«Die integrative Schule funktioniert»

Integrative Schule, Biozentrum, Joggelihalle, Kunschti Margarethen: Baustelle über Baustelle bei Conradin Cramer (LDP). Perlt Kritik an ihm ab? Ein maximal kritisches Interview mit dem Erziehungsdirektor, über seine Politik und seine Instagram-Posts in den schönsten Farben.

Grosser Rat BS: Stimmungsbilder, 16.3.22
Nicht viel bringt Conradin Cramer aus der Ruhe. (Bild: Kostas Maros)

​​Conradin Cramer: Frau Fopp, können Sie mir erklären, wie ein Interview bei Ihnen abläuft? Ich habe die wildesten Gerüchte gehört. 

Andrea Fopp: Wie ein ganz normales Interview. Wir reden, ich nehme das Gespräch auf, dann höre ich es nochmals, transkribiere und redigiere es, beispielsweise, wenn etwas unverständlich ist oder wir uns wiederholen. Dabei versuche ich, so nah wie möglich am gesprochenen Wort zu bleiben, dann sind Sie und ich mehr herausgefordert, das ist interessanter. Wenn es fertig ist, schicke ich es Ihnen, Sie lesen das ganze Interview gegen und melden zurück, ob Sie etwas geändert haben möchten. Wenn Sie jetzt zum Beispiel beim Lesen merken, Sie haben gesagt, etwas kostet 50 Millionen Franken, dabei sind es 64, dann bin ich froh, wenn Sie das ändern, denn ich möchte keine Fehler im Text. Wenn Sie dagegen ganze Abschnitte streichen möchten, weil Sie finden, dass Sie kommunikativ nicht so gut waren, dann müssen wir verhandeln. Das ist das ganz normale Vorgehen bei Politinterviews. Jedes Interview, das ich je für Bajour gemacht habe, wurde von der interviewten Person gegengelesen und abgesegnet.  Wenn Sie möchten, können Sie das Interview auch aufnehmen, dann können Sie beim Gegenlesen mit dem Originalgespräch vergleichen.

Nein, nein, ein Grundvertrauen muss sein.

Conradin Cramer
Zur Person

Conradin Cramer ist seit 2017 Vorsteher des Basler Erziehungsdepartements. Vorher arbeitete der LDP-Politiker als Advokat und Notar in der Kanzlei Vischer. Er macht sich viele Gedanken über politische Karriereplanung und Aussenwirkung, wie in seinem Ratgeber «In die Politik gehen» (NZZ Libro) nachzulesen ist.

Fangen wir an. Sie haben so viele Baustellen in Ihrem Departement, dass ich gar nicht weiss, wo anfangen. Welches ist das dringendste Problem, das Sie lösen müssen? 

Wir haben immer grosse Herausforderungen im Erziehungsdepartement, denn es ist das grösste Departement des Kantons. Was mich momentan am meisten umtreibt, ist aber tatsächlich die integrative Schule. 

Können Sie allen Nichteltern kurz erklären, was integrative Schule ist?

Selbstverständlich. Integrative Schule bedeutet, dass man möglichst alle Schülerinnen und Schüler in einer Regelklasse unterrichtet. Auch die, die vielleicht eine körperliche Behinderung haben. Auch die, die eine kognitive Beeinträchtigung haben. Wenn das nicht möglich ist, gibt es auch bei uns in der integrativen Schule separative Angebote. Zurzeit sind etwa drei Prozent der Schüler*innen in separativen Angeboten.

Und warum sind Sie damit so herausgefordert?

Das System kommt an Grenzen. Weil wir immer mehr Schülerinnen und Schüler haben, die besonderen Förderbedarf haben, weil sie beispielsweise Diagnosen haben oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen.

Verhaltensauffällig bedeutet, dass die Kinder nicht zwingend eine psychische oder körperliche Krankheit, aber beispielsweise Mühe mit Disziplin haben und den Unterricht stören. 

