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«Jetzt will man wieder Kinder in Kleinklassen abschieben»

Basler Lehrpersonen möchten wieder Förderklassen für «besonders verhaltensauffällige» Schüler*innen einführen. Primarlehrerin Nadine Bühlmann macht das Sorgen.

01/24/22, 03:00 AM

Aktualisiert 01/24/22, 11:02 AM

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Ein Schultornister steht im Gang mit Kinderzeichnungen am ersten Schultag im Kanton Basel-Stadt vor einem Schulzimmer im Schulhaus Gottfried Keller in Basel

In welcher Schule geht es dem Kind am besten? (Foto: Keystone)

Nadine Bühlmann hat keine Freude. «Jetzt will man wieder Kinder in Kleinklassen abschieben», seufzt sie ins Telefon. 

Bühlmann ist Primarlehrerin im Vogelsangschulhaus im Rosentalquartier. Und sie ist überzeugt: «Alle Kinder profitieren vom integrativen Unterricht.»

Was ist integrative Schule?

Früher wurden Mädchen und Knaben mit Behinderung, einer Lernschwäche oder verhaltensauffällige Kinder in Kleinklassen unterrichtet. Seit zehn Jahren gehen fast alle Kinder in Regelklassen, dafür bekommen Lehrpersonen je nachdem Unterstützung durch Fachpersonen wie zum Beispiel Heilpädagog*innen. Diese Schulform ist unter Basler Lehrer*innen stark umstritten.

Als Beispiel erzählt Nadine Bühlmann von ihrer bisher grössten Herausforderung. In ihrer Klasse war ein syrisches Kind, das im Libanon im Flüchtlingsheim gelebt und auf der Flucht Traumatisches erlebt hatte. In Basel fing das Kind regelmässig mitten im Unterricht an zu schreien. «So etwas habe ich vorher noch nie gehört, es ging durch Mark und Bein.» Bühlmann war «wie gelähmt. Total überfordert».

Ein Plätzchen für das Flüchtlingskind

Schritt für Schritt hat die Lehrerin – gemeinsam mit dem Klassenteam und einer fachlichen Beratung einer Traumapädagogin – mit dem Kind eine Strategie erarbeitet. Es durfte sich im Klassenzimmer einen Ort einrichten mit Sachen, die es gern hat. Einen »Safer Place», sagt Bühlmann. Wenn es schrie, zog es sich zurück und beruhigte sich.

Nadine Bühlmann, Primarlehrerin Vogelsang

Nadine Bühlmann...

... ist Primarlehrerin im Vogelsangschulhaus im Rosentalquartier. Davor war sie im Klybeck und im St. Johann, zwischendurch leitete sie auch eine Schule.

Doch geht es nach einer Gruppe von Basler Lehr- und Fachpersonen, sollen «besonders verhaltensauffällige» Kinder in Zukunft wieder vermehrt in Förderklassen unterrichtet werden. Sie haben am Donnerstag eine Initiative lanciert. Unterstützt werden sie von dem Berufsverband «Freiwillige Schulsynode».

Mühe mit Disziplin

Das Initiativkomitee argumentiert, die Lehrer*innen seien am Anschlag. Es gäbe immer mehr Schüler*innen, die Mühe mit Disziplin und Regeln hätten und die Konfrontation mit den Lehrpersonen suchten, sagte Marianne Schwegler, Vizepräsidentin der Freiwilligen Schulsynode und Heilpädagogin im Hirzbrunnen, dem «SRF-Regionaljournal». «Das bringt Unruhe und stört auch die anderen Kinder.»

Marianne Schwegler, Freiwillige Schulsynode

Marianne Schwegler...

...ist Vizepräsidentin der Freiwilligen Schulsynode und Heilpädagogin im Hirzbrunnen.

Mittlerweile habe es vier bis fünf verhaltensauffällige Kinder pro Klasse. Zwar gebe es stundenweise Unterstützung durch Heilpädagog*innen, aber das reiche nicht. Besonders auffällige Kinder bräuchten eine intensive und konstante Beziehung zu einer Betreuungsperson.

Lehrerin Nadine Bühlmann dagegen findet, diese Beziehung könne man schon im aktuellen System der integrativen Schule aufbauen. «Klar ist es eine Herausforderung.» Aber mit ihrer 20-jährigen Erfahrung sagt sie: «Wenn man als Lehrperson den Willen hat, in der Teamarbeit und der interdisziplinäre Vernetzung Lösungen gemeinsam zu erarbeiten, ist es möglich.» Im Kindergarten würden Kinder seit jeher alle integriert.

