So lebt es sich im neuen Westfeld-Wohnblock

Phillip Horch, seit Mai 2023 Bewohner des «Lena-Hauses» im Westfeld-Areal Basel, geht für Bajour auf Spurensuche: Was ist das für ein Haus, in dem ich da lebe? Es zeigt sich: Zwischen den Betonwänden steckt mehr als anfänglich gedacht.

Westfeld Lena
Im Gebäudekomplex «Lena» wohnen knapp 200 Menschen. (Bild: Boris Haberthuer)

Es summt, kriecht und zwitschert, als sich die ersten Strahlen der Sommersonne auf den Weg machen, um eine der beiden Dachterrassen des «Lena»-Hauses in Licht zu tauchen. Es ist 6.30 Uhr, der Geruch von blühenden einheimischen Stauden lädt die Insekten zum Zmorge. Ansonsten ist es oben auf dem Genossenschaftsgebäude, das seit April 2023 bewohnt wird, noch erstaunlich still, bedenkt man, dass in diesem Gebäudekomplex knapp 200 Menschen leben.

Ein Stockwerk tiefer sieht man den ersten Bewohner beim Sonnengruss im Bewegungsraum, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit macht. Er streckt und dehnt sich in einem von insgesamt acht Gemeinschaftsräumen, die die Bewohnenden teilen.

2000 Watt, 33 Quadratmeter, acht Gemeinschaftsräume

Lena, das steht für «Lebenswerte Nachbarschaft». Nachhaltigkeit und Solidarität, so wird es in den Gesprächen mit Bewohner*innen und Beteiligten immer wieder durchdringen, sind entscheidende Pfeiler, auf denen das Gebäude im übertragenen Sinne steht.

Aufgewachsen in einer baden-württembergischen Grossstadt und mit einem sechsjährigen Berlinaufenthalt im Rücken, konnte ich mir bei meiner Ankunft in Basel kaum vorstellen, wie das klappen soll. Noch während ich unseren gemieteten Umzugssprinter ausgeräumt hatte, fragte ich mich: Mit so vielen Menschen auf so engem Raum? Kann das funktionieren?

Das Projekt ist an Neustart Schweiz angelehnt, eine Initiative, die auf den Zürcher Anarcho-Philosophen Hans P.M. Widmer zurückgeht. In seinen utopischen Schriften schreibt er von kleinen Gemeinschaften, die anstelle von Staaten treten. In diesen «Bolos» leben die Menschen autonom. Mit Nachbarschaften à 500 Menschen, so liest man es bei Neustart Schweiz, soll es möglich werden, den CO2-Ausstoss der Menschen auf 2000-Watt zu senken. Nur so wäre es möglich, das Zwei-Grad-Ziel der internationalen Klimapolitik zu erreichen. Zur Orientierung: Der durchschnittliche Stromverbrauch der Schweizer ist aktuell etwa 2,5-mal so hoch.

Lena will dieses Ziel unter anderem erreichen, indem sie Wohnraum effizient nutzt. Die Architektur des Lena-Hauses maximiert den verfügbaren Raum durch Wohnbereiche, die sowohl ökologisch als auch sozial nachhaltig sind.

«Dass wir unseren Fussabdruck verkleinern müssen, ist, glaube ich, inzwischen bei vielen schon angekommen. Klassischen Investoren spielt das halt noch nicht in die Kasse», sagt dazu Maya Scheibler, eine der Architekt*innen des Hauses.

Westfeld Lena
Der Wohnraum soll effizient genutzt werden. (Bild: Boris Haberthuer)

Gemeinschaft als nachhaltiges Element

Die Wohnungen haben Platz für das Nötigste zum Leben, für alles andere gibt es die Gemeinschaftsräume. «Weniger Flächenverbrauch bedeutet weniger Baumaterial und weniger Heizungsenergie», erklärt Vorstandsmitglied Peter Würmli.