Den Anstieg an Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten stellt man in der ganzen Schweiz fest. Das führt dazu, dass Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr so unterrichten können, wie sie möchten oder sollten und dass Klassenstrukturen nicht mehr funktionieren. Daher müssen wir jetzt handeln und haben ein Massnahmenpaket ausgearbeitet.

«Die Aufgabe der Regierung ist es, auf eine komplexe Frage eine differenzierte Antwort zu geben und die ist nun halt mal nicht schwarzweiss.»
Conradin Cramer zum Vorwurf, er weiche der harten Diskussion um Förderklassen aus.

Was sind die wichtigsten Punkte in diesem Massnahmenpaket?

Das eine sind sogenannte Lerninseln. Eine Möglichkeit, verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler, die den Unterricht stören, unkompliziert, temporär aus dem Klassenverband rauszunehmen und ihnen eine spezielle Betreuung zu gewähren. Diese Lerninsel wäre ein Ort im Schulhaus. Es geht also nicht um eine Separation, bei der man sagt, du gehst jetzt für immer in eine Sonderklasse.

Genau das ist es aber doch, was die Mehrheit der Lehrpersonen möchte. Sie haben ja eine Initiative der Freiwilligen Schulsynode, der Lehrer*innengewerkschaft, auf dem Tisch. Sie fordert die Wiedereinführung von permanenten, separaten Förderklassen. Nicht nur für Kinder mit Diagnosen, sondern auch für Kinder, die, salopp gesagt, blöd tun.

Moment, ich habe erst eine Massnahme vorgestellt. Genau weil die Lehrer*innen Förderklassen fordern, haben wir noch eine weitere Massnahme vorgeschlagen: Fördergruppen und Förderklassen.

Erzählen Sie.

Dort geht es vor allem um Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten haben, dem Unterricht zu folgen, oft aus kognitiven Gründen. Dafür wollen wir am Standort Fördermöglichkeiten haben. Entweder Fördergruppen oder Förderklassen.

Was ist der Unterschied?

Förderklassen sind eigene Klassen. Fördergruppen wären Gefässe, wo die Schülerinnen und Schüler nur in einzelnen Fächern in dieser Gruppe wären, beispielsweise in Mathematik. Sport oder andere Fächer haben sie dann aber wieder in der Regelklasse.

Und die Politik entscheidet, was besser ist, oder die Pädagogik?

Bevor das Ganze in den Grossen Rat kommt, können sich nun die Lehrpersonen äussern, was sie besser finden. Und nachher entscheidet der Regierungsrat, mit welchem Vorschlag er in den Grossen Rat geht. Unser Ziel im Erziehungsdepartement ist: So viel Separation wie nötig, aber auch so viel Integration wie möglich. Wenn es sich vermeiden lässt, wollen wir Schülerinnen und Schüler nicht in einem Sonderzug separieren.

Die Initiative der Lehrer*innengewerkschaft möchte aber einen solchen Sonderzug. Nehmen Sie bitte Stellung: Wenn die Lehrpersonen in der Konsultation nun sagen, temporäre Separierung wie Lerninseln und Fördergruppen sind uns zu wenig, wir möchten lieber Förderklassen, nicht nur für Kinder mit Beeinträchtigungen, sondern auch für solche, die verhaltensauffällig sind: Schreiben Sie diese dann in den Regierungsvorschlag?

Ich glaube nicht, dass wir zurückkehren können zum System von vor 20 Jahren. Ich bevorzuge Fördergruppen, aber klar, ich gab auch die Variante der Förderklassen in die Konsultation, um eine Rückmeldung zu beiden Varianten zu bekommen

Ich frage nochmals. Die Initiative hat eine einzige, klare Forderung: Förderklassen. Sie aber stellen einen Strauss von Massnahmen vor. Weichen Sie so der harten Diskussion aus? Es ist auch hier in diesem Interview wahnsinnig schwierig, Sie auf ein Ja oder Nein zu den Förderklassen zu behaften.

