig in Sachen Ausbildung. Etwas polemisch könnte man anmerken, dass sich die politische Schweiz lieber um die Landwirtschaft kümmert als um die Digitalisierung und dass ihr das jetzt auf den Kopf fällt. Dabei geht es nicht nur um ausreichend Ausbildungs- und Studienplätze, sondern auch um die Frühförderung im Bereich Computer und Informatik – und da vor allem um die Förderung von Mädchen.
Ist das Scheitern von Meineimpfungen.ch darauf zurückzuführen? Wohl kaum. Der Informatiker*innenmangel in der Schweiz wird aber dazu führen, dass es nicht einfach sein wird, die Plattform rasch umzubauen.
Ist das BAG inkompetent? Sind die Beamt*innen faul?
Es ist ein Vorwurf, der seit Beginn der Pandemie die Runde macht: Das BAG ist nicht kompetent in Sachen Digitalisierung. Zu Beginn der Pandemie warfen die Medien dem BAG vor, dass es noch Daten per Fax erhalte. Man machte die Faxgeräte dem Amt zum Vorwurf, ohne zu bedenken, dass das Problem wohl eher auf der anderen Seite der Telefonlinie liegt: bei Ärzt*innen und Gesundheitseinrichtungen, die ihre Daten immer noch per Fax ablieferten.
In einem zentralistisch organisierten Land wie Spanien oder Frankreich hätte das BAG wohl den Faxgeräten schon länger den Stecker gezogen und Ärzt*innen und Spitäler dazu gezwungen, die Daten digital abzugeben. In der Schweiz geht das nicht.
Deshalb kann man die Schuld auch nicht einfach auf die Beamt*innen des BAG abschieben. Bundesbeamt*innen haben in der Schweiz in der Regel gar nicht so viel Gestaltungsspielraum (und den Spielraum, den sie haben, verstellen sie sich oft gegenseitig). Das Problem liegt vermutlich ganz woanders: Der Bund hat im Gesundheitswesen (ausser im Bereich Ausbildung) schlicht kaum etwas zu sagen. Die Gesundheitsversorgung ist in der Schweiz Sache der Kantone.
Der Föderalismus ist schuld
Grundsätzlich ist der Föderalismus ja eine feine Sache: Er sorgt dafür, dass regional spezifische Lösungen zum Einsatz kommen können und nicht Einheitslösungen über die ganze Schweiz gestülpt werden müssen. 1848 war es sicher sinnvoll, dass die Kantone für die Gesundheit ihrer Bevölkerung zuständig waren. Erstens gingen auf der Kutschenfahrt von Bern in den Heimatkanton ohnehin viele Bundesregelungen «vergessen» – und zweitens mussten die Menschen sowieso vor Ort behandelt werden.
Nun leben wir aber im 21. Jahrhundert, die Schweiz ist mehr oder weniger zu einer einzigen Metropolitanregion zusammengewachsen und es gibt seit ein paar Jahrzehnten ein Netzwerk namens Internet. Es kommt deshalb auch ohne Pandemie zunehmend zu Konflikten zwischen den verschiedenen Ebenen im Bundesstaat.
In der Pandemie haben sich diese Konflikte verstärkt. Am besten lief es in der ausserordentlichen Lage, als der Bund zuständig war. Die Kantone zeterten zwar herum, waren aber wohl insgeheim froh, dass der Bund die unbeliebten Regeln erliess.
Als der Bund im Sommer 2020 die Verantwortung wieder an die Kantone abtrat, kam es zum grossen Regelchaos und zu grossen Verzögerungen. Trotzdem hat sich die politische Schweiz bis jetzt irgendwie durch die Pandemie gewurstelt. Unklarheiten wurden mit Geld zugedeckt und mit Kompromissen übertüncht. Die Schweiz war und ist ein «sowohl-als-auch»-Land. Die häufigste politische Antwort ist «Jein».
Der Kompromiss zerschellt an der Digitalisierung
Die Schweiz wurstelt sich also durch. Im analogen Alltag funktioniert das einigermassen. Aber nicht bei Informatikprojekten. Informatikprojekte brauchen klare Hierarchien und Zuständigkeiten, präzis formulierte Aufträge und Leitlinien, eine zentralisierte Struktur, Einigung auf Standards und Formate, eine straffe Führung und klare Ziele – mit anderen Worten: Informatik und die Politik von Bund und Kantonen sind zwei unvereinbare Welten. Computer können mit dem schweizerischen «Jein» nichts anfangen: Sie verstehen nur «ja» oder «nein».
