Wir brauchen die Unterstützung der Kultur

Der Bevölkerung geht der seelische Sprit aus. Uns fehlt das Leben, Musik, Tanz, Theater – kurz: die Kultur. Der Staat hat die Versorgung abgeschnitten – jetzt muss er handeln.

geschlossenes Kino
(Bild: Edwin Hooper/Unsplash)

Stellen Sie sich einmal vor, im Rahmen des Lockdowns dürften die Tankstellen keine Kunden mehr empfangen. In der Folge würde die Benzinversorgung der Schweiz eingestellt. Nach langem Zögern entscheiden sich Bund und Kantone, die Tankstellen mit Fördergeldern zu unterstützen. Benzin gäbe es aber trotzdem nicht. Wie würden die Menschen in der Schweiz reagieren?

Sie würden natürlich protestieren. Sie würden sagen, die Unterstützung von Tankstellen sei gut und recht, aber es gehe ums Benzin im Land. Um die brennstofftechnische Landesversorgung der Schweiz. Der Bundesrat könne doch die Bevölkerung nicht einfach auf dem Trockenen sitzen lassen!

Ein absurdes Bild, ich weiss. Aber genauso geht die Politik mit der Kultur um. Wenn man den Damen und Herren Politikern zuhört, erhält man den Eindruck, die Unterstützung der Kulturschaffenden in der Schweiz sei eine Art Gnadenakt. Muss man halt auch noch machen. So, wie man dem Bettler, der in der Einkaufsmeile pro forma ein paar schräge Töne auf seiner Melodica bläst, ein paar Rappen in den Hut legt. Man kann danach einfach besser schlafen.

Die kulturelle Landesversorgung

Dabei geht es um etwas ganz anderes: Es geht nicht um die Erhaltung von Theatern, Orchestern und Museen (das auch). Es geht ganz sicher nicht um Almosen für Kreative. Eigentlich geht es um nichts Geringeres als die kulturelle Landesversorgung. Es geht darum, dass die Schweizer Bevölkerung kulturdepriviert ist.

Depriviert – das Wort kommt von deprivare. Das ist Lateinisch und heisst berauben. Wir sind der Kultur beraubt: Keine Musik, kein Theater, kein Tanz, keine Kunst – der Bevölkerung geht der seelische Sprit aus. Das ist genauso dramatisch wie die Ansteckungszahlen. Erstaunlich ist nur, dass das niemand mitbekommt.

Ans tägliche Bulletin des BAG haben wir uns gewöhnt. Eine ganze Reihe von Websites zeigt in farbigen Grafiken die Zahl der Infizierten, der Geimpften, die Sieben-Tages-Inzidenz, den R-Wert und was da der Kennzahlen mehr sind. Aus all den Zahlen lassen sich farbige Grafiken zaubern, die wenigstens den Eindruck erwecken, wir hätten diese Pandemie im Griff. Doch wie sich die Bevölkerung fühlt, das misst niemand.

Ich kenne nur ein gross angelegtes Projekt in diese Richtung: Die Wochenzeitung «Die Zeit» fragt seit März 2017, also seit bald vier Jahren, ihre Leserinnen und Leser täglich: Wie geht es Ihnen heute? Über 4,6 Millionen Mal haben Die Zeit-Online-Benutzer*innen bereits Auskunft über ihre Stimmungslage gegeben und über 1,1 Millionen Mal die Stimmung auch in einem Wort ausgedrückt.

Natürlich ist das keine wissenschaftliche Studie. Trotzdem lässt die Stimmungsmessung der «Zeit» einige interessante Aussagen zu. So ging es den Menschen während des ersten Lockdowns Anfang 2020 überraschenderweise nicht schlechter, sondern eher  besser.

Über lange Zeit sei die Stimmung in Deutschland konstant gewesen – in der Coronakrise wandelte sie sich zum Besseren. Entsprechende Berichte kenne ich auch aus meinem Bekanntenkreis. Die Entschleunigung im letzten März hat vielen Menschen gut getan. Plötzlich war die Agenda leer, man hatte Zeit für die Familie, zog sich in sein Heim zurück und gab sich dem Cocooning hin. Das tat zunächst gut.

Wir kuscheln gerne.

Dann kam der Sommer und die Lockerungen. Es war warm und hell. Auch der Herbst war lange schön. Doch spätestens seit Ende Oktober ist die Party vorbei. Jetzt ist es gefühlt seit Wochen kalt und dunkel, alles ist zu, vor allem die Kultur fehlt vielen Menschen. Musik, Tanzen, Theater. Das Resultat: Anders als im ersten Lockdown, als es häufig hiess: «Die Stimmung ist besser als normalerweise» steht da seit vielen Tagen das Gegenteil. Heute vermeldete die Stimmungsmessung der «Zeit» zum Beispiel: «Die Stimmung ist viel schlechter als normalerweise an einem Freitag.»

