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Schocktelefon

Irma, Schrecken aller Ganoven

Mittels eines Schocktelefons versuchen Betrüger*innen, Irma Geld aus der Tasche zu ziehen. Die 58-Jährige beschliesst: Ungestraft kommen sie nicht davon.

04/27/23, 09:03 PM

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Mit einem zweiten Telefon hat Irma die Polizei informiert.

Mit einem zweiten Telefon hat Irma die Polizei informiert. (Foto: Michelle Isler)

Irma kennt sie, die Nachrichten von der Polizei, die vor sogenannten Schocktelefonen warnen. Betrüger*innen geben sich am Telefon zum Beispiel als Polizist*innen aus, sagen, dass nahe Verwandte einen schlimmen Unfall verursacht hätten und deswegen eine Kaution entrichtet werden müsse. 

Als Irma selbst so einen Anruf bekommt, bringt sie das trotzdem völlig aus der Fassung. Doch dann merkt sie, was Sache ist. Und sie beschliesst: Nicht mit mir.

Irma sitzt in einem beigefarbenen Sessel in ihrem Wohnzimmer, Brille ins blonde Haar hochgeschoben, die Finger ineinander verschränkt. Vor ihr auf dem Glastisch stehen gelbe Rosen und ein Kuchen unter einer Glashaube, ihr kleiner Hund Boby liegt auf dem Teppich, Bücher und DVDs sind in einem langen Regal hinter ihr säuberlich eingeräumt. Es gibt viel zu sehen in ihrer Wohnung, aber die Augen kommen gar nicht zum Herumwandern, wenn man Irmas Geschichte lauscht. 

Hund Boby war während des Schockanrufs an Irmas Seite.

Hund Boby war während des Schockanrufs an Irmas Seite. (Foto: zvg)

Irma hat Ökonomie und Statistik studiert, arbeitet heute beim Kanton Basel-Stadt. Sie ist keine Schauspielerin, aber Geschichten erzählen, das kann sie. Sie beschreibt lebhaft vom versuchten Betrug, spricht manchmal ganze Dialoge aus der Erinnerung nach und unterbricht dann, um das Gesagte zu kommentieren. Sie könnte in diesem Moment genauso gut auf einer Theaterbühne stehen.

Alles geschieht an einem Nachmittag vor ein paar Wochen. Irma sitzt an ihrem Schreibtisch im Homeoffice und ist mitten in einer Online-Besprechung, als ihr Festnetztelefon klingelt. Sie erwartet einen wichtigen Anruf und sagt dem Kollegen, sie komme gleich wieder. Aber Irma kommt an diesem Nachmittag nicht wieder zurück in die Sitzung. Sie drückt den grünen Knopf auf ihrem Telefon und meldet sich mit ihrem Namen.

Schocktelefon: Was tun?

Schocktelefon: Was tun?

Bei den geringsten Zweifeln, ob es sich bei Anrufer*innen um echte Polizist*innen handelt, solltest du das Gespräch sofort beenden und via Notruf 117 Kontakt mit der Polizei aufnehmen. Die Polizei fordert nie jemanden auf, Geld bei einer Bank bzw. einem Finanzinstitut abzuheben. Sie verlangt auch kein Geld, damit jemand nicht verhaftet wird. Tipps, wie du dich in so einem Fall verhalten solltest und wie du einem Betrug vorbeugen kannst, findest du hier:

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Die Anruferin sagt: Mama, Mama, ich habe die Frau umgebracht, ich bin zu schnell gefahren.

«Dabei habe ich gar keine Tochter», heute zuckt Irma unbeirrt mit den Schultern. Damals aber versetzte sie der Anruf in einen Schockzustand: «Die Frau hat so geheult. Es war schrecklich, ich habe begonnen, am ganzen Körper zu zittern. Ich sagte nur immer: Jesses Gott, jesses Gott.» Sie sei gar nicht zu Wort gekommen, um der Frau zu sagen, dass sie sich verwählt habe.

