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Autobiografisches Solo

Und plötzlich bist du Jude

In «Versuch über das Schweigen» erzählt der Basler Regisseur Boris Nikitin, ganz allein auf der Bühne, wie ein einziger Brief sein Leben veränderte. Auf berührende Weise offenbart Nikitin seine Familiengeschichte: Erst nach dem Tod seiner Grossmutter erfährt er, dass sie Jüdin war.

03/23/23, 09:57 AM

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(Foto: Konrad Fersterer)

Der Raum ist ein schwarzes Loch. Dann zerteilt ein Lichtkegel die Finsternis und ein Mann setzt sich auf einen Stuhl. Er ist ungeschminkt, trägt Alltagskleidung und hält ein Manuskript.

Das ist Boris Nikitin, Regisseur und Autor, in Basel geboren und lebend, Sohn ukrainisch-slowakisch-französisch-jüdischer Einwanderer, ein wichtiger und preisgekrönter Regisseur und Autor – hier aber nun als Performer. 

Er wirkt allein und verloren. Er erzählt von sich selbst: Ein autobiografisches Solo in Ich-Form, die Irrungen und Wirrungen einer Identitätssuche, die Selbstzweifel. Welches Risiko! Stärker kann man sich kaum exponieren. Das könnte exhibitionistisch und peinlich werden, ins Anekdotische abrutschen. Aber das Gegenteil geschieht. Er gewinnt Kraft und rührt die Zuschauenden. Indem er seine Zweifel an sich selbst und seine Verwundbarkeit öffentlich zeigt, werden sie zu seiner Stärke.

Warum nur hat sie geschwiegen?

Er erzählt die Geschichte seiner engen Freundschaft zu seiner Grossmutter, die er über viele Jahre immer wieder in Bratislava besucht hat. Kurz vor ihrem Tod fällt diese Frau momentweise in seltsame Zustände, stammelt von Hunden und Aufseherinnen. Nach ihrem Tod erhält der Enkel einen Brief einer Cousine der Grossmutter aus Tel Aviv. Er besucht die alte, gebrechliche Dame und erfährt, dass er einer jüdischen Familie entstammt, und zwar in matrilinearer Linie. Das heisst: nach jüdischer Auffassung ist er ebenfalls Jude. Er erfährt von Familienmitgliedern, die von den Nazis ermordet wurden, von anderen, die überlebt haben, und wieder anderen, die Hilfe in der Not verweigert haben. Von alledem hat die Grossmutter trotz des Vertrauens, das sie ihrem Enkel schenkte, nie ein Wort erzählt.

Als Anfang und als Schluss seiner Erzählung erwähnt Nikitin die berühmte Posener Rede über den Massenmord am jüdischen Volk des Reichsführers SS Heinrich Himmler von 1943 und ergeht sich in Spekulationen darüber, warum sie aufgezeichnet wurde.

«Es scheint, ein Teil von ihr hat dieses Versteck nie verlassen.»

Regisseur und Performer Boris Nikitin über seine Grossmutter

Wichtig aber ist etwas anderes: Warum nur hat die Grossmutter geschwiegen? Nikitin erwägt einige Erklärungen und findet ein starkes Bild: Als Jüdin musste sich die Grossmutter in der Nazizeit verstecken – «und es scheint, dass ein Teil von ihr dieses Versteck nie verlassen hat.»

Das genau ist der Stachel! Boris Nikitin ist ein enthusiastischer Erzähler. Er glaubt an die stärkende und heilende Wirkung des «Coming-out» im weitesten Sinne: Coming-out von ihm selbst als schwuler Mann, Coming-out seines Vaters, der ihm von seiner tödlichen Krankheit erzählte (verarbeitet im Stück «Versuch über das Sterben», am 25.3. ebenfalls in der Kaserne zu sehen), und überhaupt das Veröffentlichen von Unausgesprochenem und Tabuisiertem. Die Grossmutter hatte ihm das «Coming-out» verweigert. Sie hatte jene Angst vor sich selbst und vor anderen Menschen, die der Künstler Nikitin ständig durch seine Kunst überwinden will. «Denn das ist die Utopie: nicht alleine zu sein. Wer schweigt, bleibt allein. Wer nicht schweigt, bleibt nicht allein», heisst es im «Versuch über das Sterben».

Klarheit und Schweissausbruch zugleich

Nikitins Geschichte ist aussergewöhnlich, denn Übertritte zum Judentum sind mühsam und dementsprechend selten. Hier aber wird einer ins Judentum geradezu hineinkatapultiert. Seine Reaktion ist zwiespältig. Als ein Chassid ihm sagt: «Ganz einfach, Du bist Jude», empfindet er einen Moment lang «angenehme Klarheit» und hat doch sofort einen Schweissausbruch, weil er in ein «Wir» gepresst wird. Der frischgebackene Jude betrachtet die Juden und Jüdinnen immer wieder von aussen.

Das ist nicht der einzige, offen verhandelte Gegensatz, der die Erzählung lebendig macht. Ein anderer betrifft das Dokumentartheater. Nikitin zitiert sich selbst mit einer grundsätzlichen Kritik am Dokumentarischen – und erzählt doch die ganze Zeit von der umstürzenden Wirkung der Zeugnisse, die er in der Familiengeschichte findet.

Text mit Rhythmus

Das Erstaunlichste aber haben wir noch gar nicht erwähnt: Nikitin erzählt nicht frei, sondern liest einen sorgfältig rhythmisierten Text vor. Die Seiten, die er gelesen hat, deponiert er in ritueller Art auf dem Boden. Er liest in einem lockeren Ton, schüttelt gelegentlich den Arm, der vom Halten des Papiers ermüdet ist. Das alles schafft Distanz und signalisiert: Das hier ist Kunst, ist Ästhetik!  

Nikitin berichtet viel von Alltagssituationen, menschlichen Begegnungen, Kindheitserlebnissen, Wahrnehmungen aus der Zeit des Realsozialismus in der Slowakei. So entsteht gleichsam nebenbei die Geschichte eines bedeutenden Abschnitts des 20. Jahrhunderts. Und so wird das Grauen des Holocaust, das ja erwähnt werden muss, erzählbar: es wird in Minidosen verabreicht und wirkt darum umso stärker.

Nach einer Vorstellung, die «Omanut», ein Zürcher Verein für jüdische Kultur, organisiert hat, sind die drei Vorstellungen von «Magda Toffler: Versuch über das Schweigen» gestern, heute und morgen in der Kaserne Basel die erste Gelegenheit, den grossartigen Abend in der Schweiz zu erleben. 

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