Venedig zelebriert die Grenzregionen
Bereits am Eröffnungstag bildeten sich an der 17. Architektur-Biennale Schlangen vor dem Schweizer Pavillon. Dieser hält auch für Besucherinnen und Besucher aus Basel Überraschendes bereit.
In Basel gehört es fast zum guten Ton: Mal lautes, mal leises Lamento über die Mühen und Macken des grenzüberschreitenden Alltags in der politisch zerstückelten Region. Eine ganz andere Sicht auf das Potenzial von Grenzen vermittelt der Schweizer Pavillon an der 17. Architektur-Biennale von Venedig. Die Schau inszeniert die Ränder des Landes – so die Co-Autorin Vanessa Lacaille – als «hoch produktive Verdichtungsräume».
Im Rahmen einer zweijährigen Feldstudie suchte sie mit ihrem Team vom Genfer Laboratoire d’architecture Menschen auf, denen Grenzen wichtig, teilweise sogar lieb und teuer sind. Sie wissen mit ihnen zu spielen oder gar ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen.
Aber Grenzen können auch Alpträume verursachen. Das gilt etwa für Bewohnerinnen und Bewohner von Asylempfangszentren. Diese stehen oft – nicht anders als das Bässlergut am Otterbacher Zoll – in Grenznähe.
Ein Beispiel, das die Pavillon-Gestalter*innen in Venedig präsentieren, erzählt die Geschichte einer Asylbewerberin. Sie lebt am südlichen Ende der Schweiz und geht gerne in der malerischen Flusslandschaft des Sottoceneri spazieren. Diese erinnert sie an ihre Heimat. Dabei hält sie aber übertriebene Sicherheitsabstände zur Grenze ein, aus Angst davor, unwillkürlich in Italien zu landen.
Visualisiert werden solche Geschichten mit Modellen der realen oder imaginierten Landschaften, in denen sie sich abspielen. Diese «Maquetten», wie Lacaille sie nennt, repräsentieren ein Panoptikum von Grenzgeschichten. Um die Gleichwertigkeit der subjektiven Erlebnisse zu unterstreichen, sind alle Modelle in neutralem Weiss gehalten, mit wenigen Farbtupfern. Filme an den Wänden vermitteln den Kontext und ergänzen das Erzählte mit einer eigenen Bildsprache.
Die Region Basel ist mit mehreren Beispielen vertreten, die allesamt ein positives Bild des Umgangs mit Grenzerfahrungen vermitteln. Als ob die Genfer Autor*innen des Biennale-Beitrags uns sagen wollten: Schaut, hier ist eine Stadt, die ihre Grenze schöpferisch zu nutzen versteht.
Eine «Maquette» vermittelt das Einkaufserlebnis im Weiler Rheincenter, wo sich Kundinnen und Kunden aus drei Ländern der Schnäppchenjagd hingeben – und damit ihr Einkommen strecken. Die einheimische Erzählerin, die ihre Beobachtungen mit den Biennale-Besuchern teilt, wies die westschweizer Ausstellungsmachenden «on tour» auf einen speziellen Aspekt dieses Ortes hin: «Lange Schlagen bilden sich jeweils vor dem Mehrwertsteuer-Schalter am Zoll.»
Um nah an der Geschichte zu bleiben, bezogen die Gestalter*innen diese Schlange ins Modell ein, als wären sie Teil der Architektur. So stehen sie noch bis zum Ende der Biennale am 21. November in Reih und Glied auf der «Maquette». Und zwar dort, wo sich der Menschenstau auch in Wirklichkeit beinahe tagtäglich bildet.
Ein anderes Beispiel aus der Region vermittelt die Erfahrung eines Arbeitswegs – mit dem Fahrrad – von Oberwil zum Vitra Design Museum. Man fühlt sich an die Fahrt von Albert Hoffmann erinnert, der vor 70 Jahren unter dem Einfluss seines ersten Selbstversuchs mit LSD in der Gegenrichtung nachhause pendelte.
Auch können wir – in einem weiteren Beitrag – teilhaben an der Faszination eines Logistikers für die scheinbar chaotische Infrastruktur- und Verkehrs-Landschaft rund um den Basler Rheinhafen.
Der Schweizer Biennale-Beitrag hat sein Thema auf der Grundlage einer Ausschreibung gewählt, bevor die Leitfrage der ganzen, monumentalen Schau mit Hunderten von Beiträgen bekannt war. Dennoch geben die Genfer Kurator*innen zufällig differenzierte Antworten auf die übergeordnete Frage: «How will we live together?» Denn Grenzen sind ja auch Reibungsflächen, wo sich die Qualität des Zusammenlebens offenbart.
Es war ein zeitgemässer Kniff des US-amerikanischen Chefkurators Hashim Sarkis, das Motto seiner hoch politischen Venezianer Schau in Frageform und nicht als allwissender Antwortgeber vor dem Hintergrund seiner MIT-Professur zu formulieren. Denn weit verbreitet scheint nur der Konsens darüber, dass die Welt am Abgrund steht. Die gezeigten Rezepte zur Umkehr klaffen weit auseinander. Sie reichen von der Übergabe der Verantwortung an eine diffuse Künstliche Intelligenz bis zu einem fast naiven «Zurück zur Natur».
Besonders die Verherrlichung der Lebensweise «indigener Völker», die sich wie ein roter Faden durch manche Beiträge zieht, zeigt in erschreckender Weise, wie hilflos die menschliche Existenz der drohenden, selbst verursachten Apokalypse gegenübersteht. Eine Einigung würde wohl manche Grenzüberschreitung voraussetzen, etwa eine Radikalität, die anstehenden Probleme unvoreingenommen und nicht ideologisch, aber von der Wurzel her anzupacken.
Vielleicht sind friedliche Grenzregionen wie Basel, mit ihrer jahrhundertealten Tradition der Zusammenarbeit über Differenzen hinweg, geeignet oder sogar in der Verantwortung, grundlegend neue Lösungsansätze auszuprobieren.
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Daniel Wiener ist Journalist, Unternehmer und Berater in Finanzfragen und Nachhaltiger Entwicklung (ua. ecos, GIB). Wiener ist in Liestal aufgewachsen und lebt jetzt in Basel.