Ja, es ist auch kompliziert. Die Aufgabe der Regierung ist es, auf eine komplexe Frage eine differenzierte Antwort zu geben und die ist nun halt mal nicht schwarzweiss. Wenn wir Förderklassen wieder einführen, wird nicht einfach alles wieder gut. Stattdessen braucht es verschiedene Massnahmen für verschiedene Bedürfnisse. Ich glaube übrigens, dass Lehrerinnen und Lehrer, die sich jetzt mit diesen Vorschlägen auseinandersetzen, es so sehen.

Wirklich? Von Seiten des Initiativkomitees für Förderklassen gab es in den letzten Wochen Kritik, die in etwa lautete: Warum macht Herr Regierungsrat Cramer jetzt nicht einfach wieder Förderklassen, wie mehrfach gefordert, wieso probiert er jetzt wieder etwas anderes?

Ich glaube, das hat ein Mitglied des Komitees gegenüber Bajour gesagt. Das Komitee besteht aus mehreren Personen, und ich könnte mir vorstellen, dass auch da die Meinungen auseinander gehen. Um die integrative Schule zu stärken, braucht es einen Strauss von Massnahmen, man kann die Diskussion nicht isolieren auf die Frage, Förderklassen oder nicht. Es gibt übrigens noch eine vierte und fünfte Massnahme, über die wir noch gar nicht diskutiert haben.

Nämlich?

Dass wir die verschiedenen Fördermöglichkeiten, die wir haben, mehr in die Hand der Schule geben, dass die Wege kürzer werden und es nicht so lang geht, bis ein Kind unterstützt wird. Und dass die Kindergärten mehr Mittel zur Förderung bekommen.

«Wir wissen aus der Vergangenheit, was so eine Separierung bedeuten kann. Denn der Weg zurück ist schwierig, den gibt es auch nicht allzu oft.»
Conradin Cramer über die Nachteile von Kleinklassen.

Seit die integrative Schule eingeführt wurde, gab es mindestens acht politische Vorstösse, welche in irgendeiner Form die Wiedereinführung von Einführungs- oder Kleinklassen fordern. Einer geht zurück bis ins 2013. Und jetzt haben wir das Jahr 2023 und Sie zögern immer noch. Warum?

Weil es auf ein komplexes Problem nicht eine einfache Lösung gibt. Wir brauchen differenzierte Antworten, die ins bestehende System passen. Ich möchte nicht den Schülerinnen und Schülern eine neue, radikale Schulreform zumuten, wir haben gesehen, was das auslösen kann. Ich finde klar, wir müssen das bestehende System stärken.

Haben Sie das Gefühl, die integrative Schule funktioniert?

Auf jeden Fall. Aber damit sie wieder besser funktioniert, müssen wir jetzt handeln. Auch die Mehrheit der Lehrpersonen in unserem Kanton steht hinter dem Prinzip der integrativen Schule. Sie will nicht zurück zu einem System mit einem grossen Anteil an Separation und Klassengesellschaft.

Sind Sie sicher? Die integrative Schule ist nicht nur in Basel-Stadt in der Kritik, sondern auch im Aargau, in Bern oder Zürich. Die NZZ liess eine Umfrage machen. Resultat: Die Mehrheit der Zürcher Bevölkerung will vom Prinzip der integrativen Schule hin zu Kleinklassen.

Die Forschung sagt sehr eindeutig, dass Schülerinnen und Schüler von einer integrativen Schule profitieren können.

Vor allem Schüler*innen, die Mühe mit der Schule haben.

Es sind vor allem Schülerinnen und Schüler, die in einem früheren System separiert und aufs Abstellgleis gestellt worden sind, die von einem integrativen System profitieren. Man weiss aus der Forschung, dass ein Klassenverband nicht leidet, wenn einzelne Schülerinnen und Schüler in einer Klasse ein bisschen anders ticken.

Aber bei zu vielen kippt es.

Es gibt einen Schwelleneffekt, ja, und es ist an gewissen Orten in Basel-Stadt auch schon gekippt. Das darf nicht sein. Es muss ein normaler Unterricht in einer Regelklasse möglich sein. Und das wollen wir mit unseren Massnahmen. Aber man muss da sehr aufpassen, dass man nicht überreagiert. Wir wissen aus der Vergangenheit, was so eine Separierung bedeuten kann. Denn der Weg zurück ist schwierig, den gibt es auch nicht allzu oft.

