Die Basler Kleinklassen werden verleumdet

Unser neuer Kolumnist Roland Stark findet, die Kleinklassen genossen früher dank einer engagierten und heilpädagogisch bestens qualifizierten Lehrerschaft höchstes Ansehen. Eine Ehrenrettung.

Kinder Schule

«Niemand irrt für sich allein», schrieb der römische Philosoph Seneca vor über 2000 Jahren. «Er verbreitet seinen Unsinn auch in seiner Umgebung.»

 

Die Aktualität dieses Zitats lässt sich mit einigen Aussagen aus der bildungspolitischen Debatte eindrucksvoll belegen. Im Konsultationsbericht des Basler Erziehungsdepartements zur Verbesserung der integrativen Volksschule steht: «Ein zurück zum früheren System der Kleinklassen wird als nicht zielführend beurteilt. Nicht nur ist der Lernerfolg von Kindern und Jugendlichen in solchen Settings kleiner, auch Stigmatisierung und Diskriminierung der Betroffenen gehören zu den nachgewiesenen Nachteilen.» In einem Beitrag von 10 vor 10 äussert sich Regierungsrat Conradin Cramer (LDP, Basel-Stadt) im gleichen Sinne: Eine grosse Zahl von Schülerinnen und Schülern sei damals auf dem «Abstellgleis» gelandet, «versorgt» worden in Sonderklassen und «ohne Anschluss an die Berufswelt». Und für die Basler SP-Grossrätin Franziska Roth wäre die Rückkehr zu den Kleinklassen «ein riesiger Rückschritt».

Roland Stark
Zur Person

Roland Stark schreibt für Bajour neu einmal im Monat Kolumnen - unter dem Titel: Unvermummt. Das kommt daher, dass Stark dem «Verein für eine deutliche Aussprache» angehört, der im harmoniebedürftigen Basel kaum Mitglieder hat. Stark wurde 1951 in Appenzell geboren, an der Universität Basel studierte er später Heilpädagogik und arbeitete 42 Jahre auf seinem Beruf. 1968 trat er in die St.Galler SP ein, 1981 bis 1990 war er Präsident der SP Basel-Stadt, und von 1992 bis 1997 deren Fraktionspräsident, 2000/2001 wurde er Verfassungsratspräsident und schliesslich 2008/2009 Grossratspräsident. Stark ist mit der Journalistin Claudia Kocher verheiratet und hat zwei Töchter (15 und 17). Was Stark besornders gerne mag: Lesen und Schreiben. Wandern. Gute Nahrung, fest und flüssig. SC Freiburg.

Diese Behauptungen haben einen gemeinsamen Nenner: Sie stimmen schlicht und einfach nicht. Nicht nur ignorieren sie belegbare Fakten, sie beleidigen auch sämtliche Protagonistinnen und Protanogisten der damaligen Kleinklassen: Die Schülerinnen und Schüler, die Eltern, die Lehrerinnen und Lehrer und nicht zuletzt auch die pädagogisch und politisch Verantwortlichen. Als ich vor 50 Jahren meine Tätigkeit am Kleinbasler Insel-Schulhaus begann, amtierten als Kleinklassen-Rektor SP-Grossrat und VPOD-Gewerkschafter Felix Mattmüller, als Erziehungsdirektor der ehemalige Basler Waisenvater Arnold Schneider (FDP) und als Schulinspektionspräsident der spätere Regierungsrat Peter Facklam (LDP). Alle haben offenbar die schweren Schädigungen an den ihnen anvertrauten Zöglingen übersehen.

Die Behauptungen beleidigen sämtliche Protagonistinnen und Protanogisten der damaligen Kleinklassen

von Roland Stark, ehemaliger Präsident der SP Basel-Stadt

Die Erinnerungslücken der Bewohnerinnen und Bewohner des Bildungs-Elfenbeinturms können leicht geschlossen werden. Weit über unsere Kantons- und Landesgrenzen hinaus hatten die Basler Kleinklassen einen hervorragenden Ruf. Das von Felix Mattmüller begründete und weiterentwickelte Modell der adäquaten Unterstützung und Förderung von behinderten und schulauffälligen Kindern war ein bewährter Bestandteil des baselstädtischen Bildungsangebotes. Die Kleinklassen boten schwierigen, lerngestörten, sozial und oft auch sprachlich sowie kulturell noch nicht integrierten Kindern die Möglichkeit einer besonders geförderten Schulentwicklung in einem ruhigen, stabilen und vertrauten Rahmen. Die Schule genoss dank einer engagierten und heilpädagogisch bestens qualifizierten Lehrerschaft höchstes Ansehen. Unzählige Interessierte aus ganz Europa pilgerten nach Basel. Die Schule war, lange bevor der Begriff in Mode kam, ein in der Praxis erprobtes erfolgreiches «Setting» integrativer Förderung.

Es wäre wünschenswert, wenn die Bildungsbürokratie wieder näher an die schulische Realität heranrücken würde. Ohne ideologische Scheuklappen.

von Roland Stark, ehemaliger Präsident der SP Basel-Stadt

Die Zahlen (Schuljahr 1998/1999) sind eindrücklich: 70 Klassen und rund 150 Schülerinnen in der Ambulanten Heilpädagogik. Die Einführungsklassen (1. Und 2. Klasse) umfassten 16, die Primarschule 17, die Orientierungsschule (OS) 19 und die Weiterbildungsschule (WBS) 14 Klassen. Dazu kamen die Spezialangebote - Sunnegarte, IV-Grenzbereichsklassen und das Pädagogische Zwischenjahr - mit insgesamt 4 Klassen. Und entscheidend für den Erfolg: Alle diese Kleinklassen waren einem eigenständigen, fachkundigen Rektorat unterstellt. Ironie der Geschichte: Der Sitz dieses Rektorats befand sich im gleichen Gebäude wie das SP- und das VPOD-Sekretariat. Eine Tatsache, die dem bildungspolitischen Sachverstand beider Organisationen sehr förderlich war.

Als Reaktion auf ein Telebasel-Interview zum Thema Integrative Schule hat mir ein ehemaliger Schüler geschrieben: «Für mich war die Zeit im Niederholz-Schulhaus etwas vom besten und gab mir die schulische Grundlage und vor allem das Selbstvertrauen, für das, was ich heute mache. Selber habe ich nicht nur eine 4-jährige Lehrstelle gefunden und absolviert und nach einigen Jahren wagte ich mich noch an eine Zweitausbildung und bin seit über 20 Jahren erfolgreich selbständig und habe aktuell zwei Firmen.» Soviel zum «Abstellgleis».

Es wäre wünschenswert, wenn die Bildungsbürokratie wieder näher an die schulische Realität heranrücken würde. Ohne ideologische Scheuklappen.

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