Wie eine Brieffreundschaft eine Deutsche nach Basel lockte
1958 kommt eine verliebte Margret aus Deutschland in die Schweiz. 63 Jahre später erzählt ihre Tochter, wie sich ihre Eltern kennenlernten und die Mutter sich mit der neuen Heimat arrangierte, Baseldytsch lernte und nie wieder woanders lebte.
Leserin Karin Geitz meldete sich mit der Geschichte ihrer Mutter bei Bajour, nachdem sie Inas Artikel über das Ankommen in Basel gelesen hatte. Karin erzählt aus ihrer Erinnerung, was sie von ihrer Mutter über die Jahre erfahren hat. Ein Tagebuch der Mutter oder Aufzeichnungen besitzt sie nicht.
Für meine Mutter Margret war schon immer klar, dass sie nicht in ihrem Heimatort in Nordrhein-Westfalen bleiben würde. Das hat sie immer sehr betont. Das Leben in der Kleinstadt, wo jeder jeden kannte und viel geklatscht wurde, behagte ihr nicht. 1957 entdeckte sie in der Zeitschrift «Heim und Welt» eine Anzeige für eine Brieffreundschaft. Die Annonce von Willy Schmid aus Bottmingen bei Basel kam ihr wohl gerade recht – die Schweiz war weit genug weg. «Spätere Heirat nicht ausgeschlossen», stand unter dem Inserat.
Die beiden schrieben sich fleissig, schickten Fotos und schon bald kam es zum ersten Treffen. Willy kam nach Deutschland und in einem Hotel unter. Er mochte Margrets blonden Haare und ihre sanfte Art, ihr gefielen sein Charakter und sein Humor (sie wollte immer einen grossen Blonden, er war klein und dunkelhaarig).
Zwei- oder dreimal kam Willy nach Deutschland, danach besuchte ihn meine Mutter zum ersten Mal in der Schweiz.
Meine Mutter war damals 23 Jahre alt und lebte bei ihren Eltern in Lengerich. Sie hatte die Schule nach den Pflichtjahren abgebrochen und eine Lehre als Stickerin gemacht, um die Familie zu unterstützen. Dabei hätte sie mit ihren Noten locker das Abitur geschafft.
Sie wäre sehr gerne Handarbeitslehrerin geworden. Aber ihr Vater kam aus englischer Kriegsgefangenschaft physisch und psychisch geschwächt zurück und konnte seine Arbeit als Schreiner und Drechsler nicht wieder aufnehmen. Margret musste einspringen.
Jetzt entschied sie sich für den Sprung in die Schweiz, das war 1958. Sie ging nach Basel – erst einmal auf Probe. Sie brachte Fotoalben, Bücher und wohl auch schon einen Anfang zur Aussteuer mit, unter anderem Frottiertüchli und Bettwäsche.
Die Verlobung fand in Bottmingen statt, mit beiden Eltern, als meine Mutter schon hier lebte. Mit der Entscheidung füreinander war klar, dass meine Mutter in der Schweiz leben würden. Mein Vater war so ein Patriot, der wäre nicht nach Deutschland gegangen.
Es folgte keine einfache Zeit. Die Deutschen waren nicht gern gesehen, obwohl der Krieg schon viele Jahre vorbei und die Generation meiner Mutter damals noch Kind gewesen war.
Ledige deutsche Frauen in der Schweiz mussten damals, Ende der Fünfzigerjahre, eine Zeitlang im Restaurant oder im Haushalt arbeiten, bevor sie eine andere Stelle antreten durften. Eine Stellenvermittlung für unverheiratete Frauen aus Deutschland und Österreich half bei der Jobsuche.
Margret entschied sich für die Arbeit als Dienstmädchen, weil sie eher eine sanftmütige, introvertierte Person war und sich nicht vorstellen konnte, in einem Restaurant zu arbeiten.
Bei ihrer ersten Stelle wurde sie sehr schlecht behandelt, da die Familie, für die sie arbeitete antideutsch war und sie keine geregelte Freizeit hatte. Dann hatte sie eine neue Stelle an der Feierabendstrasse in Basel, wo sie ein kleines Zimmer im Haus der Familie bekam. Manchmal hat sie mir das Haus beim Spazierengehen gezeigt, es steht noch heute.
Sie arbeitete für eine Familie mit einem Schäferhund namens Rex, der Türen aufmachen konnte. Eine ihrer Aufgaben war es, hinter dem Hund herzulaufen und die Türen wieder zuzumachen, die er geöffnet hatte.