Gibt es Studien dazu?

Ja, es gibt zu allem Studien.

Conradin Cramer bei der Schulfasnacht im Isaak Iselin. (Quelle: Instagram)

Okay, reden wir darüber. Wie war es denn früher mit der Separation. Meinen Freund*innen, die in Einführungsklassen gingen, geht es heute gut. Aber das ist natürlich keine relevante Datenlage.

Wir reden hier nicht über die Eingangsstufe, wo wir übrigens auch in Basel-Stadt Einführungsklassen haben. Die Idee, dass man Kinder, die mit der Primarschule anfangen, unterschiedlich fördert, weil sie unterschiedlich weit sind, ist völlig anerkannt. Wenn wir aber von Separation reden, dann geht es darum, beispielsweise einen Sekschüler, der den Unterricht stört, dauerhaft in einem Sondersetting unterzubringen. Für ihn ist es dann enorm schwierig, in die Regelklasse zurückzukommen.

Und was macht das mit dem Jugendlichen? Warum ist das schlimm?

Die Forschung zeigt, dass sich ein Schüler im Umfeld der Regelklasse besser entwickelt, als wenn man ihm sagt: Du bist ein Sonderfall und deshalb bist du in einem Sondersetting. Bei schweren Behinderungen braucht es das. Aber bei Verhaltensauffälligkeiten ist es nicht so schwarzweiss. Und da haben wir schon die Verpflichtung als Gesellschaft, zu diesen Kindern besonders gut zu sein und sie nach Möglichkeit in der Regelschule zu behalten.

Wenn Sondersettings für Kinder so schädlich sind, wie Sie sagen, dann würden doch die Pädagog*innen, die jeden Tag mit Kindern arbeiten, solche nicht fordern? Auch diese wollen das Beste für die Schüler*innen, wie die Eltern und Sie als Politiker auch.

Ich bin froh, dass Sie das sagen. Alle wollen das Beste für die Schülerinnen und Schüler. Die Lehrpersonen sagen mit Recht, im Moment haben wir eine Überforderung mit der Integration. Daher die Massnahmen.

Die Mehrheit der Lehrpersonen sagt nicht, es braucht Massnahmen. Sie sagt konkret: Es braucht Förderklassen. Aber wir drehen uns im Kreis, Herr Cramer. Wie viele Förderklassen schaffen Sie allenfalls? Eine pro Schulhaus? Nach Bedarf?

Grundsätzlich sollte man Massnahmen nach Bedarf einführen. Es darf nicht eine beschränkte Anzahl Plätze geben und dann füllt man die auf. Für die Kostenkalkulationen gehen wir derzeit von etwa 500 Schüler*innen in etwa 45 Förderklassen aus.

«Ich wehre mich immer dagegen, dass man Basler Schulen schlecht redet.»
Conradin Cramer verteidigt das schlechte Abschneiden im kantonalen Vergleich.

Glauben Sie, die Leistung der Basler Schüler*innen wird besser mit Ihren Massnahmen? Die Basler Primar- und Sekschulen haben in den letzten kantonalen Vergleichen ja sehr schlecht abgeschnitten.

Ich wehre mich immer dagegen, dass man Basler Schulen schlecht redet. Es kommt immer darauf an, was die Vergleichsbasis ist. Wenn man uns mit einem Kanton wie Appenzell vergleicht, ist es sehr schwierig.

Mit wem und was sollte man denn die Basler Schüler*innen vergleichen?

Der einzige zulässige Vergleich wären andere Städte, weil wir ein Stadtkanton sind. Und diese Vergleichsbasis gibt es leider nicht, ich würde mir das wünschen.

Warum sind die Leistungen im städtischen Umfeld schlechter? 

Weil der Anteil der Kinder mit nicht Deutsch als Muttersprache deutlich höher ist in Basel-Stadt. Und auch der Anteil an Kindern, die aus einer problematischen Familienkonstellation kommen und beispielsweise mit einer Suchtsituation bei den Eltern oder prekären finanziellen Verhältnissen konfrontiert sind.