Das digitale Impfbüchlein ist dafür ein gutes Beispiel. Es beginnt mit der Organisation. Die Gesundheitsversorgung ist in der Schweiz Sache der Kantone. Der Bund hat keine gesetzliche Grundlage, den Kantonen eine eidgenössische Digitalplattform für das Registrieren von Impfungen vor die Nase zu stellen. Andererseits ist es nicht sinnvoll, dass jeder Kanton eine eigene Plattform baut. Und Privaten, etwa der Pharmaindustrie, kann man eine Impfplattform auch nicht überlassen.
Der gut schweizerische Ausweg: Man gründet eine Stiftung, bindet möglichst viele Anspruchsgruppen ein und hat so eine halb öffentliche, halb private Lösung, die irgendwo zwischen Bund und Kantonen angesiedelt ist. So steht denn hinter der Plattform Meineimpfungen.ch die Stiftung «meineimpfungen». Sie ist 2015 gegründet worden und hat ihr Domizil in Gümligen bei Bern.
«Ein Föderalismus mit vielen Kompromissen verträgt sich nicht mit Informatikprojekten.»
Das Problem ist nur: Mit solchen Kompromissen löst man keine Probleme, schon gar nicht in der Informatik. Man lässt sie nur zwischen den Strichen im Organigramm verschwinden. Die Konstruktion hat natürlich Vorteile: Angesprochen auf die mangelnde Digitalisierung hat der Bund in den vergangenen Monaten immer auf Meineimpfungen.ch verwiesen. Motto: Wir tun ja was.
Jetzt, da Probleme auftauchen, distanziert sich das BAG von der Plattform. Motto: Wir können nichts dafür, das ist eine private Initiative. Anne Lévy sagte am Point de Presse, die Schweiz habe keine gesetzliche Grundlage für ein Impfregister. Und: «Es obliegt der Verantwortung des Geimpften, den Impfnachweis mitzunehmen.» Am Schluss bleibt es an uns Bürger*innen hängen.
Nicht das einzige Debakel
Schuld ist also letztlich der Kantönligeist: Ein Föderalismus mit vielen Kompromissen zwischen Bund und Kantonen verträgt sich nicht mit Informatikprojekten. Gefährdet sind also vor allem Themenbereiche, die eine nationale Bedeutung haben, aber in den Zuständigkeitsbereich der Kantone fallen.
Im Gesundheitswesen gibt es neben Meineimpfungen.ch ein weiteres Projekt, das gerade daran ist, auf Grund zu laufen, wenn auch etwas weniger spektakulär: das Elektronische Patientendossier (EPD). Es ist so etwas wie der grosse Bruder von Meineimpfungen.ch: Das EPD soll es uns Bürger*innen ermöglichen, alle unsere Krankenakten an einem sicheren, digitalen Ort aufzubewahren und selbst zu bestimmen, wer in welchem Umfang Zugriff darauf hat.
Basisdaten wie Blutgruppe und Angaben zu Allergien, Untersuchungsresultate wie Röntgenbilder und Blutwerte und die ganze Krankengeschichte – alles soll sicher und digital an einem Ort aufbewahrt werden, damit die behandelnde Ärztin sich rasch einen Überblick zum Beispiel über verschriebene Medikamente machen kann.
«Der Bund darf die digitale Umsetzung nicht schulterzuckend den Kantonen überlassen. Er muss selber liefern und digital Verantwortung übernehmen.»
Das wäre eine gute Sache, wenn die Schweiz EIN solches System einrichten würde. Weil die Gesundheitsversorgung in die Zuständigkeit der Kantone fällt und Spitäler ein gewichtiges Wort mitzureden haben, basteln aber verschiedenste Akteure vor sich hin – mit dem Resultat, dass es in der Schweiz bis jetzt kein vernünftiges EPD gibt, obwohl es gesetzlich längst vorgeschrieben wäre.
Der Bund hat bisher zwei EPD-Anbieter zertifiziert, beide haben den Betrieb aber noch nicht aufgenommen. Weitere sieben (!) Anbieter*innen sind auf dem Weg zur Zertifizierung. Anzumerken ist: Wenn es ein nationales EPD-System gäbe, bräuchte es auch keine Insellösungen wie Meineimpfungen.ch.
Dasselbe gilt für das Krebsregister. Krebserkrankungen sind in der Schweiz meldepflichtig. Es gab aber bis vor kurzem kein nationales Krebsregister, deshalb führen die Kantone 13 (!) verschiedene Krebsregister in der Schweiz. Natürlich wäre ein zentrales Register von Anfang an nicht nur günstiger, sondern auch besser gewesen. Aber Gesundheitsversorgung ist Sache der Kantone – und Computer sind natürlich von Kanton zu Kanton verschieden…
Wie geht es weiter?
