Gärn gschee Kultur – ein neues Format erobert die Stadt

#Staythefuckhome, sagten sie. Und wir weinten über all den abgesagten Konzerte leise in unsere Kissen. Damit ist jetzt Schluss. Wir haben die Show, ihr die Langeweile und den Cash. Bitte Rettungsgasse freimachen, es geht um nichts Weniger als die kulturelle Existenz dieser Stadt!

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Weil sich in diesen Tagen so vieles, was eigentlich im echten Leben hätte stattfinden sollen, in andere Räume verlagert, ist es kein Zufall, dass auch diese Geschichte ihren Ursprung im Internet findet.

«Zwei Monate Arbeit und drei Stunden Musik für nix», schreibt der Basler Musiker Manuel Gagneux auf Instagram. Er postet dazu das Foto einer leeren Bühne. Das Theaterstück «Frühlings Erwachen» am Schauspielhaus Zürich, für das Gagneux die Musik komponierte, wurde abgesagt. 

Zwei Tage später sitzt Gagneux an einem Tisch im St. Johann. Vor ihm ein Kaffee und ein zerknautschtes Pack Zigaretten. Und eine Idee.

Was er davon halte, wollen wir wissen, und ob er dabei sei?

«Ich bin dabei», sagt Gagneux. 

Und dann geht alles sehr schnell.

Während schweizweit die Konzertlokale schliessen, gehen hier auf einer virtuelle Bühne die Scheinwerfer an

Künstler*innen stehen aufgrund der Corona-Krise vor dem Aus. Performances, Konzerte, Lesungen fallen weg, das kulturelle Leben erlahmt. Auf der anderen Seite ist die Solidarität der Menschen enorm, wie wir aktuell auf der Facebook-Gruppe «Gärn gschee – Basel hilft» erfahren. Mittlerweile sind es alleine in Basel über 11’000 Hilfesuchende, die sich dort mit Hilfebietenden vernetzen. 

Wir haben überlegt: Wie können wir die Hilfsbereitschaft der Menschen mit den Existenzängsten der Künstler*innen verbinden? Wie können wir der sozialen Isolation und Angst entgegenwirken, die sich da draussen auszubreiten beginnt?

Unsere Antwort: Wie bauen ein Netzwerk und nennen es «Gärn gschee Kultur».

Während da draussen die Tore der Konzertlokale schliessen müssen, gehen auf dieser virtuellen Bühne die Scheinwerfer an. An verschiedenen Abenden finden Konzerte, Lesungen oder Performances statt. Wir streamen live. Und über eine Online-Bezahlfunktion kann sich das Publikum im Cyberspace an der Gage der Künstler*innen beteiligen. Wir sind die Ausgleichskasse für Schicksalsgeschlagene, zusammen bieten wir dieser garstigen Seuche die Stirn. 

Heute Mittwoch ist das erste Konzert. Unser Gast ist: Manuel Gagneux. Bekannter als Kopf der Band Zeal & Ardor, dem Basler Welterfolg. 

Gärn gschee Kultur ist noch unfertig, wahrscheinlich wird es unfertig bleiben. Wen juckts. Das Virus hat uns überrumpelt, wir rumpeln jetzt zurück.  

Gagneux sagt, er dürfe sich glücklich schätzen. Das Schauspielhaus Zürich ist eine staatlich subventionierte Institution. Er muss sich um seine Gage für die Musik zu «Frühlings Erwachen» keine Sorgen machen.

Umso vehementer drängt er darauf, in dieser Zeit all diejenigen nicht zu vergessen, die nicht im Rampenlicht stehen, ohne die es aber keinen Kulturbetrieb gäbe. 

«Die Tontechniker*innen, die Stage Hands, die Licht-Verantwortlichen, was ist mit denen? Habt ihr die auf dem Schirm?», fragt er. 