Ist das nicht einfach eine Ausrede? Wenn es keine belastbaren Daten gibt, kann Basel-Stadt sich um die Verantwortung foutieren und sagen, der Migrationshintergrund ist schuld. 

Das ist tatsächlich die Gefahr. Darum finde ich andere Kennzahlen wichtiger. Nämlich solche, die absolut sind. Eine davon ist die Abschlussuquote Sek II, diese definiert der Bund. Und das ist der Anteil der 25-Jährigen, die eine Berufslehre oder Matur abgeschlossen haben. Diese ist in Basel-Stadt deutlich tiefer als im Rest der Schweiz. 

Bei 85 Prozent, das heisst, 15 Prozent der Schüler*innen bleiben ohne Lehre oder Matura. 

Ja. In der Schweiz beträgt die Abschlussquote 90 Prozent, das Ziel des Bundes wären 95 Prozent. Dort müssen wir ansetzen: Wie schaffen wir es, dass diese Jugendlichen eine Lehrstelle bekommen? 

Und wie schaffen Sie es?

Leider haben wir keinen Zauberstab. Wir schaffen das, indem wir uns noch stärker darauf konzentrieren, ihnen eine Anschlusslösung zu vermitteln. Auch haben wir sogar im Gymnasium die Situation, dass fünf Prozent der Schüler*innen die Schule nicht abschliesst. Das sind Leute, die sich bewusst gegen eine Berufslehre entscheiden, es dann dort aber nicht schaffen und die Schulen verlassen und dann verschwinden, jobben, sich irgendwie durchschlagen. Wenn diese nicht den Umweg über das Gymi oder die FMS, sondern direkt eine Berufslehre gemacht hätten, könnten sie möglicherweise erfolgreich abschliessen. 

Das hat auch mit der hohen Gymiquote zu tun, oder?

Das hat nichts mit der Gymiquote zu tun.

Sondern?

Die Leute, die ins Gymnasium gehen, sollen dann auch die Matur abschliessen können. 

Aber Sie sagen doch immer, dass wir im städtischen Umfeld nicht nur viele bildungsferne Kinder haben, sondern auch solche aus dem akademischen Milieu, deren Eltern sie vielleicht ins Gymnasium pushen, obwohl sie die Fähigkeiten vielleicht nicht hätten.

Das ist richtig.

8. Februar 2023 | foto-werk.ch
Conradin Cramer im Grossen Rat. (Bild: Michael Fritschi)

Ist es als Liberaler eigentlich eine undankbare Aufgabe, Bildungsdirektor zu sein? Sie bekommen ständig Kritik von der Handelskammer, vom Gewerbeverband und von der FDP, zum Teil auch von der Mitte. Also sehr viel Kritik von Ihresgleichen.

Nein. Was gibt es Spannenderes, als ein Bildungssystem mitzugestalten? Dass es Kritik von allen Seiten gibt, zeigt, wie komplex diese Sache ist. Es gibt Probleme, die wir angehen müssen. Aber im grossen Ganzen ist das schweizerische Bildungssystem mit der Berufsbildung eine liberale Erfolgsgeschichte. Basel ist Teil davon.

Sie sprechen immer von einzelnen Massnahmen. Haben Sie auch eine Vision?

Natürlich. Nicht nur ich, wir alle, die in der Schule arbeiten, haben eine Vision: Jeden Tag die beste Ausbildung für jedes Kind in unserem Kanton zu bieten. Das langt als Vision.

Das langt?

Oh ja. 

Das wäre, wie wenn meine Chefinnen sagen würden, unsere Vision ist es, den besten Journalismus zu machen.

Hoffentlich ist das die Vision von Bajour.

Das ist zu unkonkret. Man muss doch eine Linie haben und sich überlegen, was bedeutet eine gute Bildung für jedes Kind überhaupt?

