«Heimat bedeutet auch, jederzeit an den Ort des Vertrauens zurückkehren zu können»

Der Basler Filmemacher Jonas Schaffter begleitet in «Arada» drei Männer, die aus der Schweiz ausgewiesen wurden – und in der fremden Heimat ihrer Eltern nach Anschluss suchen.

Duran wuchs in Arlesheim auf. Er fühlt sich in Istanbul nicht Zuhause. Seine Exfrau und sein Sohn leben in der Schweiz.
Duran wuchs in Birsfelden auf. In Istanbul fühlt er sich nicht Zuhause. Seine Ex-Frau und sein Sohn leben in der Schweiz. (Bild: Cineworx)

Da sitzt ein Mann, ungefähr Anfang Dreissig, mit Headset vor seinem Laptop. Offenbar arbeitet er für ein Callcenter, denn er berät gerade eine ältere Frau beim Kauf von Druckerzubehör. Der Mann heisst Duran, doch er stellt sich der Frau als «Marcel Vögtli» vor. Denn als «Marcel Vögtli» komme er eben an viel mehr Klienten, erklärt Duran im Film. Seine türkische Wurzeln hört man seinem Baseldeutschen Akzent kein bisschen an. Man kann gar nicht anders, als zu schmunzeln, auch wenn das Gezeigte eigentlich himmeltraurig ist.

Als wäre die Szene nicht schon absurd genug, führt Duran dieses Telefonat nicht etwa in der Schweiz durch, sondern in Istanbul. Er ist einer von drei Männern, die der Basler Filmregisseur Jonas Schaffter in seinem Dokumentarfilm «Arada» porträtiert, und die ein gemeinsames Schicksal teilen: Sie sind hierzulande aufgewachsen und wurden aufgrund krimineller Delikte ausgewiesen – in die Türkei, die Heimat ihrer Eltern, zu der keiner von ihnen einen richtigen Bezug hat.

Filmregisseur aus Metzerlen
Jonas Schaffter

Der Filmemacher und Fotograf ist 1988 geboren und wuchs in Metzerlen als ältester Sohn in einer Bauernfamilie auf. Er schloss ein Studium der Visuellen Kommunikation an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel 2013 mit dem Bachelor ab und arbeitete als Fotograf in Istanbul. An der Zürcher Hochschule der Künste machte er 2019 den Master in Dokumentarfilm. «Arada» ist sein Abschlussfilm und debütierte im Januar 2020 an den Solothurner Filmtagen, wo er für den Prix de Soleure nominiert war.

«Die meisten, die ausgeschafft werden, finden in Istanbul den ersten Anschluss in solchen deutschsprachigen Callcentern», erzählt uns Jonas Schaffter im Büro der Basler Filmproduktionsfirma Point de vue, wo er seit knapp einem Jahr wieder arbeitet. Der 33-Jährige ist in Metzerlen aufgewachsen, sein starkes Interesse an der türkischen Kultur erklärt er mit seinem Umzug nach Kleinbasel vor 13 Jahren. «Dort ist die türkisch-kurdische Kultur omnipräsent. Ich fand, man müsse sich damit auseinandersetzen.»

Politisch diffuse Angelegenheit

Die Idee zu «Arada» (türkisch für «dazwischen») hatte er bereits, bevor er sich 2016 zum Filmstudium an der Zürcher Hochschule der Künste anmeldete. Es gäbe viele Menschen, die sich zwischen der Schweiz und der Türkei bewegten, mal hier, mal dort lebten, sagt Schaffter. Er habe sich aber vor allem für jene interessierte, die unfreiwillig dort lebten.

Ausschaffungen seien in der breiten Gesellschaft eher eine politisch diffuse Angelegenheit: «Du denkst beim Thema eher an ein Plakat oder einen Politiker als an die Menschen, die es direkt betrifft», sagt Schaffter. Diese Menschen wollte er finden.

Vedat wuchs in Solothurn auf. Heute wohnt er am Rande von Istanbul.
Vedat arbeitet in Istanbul – wie viele andere Ausgewiesene – für ein deutschsprachiges Callcenter. Er freut sich jedes Mal, wenn ein*e Schweizer*in am Apparat ist. (Bild: Cineworx)

Schaffter reiste 2015 für drei Wochen in die Türkei. Im Gepäck: eine Liste mit Namen, die ihm ein Bekannter in Basel zusammengetragen hatte. Mittels ihr fand Schaffter in Istanbul eine WG mit mehreren türkischen Männern, die aus der Schweiz ausgewiesen wurden.

«Das war ein Erweckungsmoment», sagt Schaffter. «Ich merkte, wie diese Männer in einer Blase leben. Sie haben ihre eigenen Codes und ihre eigene Sprache. Einheimische merken diesen Typen sofort an, dass sie woanders aufgewachsen sind. Also bleiben sie unter sich.» Er habe zu ahnen begonnen, was diese Ausweisungen mit sich bringen – «für die Ausgewiesenen, aber auch für ihr Umfeld.»

Drei Schicksale

Schaffter wollte unbedingt ihre Geschichten erzählen, doch viele der Männer wollten nicht vor die Kamera stehen, weil sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht hatten. «Sie hatten Angst, ausgestellt zu werden, auch vor ihrer eigenen Familie.» Schaffter musste in Gesprächen Vertrauen aufbauen und vermitteln, wie er arbeitet.

