Ein unnötiger Luxus

Israel hat die dritte Impfung gegen Corona bereits freigegeben, die USA wollen bald folgen, und auch die EU bereitet sich darauf vor. Dabei ergibt die aktuelle Datenlage keinerlei Notwendigkeit für eine solch rasche Auffrischimpfung.

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Ist es noch zu früh für die dritte Corona-Impfung?

Dieser Artikel ist zuerst am 9. September 2021 in Die Wochenzeitung WOZ erschienen. Die WOZ gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

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Die Diskussion um eine dritte Impfung für die breite Bevölkerung nimmt Fahrt auf. Anfang Woche gab die Europäische Arzneimittelagentur bekannt, sie beschleunige die Prüfung einer solchen Auffrischimpfung mit dem Biontech/Pfizer-Impfstoff. In Israel ist der «Booster-Shot», wie die Pharmafirmen es gerne labeln, bereits seit Ende August für sämtliche Personen ab zwölf Jahren eingeführt. Und die US-Regierung hat angekündigt, so rasch wie möglich nachziehen zu wollen.

Dieser politische Entschluss hat nun zu Verwerfungen geführt. Letzte Woche gaben zwei der ranghöchsten Vertreter*innen der US-Regulierungsbehörde FDA ihren Rücktritt bekannt: Marion Gruber und Philipp Krause begründeten diesen Schritt gemäss der «New York Times» damit, dass die aktuelle Datenlage nicht ausreichend sei, um eine dritte Impfung zu rechtfertigen.

Diese Ansicht vertritt auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG): «Zum heutigen Zeitpunkt ist aus den verfügbaren wissenschaftlichen Daten nicht klar, wann für wen eine Auffrischimpfung nötig wäre», schreibt das BAG auf Anfrage. Eine dritte Impfdosis werde aktuell nur schwer immungeschwächten Personen verabreicht, um so einen möglichst guten Immunschutz überhaupt erst herzustellen. Das sei nicht gleichzusetzen mit einer Auffrischimpfung für die breite Bevölkerung. Gemäss der zuständigen Schweizer Behörde Swissmedic liegt derzeit übrigens noch kein Zulassungsgesuch für eine Auffrischimpfung von Biontech/Pfizer und Moderna vor, deren Impfstoffe in der Schweiz für zwei Impfungen zugelassen sind.

Was heisst Wirksamkeit überhaupt?

Das wichtigste Argument für eine Auffrischimpfung sind Berichte über eine abnehmende Wirkung der Impfstoffe. Sie stammen nicht zuletzt von den Pharmafirmen selbst: So empfahl etwa Moderna Anfang August explizit eine dritte Impfung – weil die Wirkung des eigenen Impfstoffs nach sechs Monaten nachlasse. Albert Bourla, CEO von Pfizer, brachte die Auffrischimpfung bereits im April ins Spiel.

Wie lukrativ ein solcher «Booster»-Markt ist, legte kürzlich die Nachrichtenagentur Reuters dar: Biontech/Pfizer und Moderna dürften künftig Milliarden von US-Dollar mit Auffrischimpfungen einnehmen, Finanzanalyst*innen gehen von einem Markt aus, «der in den kommenden Jahren mit den sechs Milliarden US-Dollar Jahresumsatz für Grippeimpfstoffe konkurrieren könnte». Überhaupt profitieren die beiden Pharmafirmen massiv von ihren neuen mRNA-Impfstoffen, die wesentlich auf öffentlich finanzierter Forschung basieren (siehe WOZ Nr. 7/2021): Bis 2022 besitzen Biontech/Pfizer und Moderna gemäss Reuters vertraglich gesicherte Vereinbarungen im Umfang von über sechzig Milliarden US-Dollar.

Für Patrick Durisch, Spezialist für Gesundheitspolitik bei Public Eye, liegt hier «ein klarer Interessenkonflikt» vor. «Die Pharmafirmen sitzen am längeren Hebel, zumal diese Firmen ja auch über exklusive und riesige Datensätze verfügen. Das ermöglicht ihnen, mit der Angst der Behörden zu spielen», so Durisch. «Die Rede von einer abnehmenden Wirkung des Impfstoffs klingt erst mal besorgniserregend. Da wollen viele Regierungen vorauseilend lieber kein Risiko eingehen.» So habe auch die Schweiz insgesamt weit über vierzig Millionen Impfdosen bestellt – und damit deutlich mehr, als für die doppelte Impfung der gesamten Bevölkerung nötig wäre.

