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Liebeserklärung an Gärngschee-Superfrau Sandie

Wenn Sandie Collins etwas in der Gärngschee-Gruppe postet, explodiert die Zahl der Likes und Kommentare. Sandie organisiert Geschenkaktionen, telefoniert, coacht. Die Community liebt sie, Bajour wäre nichts ohne sie. Wer ist diese Frau?

04/20/21, 02:55 AM

Aktualisiert 04/20/21, 09:28 AM

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Porträt Sandie Collins

Happy Sandie Collins. (Foto: zvg)

Vor einem Jahr sass die ganze Bajour-Redaktion im virtuellen Sitzungszimmer am Compi und hörte Bajour-Gründer Hansi beim Reden zu. Es ging um alles und nichts. Basel, die Welt, steckte mitten in der ersten Corona-Welle, Gärngschee explodierte und die Redaktion hyperventilierte. Da gretschte Sandie rein und sagte: «Hansi, jetzt frag doch die Redaktion mal, wie es ihr geht!» Und Hansi fragte.

Klassischer Sandie-Move. Sie schaut, dass es allen gut geht. Und wenn sie was sagt, gumpen alle. Mit gutem Grund. Ohne Sandie wäre Gärngschee nichts. Mit Sandie aber ist die digital-analoge Vernetzungsplattform eine unschlagbare Rakete der Hilfsbereitschaft. Die 17'000 Freiwilligen finden innert Stunden ein neues Heim für Betroffene von häuslicher Gewalt oder organisieren Möbel für armutsbetroffene Familien. Und sie sorgen nicht zuletzt dafür, dass die Bajour-Journalist*innen wissen, was Basel bewegt und umgekehrt.

Sandie ist die Chefin der Gruppe, ehrenamtlich. Sie bringt Menschen, die Hilfe brauchen, mit Freiwilligen zusammen, fährt Hilfsgaben quer durch die Region, schaut, dass auch Kinder aus armutsbetroffenen Familien ein Weihnachtsgeschenk bekommen. Und aktuell organisiert sie grad eine Lebensmittelabgabe für Menschen, die es nötig haben.

Wer ist diese Frau? 

Fahrt nach Therwil, um die Gärngschee-Tätschmeisterin besser kennenzulernen. Die Tür des Einfamilienhauses fliegt auf, von irgendwo ruft’s: «Achtung Hund». Doch zu spät: Ein riesiges Tier mit Zottelfell hat sich schon durch die Tür gedrückt. Nein, kein Kalb, eine Neufundländerin, Saphira, heisst sie. Ich stehe im Flur von Sandie Collins in Therwil. 

«Komm, wir gehen auf die Terrasse», sagt Sandie, blaues Haar, blaues Kleid, blaue Piercings – eins in der Nase, drei an der Schläfe. Sandie lebt auf der Terrasse, das weiss ich schon aus den morgendlichen Bajour-Sitzungen am Bildschirm. Sandie sitzt dann jeweils da auf der Couch, Zigarette in der Hand, Wolldecke um die Schultern, Telefon am Ohr. Manchmal kommt ihr Mann oder ein Kind raus und fragt sie etwas: «Drinnen im Haus habe ich sonst eine konstante Reizüberflutung. Hier draussen ist das dosiert – die Leute müssen zu mir kommen und ich werde nicht dauernd bespielt.» 

Auch das ein typischer Sandie-Satz. Der Satz einer Frau, die sich selbst kennt und weiss, was sie braucht, um anderen geben zu können, was die brauchen. Sandie ist Sozialpädagogin, a.k.a. Gschpürschmifühlschmi-Profi. Das mit Gärngschee ist nur ein Hobby. Hauptberuflich ist Sandie Leiterin eines Kleinheims: In ihrem Haus in Therwil leben ihr Mann (auch Sozialpädagoge) acht Kinder (sechs Pflegekinder, zwei eigene). Tagsüber arbeiten ausserdem noch zwei angehende Sozialpädagoginnen und die Köchin mit.