Jeder Fünfte ist depressiv

Die Stimmungsmessung der «Zeit» bezieht sich vor allem auf Deutschland, in der Schweiz ist die Lage aber nicht anders. Laut einer wissenschaftlichen Studie der Covid-Taskforce des Bundes ist das «Stressniveau im Vergleich zur ersten Erhebung während des Lockdowns im April 2020 deutlich gestiegen».
 Während der Anteil der Befragten mit schwerer depressiver Symptomatik vor der Pandemie bei 3 % lag, stieg er im November 2020 auf 18 % an.

Das Risiko für schwere depressive Symptome war altersabhängig: Die 14- bis 24-Jährigen wiesen das höchste Risiko auf. Das schlägt sich mittlerweile in den psychiatrischen Kliniken nieder. Alain di Gallo, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Basel, erklärte gegenüber dem Regionaljournal Basel diese Woche, dass stationäre Einrichtungen in der Region Basel zum Teil doppelt belegt seien. Die Wartelisten für ambulante Behandlungen dauern bis in den Sommer.


«Ein guter Arzt kümmert sich auch um die Nebenwirkungen einer Behandlung.»

Mich erstaunt das nicht. Erstaunlich ist nur, dass das kaum Schlagzeilen macht, dass all die Medien, die jede Infektion und jede Impfung akribisch nachtragen, sich um die psychische Gesundheit nicht kümmern.

Verstehen Sie mich recht: Ich möchte nicht das eine gegen das andere ausspielen. Es geht mir nicht darum, Schutzmassnahmen abzuschaffen, weil sie den Menschen aufs Gemüt schlagen. Aber es geht nicht, dass wir die Augen davor schliessen, dass sie genau das tun. Ein guter Arzt kümmert sich auch um die Nebenwirkungen einer Behandlung. Und genau das ist die depressive Stimmung der Bevölkerung.

Kultur ist die Hefe der Gesellschaft

Ein wichtiger Grund dafür, dass uns die Massnahmen so aufs Gemüt schlagen, ist das Fehlen jeglicher Kultur. Ich habe an dieser Stelle immer wieder darauf hingewiesen, dass die Kultur nicht die verzichtbare Kirsche auf der Torte ist, sondern die Hefe in der Gesellschaft, die den Teig erst zum Aufgehen bringt.

Jetzt geht es mir darum, dass wir den Blick drehen: Es geht nicht um Almosen für Kulturschaffende. Es geht darum, dass der Staat der Versorgung des Landes mit Kultur einen Riegel geschoben hat. Wir brauchen Perspektiven für eine «Rekultivierung» des Landes. Der Staat soll die Kulturschaffenden nicht mit einer mitleidigen Unterstützungen abspeisen, sondern mit den Kulturschaffenden gemeinsam überlegen, wie wir die kulturelle Unterversorgung des Landes beheben können. Wie wir nach dem Lockdown nachholen können, was wir versäumt haben, und, im besten Fall, wie wir jetzt sofort die kulturelle Deprivation lindern können.

Noch einmal: Das ist kein Mitleidsprogramm für Kulturschaffende. Es ist ein Rettungsprogramm für unsere Gesellschaft. Ohne Kultur degradieren wir uns selbst auf das Niveau von fleischfressenden Pflanzen. Wir müssen uns, wie weiland Münchhausen, an unserem Schopf aus dem Sumpf der Kulturlosigkeit herausziehen und seelisch retten.

Sofortversorgung und Rekultivierungsprogramm

Was könnte das konkret heissen? Wir brauchen erstens eine ausreichende Sofortversorgung der Bevölkerung mit Kultur und zweitens ein intensives Rekultivierungsprogramm nach Ende des Lockdowns.