Er fand schliesslich drei Bereitwillige, die sich als Protagonisten für «Arada» eignen, auch weil sie unterschiedliche Backgrounds haben:

  • Duran: aufgewachsen in Birsfelden, kurz vor Recherchebeginn ausgewiesen. «Für ihn ist alles noch frisch und zu Beginn fast wie ein Abenteuer», sagt Schaffter. Duran lebt mitten in der Grossstadt Istanbul, seine Frau und sein junger Sohn sind in Basel. Während des Films facetimet er immer wieder mit ihnen, einmal kommen sie ihn auch besuchen. Duran möchte unbedingt zurück in die Schweiz.
  • Vedat: aufgewachsen in Zuchwil bei Solothurn, ein paar Jahre vor Drehbeginn ausgewiesen. «Er lebt am Rande von Istanbul und ist in einer Art Zwischenphase, in der er sich fragt: Soll ich noch weiterkämpfen oder soll ich loslassen?», sagt Schaffter. Zu Beginn zog Vedats Mutter bei ihm ein, doch nach einem Jahr reiste sie wieder in die Schweiz zurück.
  • Mustafa: aufgewachsen im aargauischen Hunzenschwil, vor 25 Jahren ausgewiesen. «Er hat alles schon hinter sich und lebt heute draussen in der Pampa, in Anatolien.» Mustafa wurde nach seiner Ausweisung von der türkischen Armee eingezogen und kämpfte an der Front gegen die PKK. Er betreibt mit seiner zweiten Ehefrau und ihren zwei Töchtern einen Bauernhof. Zu seinem Sohn aus erster Ehe, der in der Schweiz lebt, hat er kaum noch Kontakt. «Ich bin der Vater, er muss mich anrufen», sagt Mustafa im Film.
Mustafa wuchs im Aargau auf und musste vor über 20 Jahren die Schweiz verlassen.
Mustafa wuchs im Aargau auf. Nach seiner Ausschaffung musste er sofort ins türkische Militär einrücken und gegen die PKK kämpfen. (Bild: Cineworx)

Schaffter reiste für den Dreh mit den drei Männern fünf Mal in die Türkei. In dieser Zeit ist in dem Land vieles passiert, etwa der Putschversuch gegen Präsident Erdogan. Schaffter entschied sich dafür, immer ganz nahe an seinen Protagonisten dranzubleiben und solche Ereignisse nur aufzugreifen, wenn diese von ihnen thematisiert wurden. Duran etwa, der kurdische Wurzeln hat, fürchtet sich im Film zunehmend davor, vom türkischen Militär eingezogen zu werden und in einen Einsatz gegen die kurdischen Streitkräfte geschickt zu werden.

Verbannt im türkischen Exil beginnen alle drei Männer, die Schweiz, zu unterschiedlichen Graden, zu idealisieren. Sie müssen ihren Heimatbegriff neu austarieren und reflektieren immer wieder, wie sie in diese Lage gekommen sind. So sprechen Duran, Vedat und Mustafa in «Arada» auch mehr oder weniger offen über die Gründe, weshalb sie aus der Schweiz ausgewiesen wurden. Ihre Straftaten umfassen etwa Raserdelikte, Drogenhandel, Diebstähle und die Verwicklung in Schlägereien.

«Du denkst beim Thema Ausschaffung eher an ein Plakat oder einen Politiker als an die Menschen, die es direkt betrifft.»
Jonas Schaffter, Filmregisseur

Wie fein da der Balanceakt zwischen Verurteilung und Empathie ist, weiss auch der Regisseur: «Ich wollte vermeiden, dass es beim Publikum nur noch darauf hinausläuft, zu urteilen, ob die Ausschaffung gerecht war. Aber ich wusste, dass man sich erst auf diese Männer einlassen kann, wenn man zumindest ein bisschen ihre Vorgeschichte kennt.»

Doppelte Bestrafung

Schaffter hofft, mit dem Film auch Aufklärungsarbeit zu leisten. Durch seine Arbeit an «Arada» sei ihm selber vieles zum ersten Mal bewusst geworden. «Zum Beispiel, dass ich für die gleichen Delikte ebenfalls ins Gefängnis gehen müsste, aber danach, nur wegen meines Schweizer Passes, wieder nach Hause könnte und eine zweite Chance erhielte. Sie aber werden doppelt bestraft.»

Schaffter glaubt, dass vielen Zuschauer*innen kaum bewusst ist, wie rigoros die Schweiz im internationalen Vergleich vorgeht. «Das harte Einbürgerungsrecht und die harte Ausweisungspraxis bei kriminellen Ausländern ist eine explosive Mischung.» In unseren Nachbarländern sei man zum Beispiel viel mehr geschützt. Duran, Vedat und Mustafa wären, so Schaffter, in Deutschland, Österreich oder Frankreich für die gleichen Delikte nicht ausgewiesen worden.

Was Heimat denn für ihn bedeutet, fragen wir Jonas Schaffter zum Schluss. Er hält kurz inne, und sagt: «Heimat ist für mich ein Ort, in den ich pures Vertrauen habe. Metzerlen, aber auch Basel und Istanbul. Heimat ist aber auch die Sicherheit, jederzeit an diesen Ort zurückkehren zu können. Duran, Vedat und Mustafa haben diese Sicherheit verloren – und damit auch ein zentrales Stück ihrer Heimat.»

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«Arada» (Schweiz, 2020). 83 Minuten. Regie und Buch: Jonas Schaffter.

Jetzt im kult.kino Camera.

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