Kinder wollen kooperieren

Bühlmann erzählt von einem Kind, das im Kreis den Unterricht störte. Sie erlaubte ihm, seine Lego in den Kreis mitzunehmen, das half: «Es spielte von da an ruhig, bekam aber alles mit.» Nadine Bühlmann erklärt: «Jedes Kind möchte kooperieren. Ich muss als Lehrperson nur einen Weg und eine Sprache finden.» 

Sie macht die Erfahrung, dass die Schüler*innen Verständnis füreinander haben. «Schon kleine Kinder können sich in andere hineinversetzen und akzeptieren, dass verschiedene Kinder Unterschiedliches brauchen und dürfen», ist Bühlmann überzeugt. Kleinklassen würden genau dieses Verständnis verunmöglichen und damit auch die Chancen senken, dass ein Kind später in eine normale Regelklasse gehen kann. 

Aus Sicht von Bühlmann ist klar: Das Problem sind nicht die verhaltensauffälligen Kinder, sondern die Haltung der Lehrpersonen. Es brauche die nötige Bereitschaft und den Willen zur Weiterbildung. Während der unterrichtsfreien Zeit im Sommer habe man gut Zeit dafür.

Richtige Haltung allein nützt nichts

Aus Sicht von Marianne Schwegler von der Freiwilligen Schulsynode mag das in «wenigen Fällen» stimmen. «Aber Lehrpersonen kommen auch an ihre Grenzen, wenn sie die ‹richtige Haltung› haben. Davor darf man die Augen nicht verschliessen», meint die Heilpädagogin.

Hat Nadine Bühlmann vielleicht einfach Glück gehabt und bisher überdurchschnittlich viele «einfache Kinder» in ihren Klassen gehabt?

Sie lacht: «Ich habe in Schulhäusern gearbeitet, die wegen dem hohen Migrationsanteil als Brennpunkte gelten: Im St. Johann und im Klybeck und auch jetzt bin ich noch im Kleinbasel.»

«Viele denken wie ich»

Während Schweglers Sicht präsent ist in der Öffentlichkeit, hört man Lehrer*innen wie Nadine Bühlmann selten. Sie ist aber überzeugt: «Viele Fachpersonen denken wie ich. Aber die Zufriedenen melden sich halt seltener zu Wort und organisieren sich weniger im Berufsverband.» In diesem Artikel will sie auch den Zufriedenen eine Stimme geben.

So gibt es auch innerhalb der Freiwilligen Schulsynode Gegner*innen der Förderinitiative, diese sind aber in der Minderheit. Die Initiative fand an der Delegiertenversammlung 63 Befürworter*innen, 24 Gegner*innen und 18 Enthaltungen, wie es im «FSS Aktuell» vom November 2021 heisst.

Und eine Umfrage des Berufsverbands zeigt: 71 Prozent der Teilnehmenden will wieder Förderklassen. Nur 14 Prozent sehen Weiterbildung als entlastende Massnahme. Laut Schwegler haben knapp 1400 Personen mitgemacht, das entspricht 40 Prozent der Verbandsmitglieder.

Und die Politik? 

2019 reichte Martina Bernasconi (FDP) eine Motion für Kleinklassen ein, Grossrät*innen von links bis rechts haben unterschrieben. Und eine Motion für unterstützende Massnahmen von Franziska Roth (SP) wurde 2020 an den Regierungsrat überwiesen. Die Initiant*innen der Förderinitiative werfen dem zuständigen Regierungsrat, Conradin Cramer (LDP), vor, er gehe zu wenig auf ihre Forderungen ein.

Dieser weist die Kritik zurück. Er nehme die Forderungen ernst, sagt der Erziehungsdirektor im «SRF-Regionaljournal». Die integrative Schule sei eine «erfolgreiche Idee, ein Jahrhundertprojekt», das man nicht einfach aufgeben wolle. Aber das System müsse sich verbessern, er wolle der Initiative zuvorkommen.

Am Ende des Tages möchten Lehrer*innen und Heilpädagog*innen wie Nadine Bühlmann und Marianne Schwegler das Beste für die Kinder, die es besonders schwer haben in der Schule. Aber über das «Wie» sind sie sich uneinig. 

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