Die Solidarität ist tot.

Das mit der Reizüberflutung ist ein Understatement. Während Sandie da in ihrer Heizdecke eingekuschelt hockt, der Laptop offen auf dem Couchtisch, blinkt das Handy ständig auf. Diese Frau wird konstant geflutet.

Was für andere ein Vollzeitjob wäre, macht sie nebenher, ehrenamtlich. Gärngschee ist «Ausgleich» zu ihrem Leitungsjob. Trotzdem sitzt sie entspannt hier, nimmt sich Zeit für mich. Ruhepole schaffen trotz grossem Stress, das kann Sandie. Und Leuten zuhören. Sandie ist so ein Mensch, dem man in den ersten fünf Minuten schon die halbe Lebensgeschichte anvertraut. 

Wie kam Gärngschee zu dieser Superfrau?

Es ist Anfang März 2020. Der Bundesrat hat grad die ganze Schweiz zugemacht, Bajour hat die Gärngschee-Hilfsgruppe auf Facebook gegründet und auch Sandie eingeladen. Die ist sofort dabei, merkt aber: Da herrscht ein ziemliches Puff in dieser Gruppe. Logisch: Die damals noch fünfköpfige Redaktion hatte nicht damit gerechnet, innert zwei Tagen über 10'000 wild kommentierenden Facebookmitgliedern gegenüber zu stehen, die für alle Held*innentaten bereit stehen. 

Also schrieb Sandie eine Mail an Bajour: «Kann ich helfen?» Bajour wollte den Profisozi sofort haben und setzte sie ans Gärngschee-Telefon. Dort können sich ältere Menschen ohne Internet melden und um Hilfe bitten. «Anfangs hat das Telefon nonstop geklingelt», sagt Sandie. An der anderen Leitung waren Leute, die jemanden brauchten, der*die für sie einkauft. Leute, die einsam waren. Sandie brachte sie mit Freiwilligen aus der Facebookgruppe zusammen, redete ihnen gut zu. 

Gärngschee-Moderatorinnen vereint: Hannah, Sandra, Tijana und Sandie

Gärngschee-Moderatorinnen vereint: Hannah, Sandra, Tijana und Sandie (Foto: privat)

Woher nimmt sie die Energie für das alles?

Sandie zündet eine Zigarette an: «Kennst du diesen grundsätzlichen Weltschmerz?», fragt sie. «Ich hatte den extrem.» Während den grossen Fluchtbewegungen 2015 habe sie andauernd das Gefühl gehabt, nach Griechenland gehen zu müssen, habe viel gespendet. Sandie blickt auf: «Dieser Weltschmerz wurde für mich massiv weniger, seitdem ich bei Gärngschee bin.» Sie habe lange nach der richtigen Form gesucht, wie sie sich engagieren wolle. Sie werde hilflos, wenn sie keinen Einfluss nehmen könne: «Wenn ich wenigstens im Kleinen helfen kann, lenkt mich das vom grossen Scheiss ab.» Gärngschee biete unbürokratisch, direkt und niederschwellig Hilfe.

Eine Stadt, eine Seele.

Es regnet Bindfäden und ist saukalt auf der Terrasse in Therwil, ich will mir meine Jacke holen. «Nimm doch auch eine Heizdecke», sagt Sandie. «So richtig GLP ist das, ich hier mit meiner synthetischen Heizdecke», ergänzt sie.  

Sandie war aktiv bei der GLP und auch im Vorstand der Operation Libero. Eigentlich war die Idee mal, Nationalrätin zu werden. Für den Sozialbereich zu lobbyieren, wo immer gespart und zu wenig nach unternehmerischen Kriterien investiert werde. «Aber da muss man Jahre investieren, bis man etwas bewegen kann.» Und: «Smalltalk finde ich wahnsinnig anstrengend.»  