Ich sehe drei Möglichkeiten, wie es mit dem digitalen Impfregister, dem «digitalen Impfbüechli», wie es Anne Lévy ausdrückt, in der Schweiz weitergeht. Beginnen wir mit der schlechtesten aller Möglichkeiten.
Variante 1: Es passiert nichts.
Bis jetzt konnte die Schweiz die Digitalisierungsprobleme im Gesundheitswesen aussitzen und mit Geld übertünchen. Bei der Pandemie wird das schwierig, aber nicht unmöglich. Das BAG wedelt ja jetzt schon mit einem Impfzertifikat auf Papier. Und wer weiss, vielleicht haben wir in einem Jahr ja andere Probleme.
Variante 1 ist also: Es passiert gar nichts. Mit anderen Worten: Wir Bürger*innen schauen in die Röhre, weil sich Bund und Kantone nicht über Kompetenzen einigen können.
Variante 2: Die GDK schreitet ein.
Gesundheitsversorgung ist Sache der Kantone. Das bedeutet aber nicht, dass 26 Kantone autonom handeln müssen. Die zuständigen Regierungsräte, die Gesundheitsdirektoren, sind zu einer Konferenz zusammengeschlossen, der GDK. Präsident ist derzeit der Basler Regierungsrat Lukas Engelberger (Mitte).
Sinnvoll wäre es, wenn sich die GDK am Riemen reissen und sich auf eine digitale Lösung einigen würde: ein digitales Impfregister, an dem alle Kantone teilhaben.
Die Plenarversammlung der GDK hat 27 Mitglieder, die 26 Gesundheitsdirektor*innen und der Gesundheitsdirektor des Fürstentums Liechtenstein. Dass die 27 Regionalfürsten sich auf eine gemeinsame Lösung einigen, ist extrem unwahrscheinlich, weil sie alle Teil ihrer jeweiligen Regierungen sind – es bräuchte also die Zustimmung aller 26 Kantone und des Fürstentums. Das ist utopisch.
Variante 3: Die Schweiz übernimmt die Lösung der EU.
Nun ist aber absehbar, dass die Schweizer*innen ohne digitale Impfdokumentation künftig nicht mehr reisen können. Vielleicht kommen auch internationale Konzertveranstalter oder Kreuzfahrtgesellschaften auf die Idee, einen Impfnachweis einzuführen.
Die Schweiz braucht also eine Lösung. Sie wird sich deshalb früher oder später der EU-Lösung anschliessen. Natürlich wird die Schweiz schimpfen, wir kennen das ja: Souveränitätsverlust, Diktat aus Brüssel – die Schweiz wird über die EU so schimpfen wie die Kantone während der ausserordentlichen Lage über den Bund geschimpft haben.
Wie die Kantone damals wird aber auch die Schweiz froh sein, dass eine übergeordnete Stelle ihr ein Problem löst, ohne dass sie sich dabei die Finger mit unbeliebten Entscheiden schmutzig machen muss.
Digitaler Restart
Mit anderen Worten: Irgendwie werden wir uns auch durch dieses Debakel durchwursteln. Aber die Distanz zu den Ländern, die digital funktionieren, wird grösser. Das wird sich die Schweiz nicht mehr lange leisten können. Darunter leiden vor allem wir Bürger*innen.
Was wäre denn wünschenswert? Ich wünsche mit mehr digitale Taten und weniger politische «Vapourware». So nannte man früher Erfindungen, die Technikfirmen ankündeten, ohne dass sie existierten. Der Bund darf sich nicht mehr auf leere Ankündigungen kaprizieren und die digitale Umsetzung schulterzuckend den Kantonen überlassen. Der Bund muss selber liefern und digital Verantwortung übernehmen. Wo das gesetzlich nicht möglich ist, muss das Parlament den gesetzlichen Rahmen schaffen.
Es kann doch nicht sein, dass im Jahr 2021 bei uns jedes Dorf in einer eigenen digitalen Welt lebt. In Sachen Digitalisierung braucht der Bund mit anderen Worten einen Neustart. Und zwar jetzt.
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Matthias Zehnder ist Bajour-Mitgründer und -präsident. Seinen Wochenkommentar veröffentlicht er auch auf seiner Website matthiaszehnder.ch. Hier kannst du ihn abonnieren und hier unterstützen.