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«In Sarajevo hast du auch nicht gewusst, dass der Krieg anfängt»

Diese Woche jährt sich die Belagerung von Sarajewo zum 30. Mal. Die Chefredaktorin von baba news Albina Muhtari ist in Sarajevo geboren und befindet sich zu Beginn der Belagerung mit ihrer Familie in der Stadt. Der Versuch einer persönlichen Einordnung und warum es wichtig ist, bei Nationalismus genau hinzuschauen.

04/06/22, 03:04 PM

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Dieser Artikel ist am 5. April 2022 zuerst auf baba news erschienen. baba news gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

Smoke billows over the building of Sarajevo's main newspaper "Oslobodenje" on Monday, August 24, 1992 after several mortars hit buildings in the suburbs of the besieged Bosnian capital. A U.N. delegation investigating atrocities in former Yugoslavia was refused entry into a Serb-run camp, and its leader, former Polish Premier Tadeusz Mazowiecki, said on Monday, that his team had been harassed. (AP Photo/Karsten Thielker)

(Foto: AP Photo/Karsten Thielker)

Am 5. April vor 30 Jahren begann die Belagerung von Sarajevo. Es war die längste Belagerung einer Hauptstadt im 20. Jahrhundert und sie dauerte 1’425 Tage. Über 50’000 Menschen wurden verletzt, 11’541 Menschen wurden getötet, darunter 1’601 Kinder.

Ich war damals fünf Jahre alt und kann mich nur an einzelne Szenen erinnern: Meine Mutter, die mit versteinertem Gesicht und einem Fernglas in der Hand verkündet, auf den Bergen und Hügeln um uns herum seien Soldaten zu sehen. Wir müssten in den Keller hinunter.

Bilder eines kleinen dunklen Kellers mit tiefer Decke, wir Kinder, wie wir auf einem meterhohen Stapel aus Feuerholz sitzen, mit dicken Wolldecken ausgelegt, damit wir nicht frieren. Mein Grossvater, der mit einem Gewehr in der Hand schlafend auf einem Stuhl den Eingang bewacht. Das Gefühl der Scham, wenn ich Pipi muss und nur mein Grossvater mich nach draussen hinters Haus begleiten kann.

Dann unendlich langes Warten, welches ich zeitlich nicht einordnen kann. Sind es Tage? Sind es Wochen oder Monate? Zunächst im Keller, dann später auf einem Flughafen, wo mein Vater uns abholen kommt, und wo das Warten so lange dauert, dass meine damals einjährige Schwester in der Flughafenhalle das Laufen erlernt. An Letzteres kann ich mich nicht selbst erinnern. Das weiss ich aus den wenigen Malen, in denen meine Mutter vom Krieg erzählte. Ansonsten wurde zuhause nicht viel darüber gesprochen.

«In Sarajevo hast du doch auch nicht gewusst, dass der Krieg anfängt!»

Was gab es auch schon zu bereden? Schliesslich schafften wir es noch rechtzeitig in einem der letzten Flugzeuge das Land zu verlassen, bevor der Flughafen endgültig von der jugoslawischen Armee eingenommen wurde. Andere harrten jahrelang im belagerten Sarajevo aus oder verliessen via Landweg und nur unter Lebensgefahr das Land.

Frauen wurden auf der Flucht vergewaltigt. Andere landeten in Vernichtungslagern oder wurden erschossen. Uns blieb dies erspart. Wir kamen in die Schweiz, in die Einzimmerwohnung meines Vaters, der schon zuvor in der Schweiz gearbeitet hatte. Die Wohnung war zwar klein, aber wenigstens waren wir zusammen und uns blieb der Aufenthalt in einer Asylunterkunft erspart.

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Das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist ein dumpfes Gefühl von Schwere, wenn ich an den Krieg denke. Etwa wenn mein Vater abends von der Arbeit nach Hause kam und von unseren Kindertrickfilmen zu den Nachrichten zappte, wo meine Eltern mit besorgten Gesichtern die Geschehnisse in Bosnien verfolgten. Oder wenn wir nachts zur Telefonkabine fuhren, weil das Telefonieren nachts günstiger war, und versuchten Verwandte zu erreichen, um zu sehen, ob diese noch lebten. Ein eigenes Telefon hatten wir damals nicht.

Wenn wir jeweils an einer Baustelle vorbeikamen, an der es sehr laut war, erinnere ich mich, dass ich zusammenzuckte und die Geräusche kaum ertragen konnte. Ich fragte dann jeweils meine Mutter, ob denn nun auch hier der Krieg begonnen hätte, und sie meinte peinlich berührt, «nein, natürlich nicht!», und ich sagte: «Aber in Sarajevo hast du doch auch nicht gewusst, dass der Krieg anfängt!» Das hatte sie tatsächlich nicht und auch sonst kaum jemand.

Ich frage nicht, weil ich nicht weiss, was diese schmerzhaften Fragen in mir selbst auslösen könnten.

Darüber hinaus bleiben Lücken. Ich weiss nicht, wie lange wir im Keller ausharrten, und ich bin mir nicht sicher, an welchem Flughafen meine Schwester das Laufen erlernte und über welchen Weg wir schliesslich in die Schweiz kamen. Ich frage nicht, weil ich nicht weiss, was solche Fragen bei meinen Eltern auslösen, weil ich sie nicht damit belasten will und weil sie sich in ihrem Leben schon genug mit dem Krieg auseinandersetzen mussten. Und vielleicht auch, weil ich nicht weiss, was diese schmerzhaften Fragen in mir selbst auslösen könnten.

Und dennoch ist es wichtig, über den Krieg zu sprechen, darüber zu berichten und daran zu erinnern, was Krieg mit Menschen macht, wie er der einen Leben vernichtet und jene der Hinterbliebenen für immer zerstört. Es mag zynisch klingen, dies zu fordern, und gleichzeitig selbst nicht in der Lage zu sein, das Geschehene in der eigenen Familie aufzuarbeiten. Doch genau deshalb sind eine kollektive Aufarbeitung und ein Gedenken wichtig – nicht nur in Bosnien selbst.

Denn in Bosnien brauchen die Menschen keine Gedenktage. Sie werden tagtäglich und auch noch Jahrzehnte nach dem Krieg auf unterschiedlichste Weise an die Geschehnisse erinnert – sei es durch Einschusslöcher in den Fassaden, durch eigene Kriegserfahrungen und die Erinnerungen daran, durch die Traumata geliebte Menschen verloren zu haben, durch die wirtschaftlich prekäre Situation in Bosnien, durch Aussagen von Genozidleugnern oder die Verherrlichung von Kriegsverbrechern.

Sarajevo wurde von der Welt fallengelassen. Bosnien wurde von der Welt fallengelassen. Was es nun braucht, ist ein kollektives Hinschauen, gerade dann, wenn nationalistische und faschistische Kräfte erstarken, damit ein «nie wieder» nicht zur politischen Floskel verkommt.

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