Ja, selbstverständlich. Hinter der Vision kommt das Konkrete. Aber wir müssen uns klar sein: Die grossen Utopien von grossen Bildungsreformen, die wir auch in unserem Kanton erlebt haben, als man Orientierungsschule und Weiterbildungsschule geschaffen hat, haben dazu geführt, dass man das recht schnell wieder rückgängig gemacht hat. Und was das bedeutet, so eine Systemumstellung, was das an Ressourcen und Energie von Lehrpersonen verschlingt, was es für die Schülerinnen und Schüler bedeutet, die in ihrer laufenden Schulkarriere einen Systemwechsel haben. Das verursacht Schaden.

«Politisch bin ich immer schuld, die Verantwortung übernehme ich auch gerne. Aber die Departemente kontrollieren sich gegenseitig und das ist, glaube ich, gesund.»
Conradin Cramer über die Schuldfrage bei Fehlplanungen.

Sie wären also nicht lieber Wirtschaftsdirektor?

Jedes Departement ist toll. Aber ich bin sehr gerne im grössten Departement, wo man so viele kantonale Kompetenzen hat. In der Bildung ist es vom Gestalterischen her am spannendsten.

Das müssen Sie jetzt sagen.

Nein, ich muss das gar nicht sagen.

Was ist denn Ihre Vision für die Joggelihalle?

Das ist jetzt ein steiler Wechsel.

Zugegeben ein gar nicht so eleganter Übergang.

Die Vision ist, dass wir es wieder mehr schaffen, die Joggelihalle zu beleben, dass mehr stattfinden kann für die Bevölkerung.

Das ist nicht gelungen. Dafür hat sie viel gekostet. Erst 2018 haben Sie die Joggelihalle für über 130 Millionen Franken saniert. Und jetzt hat die Regierung erneut den Antrag für weitere 7,5 Millionen Franken gestellt, um nochmals zu sanieren. Beispielsweise, weil das Dach zu schwach ist, um grosse Lautsprecher anzuhängen. Wie kann es sein, dass Sie grosse Acts holen wollen, aber nicht überlegen, was eine Céline Dion an Lautsprechern an der Decke braucht, um aufzutreten?

Ich habe mir das so erklären lassen: Als man diese Hallensanierung geplant hat, was auch schon über zehn Jahre her ist, wurde noch mit weniger Gewicht rumgereist, weil die Bands noch weniger aufgehängt haben.

Also handelt es sich nicht um eine falsche Bestellung, wie etwa auch beim Biozentrum, wo die Behörden an den Bedürfnissen der heutigen Forschung vorbeigeplant haben? 

Nein, das würde ich nicht sagen. Ich bin gar nicht sicher, ob es günstiger gekommen wäre, wenn man das Dach von Anfang an stärker konstruiert hätte. Man wird übrigens auch weitere Sachen bemerken. Diese Halle ist ein derart grosser Komplex. Da gibt es die ganze Zeit etwas, das man anpassen muss und dementsprechend Kosten. Das wird nicht aufhören nach der Sanierung.

Conradin Cramer auf dem Weg zu einem 100. Geburtstag. (Quelle: Instagram)

Funktioniert denn das Controlling in Ihrem Departement?

Das Baucontrolling?

Nein. Sie sind ja nicht derjenige, der die Bauplanung macht und die Finanzen überprüft. Aber als Sportdirektor sind Sie derjenige, der die Bestellung aufgibt, was die Joggelihalle alles braucht. Oder habe ich das falsch verstanden?

Sie haben das ganz richtig verstanden. Wir sind das so genannte Nutzerdepartement, wir dürfen die Halle vom Finanzdepartement mieten. Und wenn wir etwas bauen müssen, dann melden wir uns beim Bau- und Verkehrsdepartement und die sagen uns dann, ob es möglich ist, bauen es und machen das Kostencontrolling bei den baulichen Massnahmen. Das ist nicht bei uns.

Sprich, wenn Sachen, die es braucht, nicht gebaut werden, beispielsweise ein starkes Dach, sind Sie schuld. Oder Sie tragen die Verantwortung, um es freundlicher zu formulieren.