Während unseres Gesprächs ruft ein Vater an, der einen Platz für seinen Sohn in einem Pflegeheim sucht. Sandies Kinder trubeln auf die Terrasse, suchen die Leine, um mit den Hunden (es gibt mehrere!) spazieren zu gehen. Die Älteren rauchen kurz eine Zigarette, gehen wieder rein. 

Seit 2013 nehmen Sandie und ihr Mann Pflegekinder bei sich auf. 2019 haben sie skills2go gegründet, ein Nonprofit-Unternehmen, das auf sozialpädagogische Begleitung spezialisiert ist. Sie bieten langfristige Unterbringung für Kinder und Jugendliche an, aber auch ambulante Unterstützung für Familien in ihren eigenen vier Wänden. Sie und ihr Mann bilden zusammen die Institutionsleitung von skills2go.

«Ich habe sie gut erzogen, unsere Community. Der Umgangston wurde netter mit der Zeit, ganz am Anfang war er oft noch sehr rau.»

sagt Sandie über die Facebook-gruppe Gärn gschee – Basel hilft

Ist sie nie überarbeitet? Genervt von der Gärngschee-Gruppe?

Sandie lacht: «Wenn ich PMS (die depressiven Tage vor der Mens) habe, nervt mich viel.» Zum Beispiel: «Respektlose Diskussionen. Wenn Fremde die Probleme anderer abwerten und sie als unberechtigt darstellen.» Dann geht Sandie in die Debatte rein und bittet die Leute auf, freundlich zu sein. Auch mal ziemlich unzimperlich, wenn es sein muss. Die Gruppe entwickelt sich mit Sandie mit: «Ich habe sie auch gut erzogen, unsere Community», sie lacht. «Der Umgangston wurde netter mit der Zeit, ganz am Anfang war er oft noch sehr rau». 

Das braucht viel Geduld. Sandie ist aber nicht allein: Sie hat ein Team aus motivierten Freiwilligen, das ihr hilft. Zuvorderst Sandra, die von Anfang an dabei ist. Mittlerweile hat Gärngschee aber auch eine Betreuungsfachfrau im Teilzeitpensum: Tijana. Sie nimmt mittlerweile das Gärngschee-Telefon ab.

Warum braucht es sie, bei all diesen Freiwilligen?

«Gewisse Sachen muss man professionell aufziehen», sagt Sandie. Zum Beispiel bei der Lebensmittelaktion, die sie plant. In den letzten Monaten haben immer wieder Menschen bei Gärngschee um Lebensmittel gebeten. «Das ist Corona», sagt Sandie. Die Leute, die schon vorher wenig Geld hatten, trifft es am härtesten. «Jetzt reicht es nicht mal mehr fürs Nötigste.»

Sandie hat reagiert, spontan Lebensmittel gesammelt und verteilt. «Ein Tropfen auf den heissen Stein», sagt Sandie. Jetzt will sie drei Monate lang wöchentlich Lebensmittel verteilen, als Ergänzung zu bestehenden Hilfsangeboten in der Stadt, bis diese wieder ohne Gärngschee klar kommen. «Das muss man professionell begleiten», sagt Sandie. «Damit es den betroffenen Menschen nachher nachhaltig besser geht.» Aus diesem Grund möchte Sandie Tijanas Pensum erhöhen. Dafür braucht sie Unterstützung.

Wir bringen Leute zusammen.

Bis jetzt hat Sandie schon rund 125 Unterstützer*innen. Bei 300 legt sie los. Sandie lächelt: «Die Gruppe hat ein immenses Potential. Keine soziale Institution hat so viele Mitglieder und ein solch krass aktives Netzwerk.» Das Vertrauen, das die Leute in sie haben, sei riesig – was aber auch eine grosse Verantwortung mit sich bringt. 

Sandies Tochter steht auf der Terrasse und muss ins Leichtathletik gebracht werden. Sie findet ihre Turnschuhe nicht, Sandie stöhnt leise auf. Sie sucht die Schuhe, lädt die Tochter ins Auto und fährt durch den Regen davon.

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