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Häusliche Gewalt

In Liestal sollen Männer das Prügeln verlernen

Und zwar in Gruppenarbeit. Wie soll das gehen, ohne toxische Rudeldynamik? Einblicke in einen Kurs, der vor allem Täter zwingt, in den Spiegel zu schauen.

12/16/22, 04:00 AM

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Häusliche Gewalt ist in den allermeisten Fällen Männergewalt. Opfer sind Frauen, Familie, Kinder.

Häusliche Gewalt ist in den allermeisten Fällen Männergewalt. Opfer sind Frauen, Familie, Kinder. (Foto: Montage / Bajour)

Der Raum, in dem Männern das Prügeln abtrainiert werden soll, ist ein neutrales Beamt*innenzimmer in Liestal, Baselland. Montags, Dienstags und Mittwochabends finden die Kurse statt. 

Die Männer sitzen mal an Tischen in Hufeisenform, wie man das auch aus anderen Lernkontexten kennt. Manchmal beginnt der Kurs auch im Stuhlkreis. Zu Beginn sollen die Teilnehmer am Lernprogramm gegen häusliche Gewalt erst einmal darüber reden, was privat gerade passiert. 

Wie war das Wochenende? Alles unter Kontrolle?

Anlässlich der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» wurde viel über Opfer berichtet. Hier soll der Blick in die andere Richtung gelenkt werden. Nämlich auf die, die statistisch betrachtet am häufigsten zuschlagen: Männer. 

Das Lernprogramm gegen Häusliche Gewalt gibt es seit 2001. Wer dort landet, hat ein Gewaltproblem. Entweder er*sie wurde gewalttätig gegen Partner*in oder Kinder. Oder es besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es zu Gewaltausbrüchen kommt. Die meisten Kursteilnehmer sind Männer, darum fokussiert dieser Text auf Männergewalt und bildet dies sprachlich auch so ab. Das Programm ist ein gemeinsames Angebot der Kantone Basel-Stadt und Baselland.

Fünf Anrufe pro Tag bei der Opferhilfe

Alle zwei Wochen stirbt in der Schweiz eine Person infolge häuslicher Gewalt. Wie das Bundesamt für Statistik festhält, gehören Frauen deutlich öfter zu den Opfern. Der Frauenanteil unter den gewaltbetroffenen Personen häuslicher Gewalt liegt aktuell bei 70,1 Prozent. Die Opferhilfe beider Basel erhält im Durchschnitt fünf Anrufe am Tag. Sie hat anlässlich der Kampagne 16 Tage gegen Gewalt an Frauen ein Video veröffentlicht. 

Darin richten sich männliche Mitarbeiter der Anlaufstelle an andere Männer: 

«Als Männer finden wir es beschämend und traurig, dass andere Männer an Frauen Gewalt ausüben, sie erniedrigen, verletzen und töten.» 

«Es macht uns wütend, dass so viele Männer nicht in der Lage sind, Konflikte gewaltfrei und fair auszutragen.»

«Stopp mit Gewalt gegen Frauen!»

Wie lässt sich häusliche Gewalt stoppen? Kann man Schlägern das Prügeln wirklich abtrainieren – mit Flipchart und Stuhlkreis Montagabends in einem Behördenzimmer im Baselbiet?

Rüdiger Kipp sagt, man kann. Kipp ist als Mitarbeiter der Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt verantwortlich für den Bereich Tatpersonen, er hat viel Erfahrung im Umgang mit straffällig Gewordenen. Was ihn im Arbeitsfeld Häusliche Gewalt besonders überzeugt, sei, dass bei der Interventionsstelle der Opferschutz im Zentrum steht.

Was heisst das konkret?

Das bedeutet zum Beispiel, dass die Beziehungssituation der Kursteilnehmer im Lernprogramm thematisiert wird», sagt Kipp. Die Lebensgefährtinnen oder Ex-Partnerinnen der Täter werden von der Interventionsstelle kontaktiert. «Die Frauen sollen wissen, an wen sie sich wenden können. Es könne auch vorkommen, dass ein Partner*innengespräch stattfindet, «aber nur, wenn beide das wollen». 

Rüdiger Kipp sagt, häusliche Gewalt ziehe sich im Unterschied zur Gewalt im öffentlichen Raum durch alle Gesellschaftsschichten.

Rüdiger Kipp sagt, häusliche Gewalt ziehe sich im Unterschied zur Gewalt im öffentlichen Raum durch alle Gesellschaftsschichten. (Foto: zVg)

Im Zentrum des Lernprogramms steht aber die Arbeit an den eigenen Tatanteilen. «Wir sind keine Paarberatungsstelle», stellt Kipp klar. Manchmal komme es vor, dass gleichzeitig beide Partner*innen getrennt im Lernprogramm landen. Heisst: In manchen Fällen sind Frauen Opfer wie Täterinnen zugleich. «Die Verhältnisse sind nicht immer schwarz-weiss», sagt Kipp.