Im Haus gab es ein Bediensteten-System, typisch für alte Basler Villen, mit einem Band zum Ziehen. Betätigte es jemand, leuchtete bei meiner Mutter eine Lampe auf und zeigte an, in welchem Zimmer etwas gefragt war. Wenn die Herrschaften klingelten, musste sie sofort reagieren. Das bedeutete, dass sie, auch wenn sie selber am Essen war, ihre Suppe stehen und kalt werden lassen musste.
Im Sommer 1960 heirateten Margret und Willy. Sie gab bei der Heirat das deutsche Bürgerrecht ab und wurde Schweizerin (beides konnte man damals nicht haben). Meine Mutter arbeitete jetzt in der Sandoz am Fliessband und füllte Pillen ab. Die Arbeit hatte zwar auch nichts mit ihrer Ausbildung zu tun, aber sie konnte nicht mehr als Stickerin arbeiten. Handarbeit wurde durch Maschinen ersetzt.
Nachdem meine Eltern geheiratet hatten, zogen sie nach Allschwil, dort bin ich auch aufgewachsen. Meine Mutter hat nie wieder woanders gewohnt.
Die ersten drei Jahre nach der Hochzeit waren nicht einfach für meine Mutter. Sie konnte die Sprache zwar verstehen, aber noch nicht sprechen. Die Geschwister von meinem Vater sagten: «Pass auf, sie ist eine Deutsche, sie kommt nur her und möchte einen Schweizer heiraten, damit sie die Schweizer Staatsbürgerschaft bekommt.» Sie sagten es nicht direkt zu ihr, sondern nur meinem Vater.
Vordergründig waren alle freundlich zu ihr, aber vorsichtig. Mein Vater verteidigte sie immer und mit der Zeit wurde es besser. Aber das muss schwer für sie gewesen sein, sie muss sich sehr einsam gefühlt haben. Das hat sie mir aber nie so offen gesagt, sondern eher zwischen den Zeilen.
Freundinnen hat sie nie welche gefunden. Sie war nicht so initiativ und hat auch nicht wahnsinnig viel unternommen. Immerhin mit ihrer Schwägerin, meiner Gotte, hat sie sich später gut angefreundet.
Sie war am liebsten zu Hause, hat Kreuzworträtsel gelöst und Handarbeit verrichtet. Meine Mutter hat in ihrem Leben bestimmt 300 Pullover gestrickt. Mit Loch- und Zopfmuster und allem Möglichen.
Kurz bevor sie gestorben ist, sollte sie eigentlich in ein Altersheim. Damals mussten wir sortieren: Aus Platzgründen konnte sie von 75 selbstgestrickten Pullovern nur 25 mitnehmen. Und die waren alle gleich perfekt! Ich glaube, im Handarbeiten hat sie sich ausgelebt.
Ich war immer beeindruckt von meiner Mutter: Dieser Mut, einfach wegzugehen. Dorthin, wo sie nichts kennt. Und ihre Familie, eine riesige Verwandtschaft, die blieb ja in Deutschland. Ich habe meine Mutter gelöchert mit Fragen, ob sie noch in Briefkontakt war mit Freundinnen von früher. Aber sie brach alles ab, nur zu den Eltern hatte sie noch guten Kontakt. Das konnte ich nie nachvollziehen.
Als ich 1963 geboren wurde, das einzige Kind, beschloss meine Mutter, mit mir Baseldytsch sprechen zu lernen. Sie hat nie Hochdeutsch mit mir gesprochen. Die ersten Sachen, die sie konnte, waren «Griezi», «Wie goots?» und «Wienerli».
Meine Mutter hat hier mehr als 50 Jahre gelebt. Bis zum Schluss klang ihr Baseldytsch immer noch nicht so, wie wenn ich heute spreche. Als ich auf dem Gymnasium war, fiel mir auf, dass sie das «ch» immer weich ausspricht. Ich habe ihr gesagt, weisst du, es gibt einen Unterschied zwischen dem weichen und harten ch, wie zum Beispiel bei Licht und Nacht. Und sie war verwundert und meinte, «Das sage ich doch so!» Sie hatte immer einen Akzent. Und später, als sie am Kiosk arbeitete, fragten die Leute manchmal: «Wo kommen Sie eigentlich her?»
Für meine Mutter war immer klar: Sie kommt aus Basel. Sie war mit der Heirat Schweizerin geworden und hatte beschlossen, diese neue Heimat voll und ganz anzunehmen. Sie wollte hier daheim sein, mit diesem Mann. Es war eine willentliche Identifizierung mit der Schweiz und mit Basel.
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Aufgezeichnet von Ina Bullwinkel
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