Das Haus ist so konzipiert, dass pro Bewohner*in 33 Quadratmeter zur Verfügung stehen. Nur ein Teil dieser Fläche wird für den eigentlichen Wohnraum verwendet, der Rest für Gemeinschaftsfläche. Die kleinsten Wohnungen haben ein Zimmer und 18 Quadratmeter, die grösste Wohnung ist die Cluster-WG mit acht Zimmern und 203,9 Quadratmetern.

Eine Herausforderung für Scheibler, die gemeinsam mit ihrem Mann Sylvain Villard und Lukas Baumann die Blaupause für das Projekt geliefert hatte: «Es ist eben nicht die 08/15-Form von Wohnen», erklärt Scheibler, «als Architektin finde ich es immer spannend, wenn eine Bauherrschaft etwas machen will, das ich noch nicht kenne oder das es noch nicht gibt.»

Und tatsächlich: In dieser Form hatte ich das noch nie gesehen, geschweige denn so gelebt. Eine gewisse Aufbruchstimmung war von Anfang an zu spüren, in der Architektur selbst und bei den Bewohnenden sowieso. Dass hier etwas Besonderes entsteht, hatte ich von Anfang an im Gefühl. Und dass unsere Dreizimmerwohnung «nur» 55 Quadratmeter gross ist, stört mich kaum. Wenn es mir zu eng wird, gehe ich in einen der Gemeinschaftsräume oder auf einen der Gemeinschaftsbalkone.

Westfeld Lena
Auch die Balkone werden geteilt. (Bild: Boris Haberthuer)

Die Aufgabe der Architekt*innen war es also, das Haus so zu gestalten, dass sie die geringe Quadratmeterzahl umsetzen konnten. Während der Planung, so Scheibler, habe sie sich kaum vorstellen können, wie die Gemeinschaftsräume später aussehen sollten: «Wer schaut denn auf die? Wenn da nix laufen würde, wäre das Haus ein bisschen tot.» Inzwischen ist sie mit ihrer Familie selbst ins Haus eingezogen, das Konzept hat sie überzeugt.

Die Gemeinschaftsräume bringen alles zusammen, was die Einzelnen nicht zwingend in ihrer Wohnung benötigen. Statt eines privaten Arbeitszimmers gibt es einen Co-Working-Space, anstelle der sperrigen Nähmaschine im Schlafzimmer tritt das Nähatelier. Für den Lesebedarf gibt es eine Bibliothek, für die Kinder zwei Spielräume und für kulinarische Gelüste gibt es die Gemeinschaftsbeiz «Cantilena», die die beiden Häuser miteinander verbindet. Sie versorgt sowohl Bewohnende als auch Gäste mit vegan-vegetarischem Bio-Essen aus der Region.

Westfeld Lena Cantilena
Die Hausbewohner*innen können in der Gemeinschaftsbeiz «Cantilena» gemeinsam essen. (Bild: Boris Haberthuer)

Die ausgefallene Architektur und der nachhaltige Wohnungsbau kommen jedoch mit einem Preis. So werden pro Zimmer einer Wohnung Pflichtanteilsscheine in Höhe von 12’000 Franken fällig, bei einer Vierzimmerwohnung sind es entsprechend 60'000 Franken. Für den Quadratmeter Wohnfläche zahlen Bewohner*innen je nach Lage zwischen 25 und 30 Franken.

Dennoch ist das Haus nicht nur für jene da, die es sich leisten können. Einkommensschwache Familien können einen Antrag auf finanzielle Unterstützung stellen. Finanziert wird das Ganze durch den Mietzinsausgleichsfonds, in den alle Bewohnenden jährlich entsprechend ihres Vermögens und Einkommens einzahlen. Für Wohnungen ab drei Zimmern gibt es ausserdem Familien- und Ausbildungsrabatte.