Haben wir. Jede*r Künstler*in, die unter Gärn gschee Kultur auftritt, sagt uns vor der Show, wieviel technisches Personal diesen Gig normalerweise möglich machten und wieviel das kostet. Bajour kommuniziert die Summe. Und dann schauen wir alle, dass auch die Tonfrau, der Lichtmann, die Stage Hands ihre Gage erhalten.

Es gibt noch eine ganze Menge weiterer Fragen, die zu klären sind. Wer spielt? Wie oft tritt «Gärn gschee Kultur» in Erscheinung? Und wo? Antworten darauf gibts, sobald wir die Feuerprobe überstanden haben. Versprochen.

Und dann noch ein Shoutout an andere Projekte

Was wir bis jetzt wissen: Gärn gschee Kultur soll konkrete Hilfe bieten, Cash für die Künstler*innen und den Staff, nicht nur warme Worte und Gesten. Gärn gschee Kultur soll bis in die technischen Details eine Blaupause sein, die einfach zu kopieren ist und Nachahmer*innen in der ganzen Schweiz findet. Gärn gschee Kultur ist noch unfertig, wahrscheinlich wird es unfertig bleiben. Wen juckts. Das Virus hat uns überrumpelt, wir rumpeln jetzt zurück.  

Last but not least: Es haben sich bereits ähnliche ebenfalls unterstützenswerte Projekte formiert: Ein herzliches Salut an die «Kulturklinik», einer Plattform für Künstler*innen, die Merchandise, Platten, Bilder, oder Vorlesungen in unsicheren Zeiten zu Geld machen wollen. Solidarische Grüsse gehen auch an das Literaturmagazin «Stoff für den Shutdown», das hier Geld sammelt für seine erste Nummer. Und seit vergangenen Sonntag findet bei «Viral» (oder wie Insider wissen: Glitter) ein online Literaturfestival in Zeiten der Quarantäne statt. Auch dorthin schicken wir Grüsse.  

Gärn gschee Kultur geht um 20:00 Uhr online, um 20:15 gehts los. Den Stream findest du auf der Facebook-Gruppe Gärn gschee oder HIER. Die Initiative stammt von Bajour, Elias Buess und Thomas Keller. Niemand erhebt Anspruch auf Patent. Alle sind eingeladen, dabei zu sein. Kontaktiert uns unter info@bajour.ch. Alles weitere folgt. Und jetzt, Vorhang auf.

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Hier noch ein Tipp: «Let's Get Digital» ist ein virtuelles Festival, das während dem gesamten Kultur-Shutdown der Schweiz stattfindet. Unser Zeal & Ardor Showcase ist der erste Eintrag im Kalender. Alle Konzerte der Schweiz kannst du hier anschauen.

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Themeninputs und Hinweise gerne an daniel.faulhaber@bajour.ch . Twitter: @dan_faulhaber


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Bei Bajour als: Reporter und Redaktor

Hier weil: da habe ich die Freiheit, Neues anzupacken und unkonventionell zu arbeiten, ohne über sieben Hierarchiehürden zu springen. Das ist toll. Gleichzeitig macht diese Freiheit natürlich Angst, und das wiederum schweisst zusammen. Darum bin ich auch hier. Wegen des Teams.

Davor: Bei der TagesWoche und davor lange Jahre an der Uni mit Germanistik & Geschichte.

Kann: Ausschlafen.

Kann nicht: Kommas.

Liebt an Basel: Die Dreirosenbrücke. Das Schaufenster des Computer + Softwareshops an der Feldbergstrasse Ecke Klybeckstrasse. Das St. Johann. Dart spielen in der Nordtangente. Dass Deutschland und Frankreich nebenan sind.

Vermisst in Basel: Unfertigkeit. Alles muss hier immer sofort eingezäunt und befriedet und geputzt werden. Das nervt. Basel hat in vielem eine Fallschirmkultur aus der Hölle. Absichern bis der Gurt spannt. Ich bin schon oft aus Versehen eingeschlafen.

Interessensbindung: Vereinsmitglied beim SC Rauchlachs.

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