Die wenigsten Teilnehmer landen freiwillig im Lernprogramm in Liestal, sondern auf Empfehlung, Selbsterkenntnis – oder Zwang. Die Staatsanwaltschaft schickt sie, ein Gericht oder die Kesb. Die Verhältnisse in Zahlen: Zwischen 2001 und 2017 (dem Zeitpunkt der letzten Evaluation) wurden total 1038 gewaltausübende Männer dem Lernprogramm zugewiesen. Den Grossteil, 744 von ihnen, schickten die Strafverfolgungsbehörden. 78 kamen durch soziale oder medizinisch-therapeutische Institutionen. 86 waren sogenannte Selbstmelder. 

So landen die Männer im Lernprogramm gegen häusliche Gewalt.

So landen die Männer im Lernprogramm gegen häusliche Gewalt. (Foto: Evaluationsbericht Lernprogramm )

Manchmal kommen Männer nur unter der Auflage aus dem Gefängnis frei, in Liestal an ihrem Gewaltproblem zu arbeiten. 

26 Sitzungen umfasst das Programm. Das sind sechseinhalb Monate, in denen die Kursteilnehmer einmal die Woche für zwei Stunden in den eigenen Abgrund blicken. Wenn es während der Zeit zu einem Rückfall kommt, wird der Kurs um sechs Sitzungen verlängert. 

Das Wegtrainieren der Gewalt beginnt zum Beispiel beim Thema «Männlichkeit». Oder beim Thema «Respekt und Anerkennung». Beim «Konfliktverhalten». Es gibt mehrere Module, die in Themenblöcken à vier Sitzungen verhandelt werden. Einer davon heisst schlicht: «Gewalt.» 

Bei diesem Thema stehe die Tatrekonstruktion im Fokus, erzählt Kipp. Auf mehreren Ebenen wird eine Zeitachse aufgespannt. Erinnerungsprotokoll, Plakate, ein Seil am Boden, auf dem die Eskalationsstufen markiert werden. Kipp: «Das Ziel ist, dass man emotional nochmal reinkommt, in die Situation.» Was war drei Monate vor der Tat? Was war drei Wochen vorher, drei Tage, drei Stunden, drei Minuten? 

Auf diese Weise sollen Emotionen fragmentiert werden. Wann wäre der Moment gewesen, um auszusteigen? Die Idee dahinter: Die Eskalationsspirale verläuft nicht linear. Sie hat Bruchstellen. 

Männlichkeit, Respekt, Gewalt 

Die Arbeit an so einem Modul verläuft nicht für alle Kursteilnehmer gleich. So kann es sein, dass beispielsweise das Thema Gewalt anhand des Beispiels eines Kursteilnehmers auseinandergenommen wird. Die Kursleitung bestimmt, wer das ist. Die anderen Kursteilnehmer sollen ihre eigene Tatbiografie am Beispiel spiegeln und sich Fragen stellen.

Was hätte ich in dieser Situation getan? Wo habe ich mich wiedererkannt?

Um die Bruchstellen in der Eskalationsspirale zu nutzen, üben die Kursteilnehmer die Time-Out Regel. Die Anleitung lautet: «Verwenden Sie das Time-Out, wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie gewalttätig werden könnten und kein anderer Weg offensteht. Machen Sie deutlich, dass Sie jetzt ein Time-Out nehmen.»

Man kennt diese Szene als Negativbeispiel vielleicht aus Filmen: Es gibt Streit. Vorwürfe fliegen durch die Luft, die Aggression schaukelt sich hoch. Der Partner, oft ist es der Mann, rennt aus dem Zimmer. Knallt die Türe. Schnitt. Er sitzt im Auto, wahrscheinlich regnet es. Schnitt. Der Mann sitzt an der Bar. Er betrinkt sich. 

So soll ein Time-Out nicht aussehen. 

Es sei wichtig, im Moment aufflammender Aggression nicht einfach wegzugehen, sagt Kipp. So ein Time-Out soll vorher kommuniziert werden, damit das Gegenüber diese Pause auch einräumt. Am Besten sollte das Instrument des Time-Outs in einer ruhigen Phase schon angesprochen werden, damit dieser Ausweg schon im Raum steht. 

Das sei wertvoll, denn Time-Outs während Konflikten können von Partner*innen unterschiedlich interpretiert werden. Wenn sie nicht als bewusste Zäsur kommuniziert werden, dann können sie beispielsweise als feiges Reissausnehmen verstanden werden, wie in der geschilderten Filmszene. Diese Interpretation, die Flucht nämlich, kann dazu führen, dass das Gegenüber die Auszeit nicht akzeptiert und auf die Aushandlung des Konflikts beharrt. In Konflikten mit (potenziellen) Gewalttätern kann das problematisch sein.

Die Kursleitung übt darum mit den Männern, das Time-Out zu artikulieren. Die Männer sollen Verantwortung übernehmen für ihr Handeln.  