Schwere Anfänge

Roger Portmann, Betreiber der Beiz und eine der treibenden Kräfte hinter Lena, legte den Grundstein für das Projekt im Jahr 2012. In Lesegruppen trafen sich einige Idealist*innen und diskutierten: «Es wurde viel geredet, es gab viele Ideen, aber nichts Konkretes. Keine Gruppe, die sich um eine solche Nachbarschaft gekümmert hätte. Das habe ich zu meiner Aufgabe gemacht und versucht, mit verschiedenen Leuten etwas in diese Richtung zu bewirken.»

In unentlöhnter Eigenregie folgte 2015 gemeinsam mit einigen anderen Pionier*innen die Gründung der Genossenschaft, die Erarbeitung von Statuten sowie die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten. Dass auf dem ehemaligen Gelände des Felix-Platter-Spitals im Westen Basels ein neues Areal geplant wurde, spielte dem Vorhaben in die Karten.

Kinderzimmer Lena Westfeld
Pro Zimmer einer Wohnung werden Pflichtanteilsscheine in Höhe von 12’000 Franken fällig. (Bild: Boris Haberthuer)

Doch es lief längst nicht alles rund: «Der Vorstand war zum Teil chaotisch, auch überfordert. Als es in die Bau- und Planungsphase ging, kam Verunsicherung auf. Die erste Herausforderung war es, das Ganze organisatorisch und finanziell aufzustellen», erinnert sich Peter Würmli. Das hiess konkret: Gelder auftreiben.

Denn die Bedingung der Dachgenossenschaft wohnen&mehr war, dass sich Lena an zehn Prozent der Baukosten beteiligte – knapp 2,4 Millionen Franken. Hier war nicht nur viel Eigeninitiative gefragt, sondern auch wohlwollende Sympathisant*innen. Zwischen Frühling 2019 und Juni 2020 schafften es die Initiator*innen, den Grossteil des geforderten Geldes einzusammeln. Die elf grössten Geldgeber*innen mit 50’000 Franken und mehr waren Privatpersonen sowie die Wohngenossenschaft M93. Den Rest steuerten Genossenschafter*innen bei.

Soziokratie als verbindendes Element

Gesagt, beschlossen, gebaut. Die nächste drängende Frage stand schnell im Raum: Wie organisiert man das Zusammenleben von so vielen Menschen auf so wenig Raum? Wie Würmli weiter berichtet, war schnell klar, dass sich die künftigen Bewohnenden selbst organisieren sollten. Nach einigen Diskussionsrunden entschieden sich die Genossenschafter*innen deshalb für die Soziokratie.

Inzwischen schwebt sie auf und über allen Bereichen des gemeinschaftlichen Lebens im Lena. Wie man die Gemeinschaftsräume nutzt oder mit der solidarischen Landwirtschaft kommuniziert, entscheiden die Bewohnenden in Betriebsgruppen. So werden alle Bewohner*innen gehört und können sich einbringen. Kein Boss, keine Leitung, lediglich gewählte Personen, die die Informationen weitertragen.

Westfeld Lena Gemeinschaftsküche
Im Lebensmitteldepot gibt es einmal pro Woche frisches Bio-Gemüse. (Bild: Boris_Haberthuer)

Das kann zeitaufwendig sein. Von den vorgesehenen 45 Lena-Stunden, die alle Bewohnenden pro Kopf und Jahr für die Gemeinschaft einbringen sollen, verwenden sie aktuell noch einen Grossteil für Sitzungen. Die Konsequenz ist, dass sich Entscheidungen in die Länge ziehen können. Schliesslich gehen die meisten Bewohner*innen des Hauses neben ihrem Einsatz einer Erwerbsarbeit nach.

Zwischen Anspruch, Vision und Realität

Nicht immer scheint der Selbstanspruch der «Lenas» und die Wirklichkeit zusammenzugehen. Manchmal bleibt keine Zeit, das Besprochene auch umzusetzen.

So ist etwa eine gemeinschaftliche Verarbeitung des wöchentlich gelieferten Gemüses angedacht. Doch im Alltag reicht die Zeit dafür nicht aus: «Die Tage sind so ausgefüllt, dass eine weitere Beschäftigung wie regelmässiges Kochen kaum mehr Platz hat», erklärt Xavier Näpflin, Mitglied im Bereichskreis Lebensmittel.