«Eine verminderte Wirksamkeit des Impfstoffs spricht noch keineswegs für eine Auffrischung.»

von Vinay Prasad, Gesundheitsforscher University of California

Tatsächlich ist die Frage nach der Impfstoffwirksamkeit komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheint. So kritisiert Vinay Prasad, renommierter Gesundheitsforscher an der University of California, auf der Plattform «Medpage Today», dass bei fast allen Wirksamkeitsstudien die Rate der Durchbruchsinfektionen bei geimpften Personen mit der Infektionsrate bei ungeimpften Personen verglichen werde. Im Lauf der Zeit seien jedoch immer mehr Ungeimpfte an Corona erkrankt; das Risiko dieser Gruppe, erneut zu erkranken, sinke deshalb erheblich. «Allein dieser Faktor führt dazu, dass die Wirksamkeit der Impfung zu schwinden scheint», schreibt Prasad. Zweitens seien in praktisch allen Ländern zuerst die ältesten und anfälligsten Menschen geimpft worden. Folglich werde in den Vergleichsstudien derzeit insbesondere diese Personengruppe berücksichtigt, die «möglicherweise immer ein etwas höheres Risiko für Durchbruchsinfektionen aufweist». Auch das erwecke den Eindruck einer nachlassenden Wirksamkeit des Impfstoffs.

«Eine verminderte Wirksamkeit des Impfstoffs spricht noch keineswegs für eine Auffrischung. Anders ist dies bei einer Verringerung des Schutzes vor schwerwiegenden Folgen», so Prasad. Doch bisher lägen keine derartigen Daten vor. Im Gegenteil: Die zwei zugelassenen Impfungen hätten sich bisher «als sehr wirksam gegen das Risiko einer schweren Erkrankung und des Todes» erwiesen.

Am Ende versagt die Politik

Mitte August schaltete sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in die Diskussion ein – und ermahnte die reichen Länder des Nordens, eine Auffrischimpfung nur «streng evidenzbasiert» auszurichten. «Vor dem Hintergrund der anhaltenden weltweiten Engpässe bei der Versorgung mit Impfstoffen wird die Verabreichung von Auffrischimpfungen die Ungleichheiten noch verschärfen.» WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus wies zudem schon mehrmals darauf hin, dass die Ausgabe von Auffrischimpfungen in Ländern mit bereits hohen Impfraten dazu führen könnte, dass weltweit noch gefährlichere Varianten des Coronavirus auftauchen.

Patrick Durisch von Public Eye spricht im Zusammenhang mit der global völlig unterschiedlichen Impfstoffverfügbarkeit vor allem von einem politischen Versagen: «Wer bekommt wann wie viele Impfdosen und zu welchem Preis? Diese Fragen bestimmen derzeit allein die Pharmafirmen, die natürlich von Profitinteressen getrieben sind.» Es sei ein politischer Entscheid unserer Regierungen – insbesondere in Europa –, sich rauszuhalten, statt etwa die Aufhebung des Patentschutzes zu fordern und die Produktions- und Verteilprozesse zu demokratisieren und zu dezentralisieren. «Wenn die Impfstoffe weiterhin hochwirksam gegen eine schwere Erkrankung und den Tod schützen, lohnt es sich dann wirklich, die Menschen in den USA jetzt zu impfen?», fragt Prasad.

«Einmal mehr mutiert die Covid-Krise zum evidenzfreien Raum, und Empfehlungen über eine medizinische Massnahme werden erlassen, bevor Daten überhaupt verfügbar sind», konstatiert Catherine Riva von der Investigativplattform «Re-Check». Eine solche Entwicklung sei besorgniserregend und verstosse gegen bewährte Regeln. «Unter solchen Umständen können Zulassungsbehörden ihrer Arbeit kaum vernünftig nachgehen und fundierte Entscheidungen treffen», so Riva.

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