Die Sofortversorgung müsste sich auf coronaverträgliche Kulturangebote beschränken. Ich sehe da drei sofort umsetzbare Möglichkeiten:

  1. Die SRG stellt ihre Kultursender sofort kompromisslos in den Dienst der Kultur. Kein Abbau mehr im Tessin und in der Westschweiz, kein Streamlining in der Deutschschweiz: Die SRG baut mit ihren Kultursendern eine Funkbrücke zur Bevölkerung und verbreitet Kultur im grossen Stil. Das ist einfach umsetzbar und für alle sofort verfügbar.
  2. Jede*r Schweizer Bürger*in ab dem ersten Lesealter erhält einen Buch-Voucher, einlösbar für Schweizer Literatur in einer Buchhandlung Ihrer Wahl. Das Geld dafür wird dem Zivilschutz-Etat entnommen – schliesslich geht es um den seelischen Schutz der Bevölkerung.
  3. Städte und Gemeinden sorgen mit Musiker*innen-Teams für die Versorgung der Quartiere mit Strassenmusik: Jeden Abend um 19 Uhr findet in jedem Quartier der Schweiz mindestens ein Abendkonzert statt. Zuhören können alle, die in der Lage sind, ihr Fenster zu öffnen. Wer will, darf auf der Strasse mittanzen – mit Maske und Abstand natürlich.

Grossflächige Versorgung mit Kultur

Ist der Lockdown einmal beendet, erhalten die Kulturschaffenden der Schweiz den Auftrag, mit einem kulturellen Marshallplan die Schweiz zu rekultivieren. Es geht darum, mit einem konzentrierten Kulturschub die seelisch eingetrocknete Bevölkerung wiederzubeleben. Auch da drei Ideen:

  1. Ein Jahr lang sind Konzerte, Theater, Museen und Clubs gratis für alle. Finanziert wird die Seelen-Tröster-Aktion aus dem Gewinn der Schweizer Krankenkassen.
  2. Alle AHV-zahlenden Bewohner*innen der Schweiz erhalten als Dank für ihre Solidarität mit der Risikobevölkerung einen Voucher für einen Kurs: Sie können zwischen Singen und Tanzen wählen.
  3. Die Versorgung der Städte mit Strassenmusik, Pflastermaler*innen, Gaukler*innen, Clowns und Pantomim*innen ist flächendeckend gewährleistet. Finanziert wird diese Kulturoffensive aus dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds (NAF); der Fonds gewährleistet auf diese Weise die geistige Mobilität der Bevölkerung.

Seelisches Monitoring

Der seelische Gesundheitszustand der Bevölkerung wird künftig genauso akribisch erhoben wie der Ansteckungsgrad. Wenn in einer Region mehr als 10% der Bevölkerung Anzeichen einer depressiven  Verstimmung zeigen, wird in der Region die besondere Lage ausgerufen und kulturelle Unterstützungsangebote sorgen für Aufhellung der Stimmung.

Wird der Depressionsgrenzwert in mehr als der Hälfte der Kantone überschritten, gilt die ausserordentliche Lage. Das Bundesamt für Kultur erhält Zugriff auf das Verteidigungsbudget und sorgt mit kulturellen Mitteln für eine Verbesserung der Lage.

Das alles ist utopisch. Klar. Es gäbe genug aufrechte Politiker*innen, die mit erhobenem Zeigefinger und krachenden Kehllauten verkünden würden, dass wir uns das alles nicht leisten können. Ich glaube, das ist ein Irrtum. Ich glaube, wir können es uns auf Dauer nicht leisten, dass die Bevölkerung traurig und depressiv ist. Wir können auf Dauer nicht ohne Kultur leben. Nicht die Kultur braucht unsere Unterstützung, wir brauchen die Unterstützung der Kultur. Und zwar jetzt.

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Matthias Zehnder ist Bajour-Mitgründer und -präsident. Seinen Wochenkommentar veröffentlicht er auch auf seiner Website matthiaszehnder.ch. Hier kannst du ihn abonnieren und hier unterstützen.

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Matthias Zehnder

Bei Bajour als: Mitgründer und Präsident

Hier weil: für Medien dasselbe gilt wie für Gemüse: besser frisch aus der Region. Und dafür setze ich mich ein.

Sonst noch bei: Vorher Chefredaktor bz Basel, sonst insgesamt selbstständig mit eigener Firma als Publizist, Blogger, Medienwissenschaftler und Berater.

Kann: Dinge wie Denken, Schreiben, Vorlesungen halten sind hier wohl weniger gefragt. Aber mein Risotto kriegt jeweils gute Noten. Wäre das was?

Kann nicht: alles übrige. Vor allem mit Süssspeisen tue ich mich schwer. In jeder Beziehung.

Liebt an Basel: die Grenze und alles, was darüber hinausgeht.

Vermisst in Basel: das Meer

Interessensbindungen: abgesehen von den Kunden meiner Firma medial engagiert für den Service public bei der SRG Region Basel und kulturell engagiert im Vorstand der Freunde des Kunstmuseums und im Vorstand der Kult-Amici des Kultkinos.

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