Das Zeitproblem kenne ich selbst zu gut. Als gewählte Koordinationsperson der Betriebsgruppe Gastro, koordiniere ich nicht nur die Sitzungen, sondern treffe mich zusätzlich noch im Bereichskreis Lebensmittelversorgung. Wenn dann nach einem anstrengenden Arbeitstag von 18 bis 21 Uhr eine Sitzung geplant ist, fällt es mir auch nicht immer leicht, die Motivation dafür zu finden. Das ist der Preis der Selbstverwaltung.

Auch in der baulichen Planung ist nicht alles aufgegangen wie geplant. So hatten die Initiator*innen die gemeinschaftliche Nutzung der Entrées vorgesehen. Das hat sich jedoch erst nach dem Bezug aus feuerrechtlichen Gründen als problematisch herausgestellt. Nun stehen sie leer. Die Zweizimmerwohnung von Bewohnerin Barbara Dürr stösst dadurch an ihre Grenzen: «Die Wohnküche ist für mich nicht nur Küche, Büro und Stube, sondern auch noch Garderobe und Recycling-Station, Empfangszimmer für Besucher und vieles mehr. Diese Bereiche kommen sich ständig in die Quere.»

Westfeld Lena
Das Haus versteht sich als kleines Dorf in der Stadt. (Bild: Boris Haberthuer)

Idealismus, Widerstand und Kapitalismuskritik

Es ist viel in Bewegung im Lena-Haus. Die Betriebsgruppen organisieren Feste, gemeinschaftliche Kochaktionen, die Begrünung der Fassaden, die Reinigung oder Abende in der Bibliothek. Das Gespräch mit Lena-Initiator Portmann über die Entstehung des Projektes, zeigt, was überall durchscheint: Hier ist viel Idealismus am Werk. Und zwar als wichtiger Motor, um über zehn Jahre an einem Projekt mit ungewissem Ausgang zu arbeiten: «Ich hatte das Gefühl, dass die Welt, wie sie im Moment funktioniert, nicht nachhaltig ist. Nicht einmal zum Gewinn von denen, die vom aktuellen System profitieren. Vom Wirtschaftssystem über die Art zu leben, die Beziehungen, die wir führen, Religion und Moralvorstellungen – da habe ich das Gefühl, wir machen uns das Leben auf diesem Planeten wahnsinnig schwer.»

Eine mögliche Lösung, um diesem Problem entgegenzutreten, ist die Schaffung neuer Räume bei gleichzeitiger Verbrauchsreduktion:«Man muss halt nicht nur das Fähnchen schwenken und Pamphlete drucken. Man kann auch ein Haus bauen», erklärt Portmann.

Und in diesem Haus lebe ich nun. Knapp 1,5 Jahre, nachdem ich zweifelnd die letzten Kisten ausgeräumt hatte, kann ich sagen: Es funktioniert. Und es ist jeden Zusatzaufwand wert, hier zu leben. Dieses kleine Dorf mitten in der Stadt bietet mir und vielen anderen eine Heimat.

Pilotprojekt mit Zukunft?

Maya Scheibler, die als Dozentin für Architektur am Institut Architektur FHNW arbeitet, sieht ein wachsendes Interesse bei Student*innen für solche und ähnliche Projekte. Studiengänge wie «Critical Urbanism» an der Universität Basel greifen das Thema aus einer wissenschaftlichen Perspektive auf. Neustart Schweiz listet auf seiner Homepage insgesamt acht weitere Projekte in der Schweiz, die ähnlich aufgebaut sind.

Portmann hält es für wichtig, die Idee weiterzutragen: «Nicht, dass das unsere Nische ist und gut ist. Vielleicht braucht es noch ein bisschen Zeit, aber dann können wir sagen: Wollt ihr wirklich nur wohnen oder auch leben?»

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