Politisch bin ich immer schuld, die Verantwortung übernehme ich auch gerne. Aber Tatsache ist, wir haben in unserem Kanton ein Dreirollenmodell. Die Departemente kontrollieren sich gegenseitig und das ist, glaube ich, gesund.

Bei der Kunschti Margarethen war es aber so, dass Sie für mehrere Millionen Franken ein Projekt ausgearbeitet haben und dann gescheitert sind im Parlament. Auch dort haben Sie eine falsche Bestellung aufgegeben, die nachher von den Hockeyspieler*innen und Eiskunstläufer*innen kritisiert worden ist. Häufen sich solche falsche Bestellungen?

Die Projekte haben nicht viel miteinander zu tun. Bei der Kunschti Margarethen war es ein Vorschlag der Regierung, wie man mit diesem anspruchsvollen Komplex auf Binninger Boden umgehen kann. Das Parlament entscheidet am Schluss und es hat entschieden, mehr Geld für mehr Eisflächen im Kanton einzusetzen. Das freut mich als Sportdirektor.

«Wir sind nicht Beamte, die Dienst nach Vorschrift machen und den ganzen Tag in Finken rumlaufen.»
Conradin Cramer will nichts von Amtsschimmel wissen.

Viel Unzufriedenheit gibt es auch bei Ihrer Idee eines Musicalbads, also eines 50-Meter-Beckens am heutigen Standort des Musical Theaters. Warum vertreten eigentlich Sie als Sportdirektor dieses Geschäft? Ist es nicht ein kulturpolitischer Entscheid, wenn man sagt, das Musical Theater muss weg?

Die Federführung ist ja beim Finanzdepartement, das auch die Immobilienumnutzung vertritt. Aber mir als Sportdirektor ist es natürlich ein grosses Anliegen, dass wir möglichst schnell ein zusätzliches Hallenbad bauen können. Das ist die Sportinfrastruktur, die wir dringend zusätzlich brauchen, das kommt in allen Umfragen raus. Und dort eröffnet sich eine Chance, immer unter der Prämisse, dass die Halle nicht mehr genutzt werden kann als Musical Theater.

Ich muss vielleicht anders fragen: Warum haben nur Sie und Tanja Soland Auskunft gegeben und nicht Beat Jans als Kulturverantwortlicher? Haben Sie in der Regierung die kulturpolitische Bedeutung des Musical Theaters für die Region überhaupt diskutiert?

Ja, natürlich haben wir diese Optionen diskutiert und haben uns dann dafür entschieden, diese Idee sehr schnell zu kommunizieren. Weil wir wussten, dass das sicher einiges an Resonanz auslösen wird.

Und so war es.

Jetzt sind wir daran, die Idee auszuarbeiten. Ist es überhaupt möglich, ein Bad im Musical Theater zu realisieren, was würde es kosten? Wie teuer wäre es, dort weiterhin einen Bühnenbetrieb zu realisieren? Die Fakten dazu werden wir dann im Herbst präsentieren. Das wird sicher eine spannende und tolle Debatte.

Sind Musicals für die Regierung weniger bedeutend als andere Kunstformen?

Es gibt halt einfach die Erkenntnis, dass in Basel in den letzten Jahren kaum mehr Musicals stattgefunden haben, bis auf einige Gastspiele. Tolle Geschichten wie das Phantom of the Opera liegen Jahre zurück, diese haben sich nach Zürich verlagert.

Das Komitee für den Erhalt des Musical Theaters wirft der Regierung vor, eine Kulturinstitution zumachen zu wollen, die sich am Markt finanziert.

Bis jetzt habe ich keine Signale von Betreibern, dass sie die Vollkosten der Sanierung des Musical Theaters übernehmen und es danach weiter betreiben. Aber das wird sich zeigen, wenn wir im Herbst alle Fakten haben. Daher bringt es jetzt nicht viel, schon zu spekulieren.