Erstmal durchatmen, wenn die Emotionen hochkochen – das klingt eigentümlich banal. Aber Kipp sagt, das sei nicht banal. Bei einer drohenden Eskalation kann ein Time-Out Gewalt verhindern. Im Extremfall kann es Leben retten. 

Was bringt das alles?

Nun stellt sich natürlich die Frage nach der Bilanz dieser Veranstaltung. Welchen Erfolg darf man von einer Schulung erwarten, zu der die Teilnehmer in den meisten Fällen von einer Strafverfolgungsbehörde verdonnert werden? Und deren Setting daraus besteht, dass in einem Liestaler Bürozimmer eine Gruppe (potenziell) gewalttätiger Männer nach Feierabend zusammen über Eskalationsspiralen nachdenken?

In der Schule würde man hier wahrscheinlich von Problempotenz sprechen. Je mehr Klassenchaoten in einem Raum, desto schlimmer. 

Aber das Lernprogramm ist nicht die Schule, sagt Kipp. Knapp drei Viertel der Teilnehmer sind im Alter zwischen 30 und 49 Jahren. «Die Männer haben Biografien, sie haben Beziehungen zerstört, manche ihr Leben.» Es komme zwar vor, dass Männer mit einer Abwehrhaltung einsteigen – doch die meisten von ihnen stellten mit der Zeit fest, dass ihnen der Inhalt des Kurses weiterhilft.

Das Lernprogramm sei absichtlich so organisiert, dass es keine Eintrittstermine gibt, bei denen die Neuen gemeinsam eine neue Klasse bilden, wie in der Schule. Sondern der Kurszyklus ist fortlaufend. Wer dem Lernprogramm zugewiesen wird, steigt möglichst rasch ein. Kurs-Erfahrene und Neulinge sitzen durcheinandergewürfelt zusammen. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass ein männliches Bündnis-Verhalten den Lernfortschritt sabotiert. 

Um die Frage nach dem Nutzen zu beantworten, misst die Behörde des Lernprogramms den Fortschritt in Zahlen. Eine Auswertung zeigte, dass Teilnehmer des Lernprogramms weniger rückfällig werden, als jene, die eine Teilnahme am Kurs verweigern. Die Ex-Partner*innen bestätigen eine positive Verhaltensänderung bei ihren früheren Partnern, was sich auf ihr Sicherheitsgefühl auswirke. 90 Prozent der Programmteilnehmer geben an, gelernt zu haben Konfliktsituationen gewaltfrei zu lösen.

Anlaufstellen Häusliche Gewalt

Baselland intensiviert den Schutz vor häuslicher Gewalt. Bis 2024 soll die Abteilung Prävention und Gewaltschutz auf 5,5 Stellen aufgestockt werden, gab die Baselbieter Sicherheitsdirektorin Kathrin Schweizer im November bekannt. 2020 wurde die Zahl der Schutzplätze in den Frauenhäusern verdoppelt.

Umfassendes Informationsmaterial zur häuslichen Gewalt in der Schweiz bietet das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Mann Frau.

Basel-Stadt: Seit Herbst 2022 läuft im Kleinbasel das Pilotprojekt «Halt Gewalt» zur Erhöhung der Zivilcourage bei häuslicher Gewalt. Eine Evaluation wird erst in knapp zwei Jahren vorliegen. Die Dunkelziffer bei sexualisierter Gewalt und häuslicher Gewalt sei hoch, sagte Sonja Roest, Leiterin Fachreferat beim Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement (JSD) an einer Medienkonferenz. Massnahmen gegen häusliche Gewalt stehen im Fokus der Behörden. Neu soll ein Schwerpunkt auf Prävention gelegt werden. 

  • In akuten Gewalt- und Bedrohungssituationen bittet die Polizei, direkt den Notruf 117 zu wählen.
  • Die Notfallnummer des Frauenhauses beider Basel lautet 061 681 66 33.
  • Die Opferhilfe beider Basel ist unter 061 205 09 10 erreichbar. 

Nochmal ein letzter Blick in diesen Schulungsraum und auf jene, die da sitzen. Häusliche Gewalt wird oft bestimmten Tätergruppen zugeschrieben, sagt Kipp, aber in der Praxis zeigt sich: «Das ist ein Problem, das sich durch alle Schichten zieht». In den Kursen sitzen Manager neben Lehrlingen. Führungspersonen neben einfachen Angestellten. Schweizer und Ausländer. Auch der Bildungsstand biete keine Anhaltspunkte über potenzielle Gewalttäter. Von allen Gewaltformen sei das Thema häusliche Gewalt darum besonders unberechenbar.  

Kipps Tipp an Nachbar*innen und Freund*innen, die von häuslicher Gewalt im Umfeld hören, unter Umständen den Täter oder die Täterin kennen: Nicht verschweigen. Nicht kleinreden. Die Polizei rufen. Beratungsstellen anrufen. Sich Hilfe holen. 

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