Conradin Cramer zeigt sich auf Instagram gerne mittendrin. Hier beim Glaibasler Cup. (Quelle: Instagram)

Die Schwimmer*innen warten schon seit Jahrzehnten auf ein 50-Meter-Becken und haben eine Initiative eingereicht. Nun haben sie, ebenso wie das Komitee für den Erhalt des Musical Theaters, Angst, dass Sport und Kultur gegeneinander ausgespielt werden. Um das zu verhindern, haben die beiden Komitees Sie und Regierungsrätin Tanja Soland in einem Brief um einen Austausch gebeten. Sie haben abgelehnt. Warum?

Ich bin ja im ständigen Kontakt mit dem Schwimmverein. Im Moment können wir aber keine Diskussion zu den beiden Initiativen führen, weil wir zuerst die Fakten zusammentragen müssen. Und die Diskussion dann auch im Parlament stattfinden muss.

Finden Sie es als Zeichen nicht ein wenig seltsam, wenn Sie engagierten Menschen, die Sie treffen und über ein heiss diskutiertes Geschäft reden möchten, sagen, nein, im Moment könnt ihr nicht vorbeikommen?

Das würde ich nie so sagen. Ich habe den Initianten gesagt, ich würde ein Gespräch begrüssen, aber erst dann, wenn wir die Informationen zusammen haben. Dann empfange ich sie sehr gerne.

Manchmal habe ich den Eindruck, an Ihnen perlt jegliche Kritik ab. Wie machen Sie das? 

Kritik ist ja ein wesentlicher Bestandteil der politischen Arbeit. Man lanciert eine Idee und bekommt manchmal positive, manchmal negative Resonanz. Und daraus kann wieder etwas entstehen. Ich versuche stark, diese Kritik sachlich einzuordnen und meine Politik zu verbessern. Auch die persönliche Kritik, die es manchmal gibt, gehört zum Job.

Mich dünkt, Sie werden zwar sachlich kritisiert, aber auf der persönlichen Ebene weniger angegriffen als etwa die ehemaligen Regierungsräte Baschi Dürr oder Hans-Peter Wessels.

Ja, ich nehme es auch so wahr. Ich versuche, anständig zu den Leuten zu sein und freue mich, wenn andere auch anständig zu mir sind.

Sie posten gerne Instagram-Fotos. Kürzlich haben Sie ein Fussballturnier einer Tagesstruktur besucht und das dokumentiert. Ist das eine Strategie, um von der politischen Kritik abzulenken, indem Sie positive Stimmung verbreiten?

Mit den Social-Media-Posts zeige ich Wertschätzung für das, was die Menschen alles Tolles machen in dieser Stadt. Sie erwähnten das Fussballturnier der Tagesstrukturen im Kleinbasel. Das war ein Engagement der Tagesstrukturmitarbeitenden – das hätten sie nicht machen müssen, aber sie wollten die jungen Menschen schulstandortübergreifend zusammenbringen, organisierten alles, bastelten T-Shirts. Das war ein Riesenfest für die Kinder! Wir sind nicht Beamte, die Dienst nach Vorschrift machen und den ganzen Tag in Finken rumlaufen. Sondern diese Leute sind kreativ und haben Ideen und machen mehr, als sie eigentlich müssten, weil sie Herzblut haben für ihren Job. Das ist es, was ich zeigen will.

Herz Frage
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Bei Bajour als: Journalistin.

Hier weil: Das Hobby meines Mannes finanziert sich nicht von alleine.

Davor: Chefredaktorin im Lokalmedium meines ❤️-ens (Bajour), TagesWoche (selig), Gesundheitstipp und Basler Zeitung

Kann: alles in Frage stellen

Kann nicht: es bleiben lassen

Liebt an Basel: Mit der Familie am Birsköpfli rumhängen und von rechts mit Reggaeton und von links mit Techno beschallt zu werden. Schnitzelbängg im SRF-Regionaljournal nachhören. In der Migros mit fremden Leuten quatschen. Das Bücherbrocki. Die Menschen, die von überall kommen.

Vermisst in Basel: Klartext, eine gepflegte Fluchkultur und Berge.

Interessensbindungen:

  • Vorstand Gönnerverein des Presserats
  • War während der Jugend mal für die JUSO im Churer Gemeindeparlament. Bin aber ausgetreten, als es mit dem Journalismus und mir ernst wurde.

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