Vor lauter Schreck muss sich Irma setzen. Die Frau am Telefon sagt, Irma solle jetzt mit der Polizei sprechen und eine andere Frau meldet sich. Diese sagt, sie sei Polizistin und vom Amtsgericht. 

Irma blickt auf. «Das», sagt Irma triumphierend, «das war ihr Fehler. In null Komma null war mir klar: Das ist ein Betrug.» Vor fast 30 Jahren kam die heute 58-Jährige aus Albanien in die Schweiz. Hier arbeitete sie jahrelang nebenbei als Dolmetscherin, unter anderem an verschiedenen Gerichten. «Vom Strafgericht bis zum Appellationsgericht war da alles dabei. Deshalb weiss ich: In der Schweiz gibt es kein Amtsgericht.»

«Ich dachte, das ist meine Pflicht als Bürgerin und ein bisschen auch als Staatsangestellte. Zudem ertrage ich es einfach nicht, wenn Unrecht geschieht.»

Irma

Irma fasst einen Entschluss: Sie muss die Polizei alarmieren. Und sie will, dass diese Betrüger*innen geschnappt werden. «Das war mir so wichtig in dem Moment, ich dachte, das ist meine Pflicht als Bürgerin und ein bisschen auch als Staatsangestellte. Zudem ertrage ich es einfach nicht, wenn Unrecht geschieht.» Deshalb beendet Irma den Anruf nicht, sie hat eine Idee – und denkt in diesem Moment nicht daran, ob das für sie gefährlich werden könnte.

Irma sagt ins Telefon: Entschuldigung, hören Sie wie mein Telefon piepst? Der Akku ist leer, ich muss ganz schnell ein Akkugerät holen. 

Sie nimmt ihr Handy und ruft die Polizei an, erklärt im Flüsterton, was gerade passiert. Dann stellt sie die beiden Telefone auf Lautsprecher, damit die Polizei besser hört, was die Betrüger sagen. Die Anruferin am Telefon wird misstrauisch. 

Anruferin: Was war das?

Irma: Ich musste einen zweiten Anruf wegdrücken. Entschuldigung. Sagen Sie mir bitte, was ist mit meiner Tochter passiert?

Ihre Tochter sei zu schnell gefahren, sie habe einen Unfall verursacht und jemanden umgebracht. Sie sei jetzt in Gewahrsam und es bestehe die Möglichkeit, dass der Richter sie nach Hause gehen lasse, wenn eine Kaution von 134’000 Franken bezahlt würde.

«Ich musste einen zweiten Anruf wegdrücken. Entschuldigung. Sagen Sie mir bitte, was ist mit meiner Tochter passiert?»

Irma zu der Anruferin

Anruferin: Haben Sie das Geld?

Irma: Ja, aber ich muss zur Bank.

Anruferin: Welche Bank?

Irma nennt zwei Banken bei ihr ums Eck. 

Anruferin: Warten Sie, ich frage den Richter.

«So ging das hin und her. Ganz oft sagte die Frau, sie müsse den Richter etwas fragen», erinnert sich Irma.

Anruferin: Wissen Sie, wo das Amtsgericht ist?

Irma: Nein.

Anruferin: Haben Sie ein Auto?

Irma: Ja, aber es ist nicht hier.

Anruferin: Wo ist das Auto?

Irma: Der Mann hat es.

Anruferin: Haben Sie Geld zuhause?

Irma: Ja, ich glaube schon.

Anruferin: Wie viel?

Irma: Etwa 30’000 Franken.

«Dabei bin ich genau die Person, die nie Bargeld hat», lacht Irma verschmitzt. «Ich bezahle sogar Briefmarken mit der Karte. Und verheiratet bin ich auch nicht.» Der Ton der Anruferin sei sehr fordernd gewesen, «richtig unverschämt». Doch Irma beweist Nerven:

Als sie aufgefordert wird, das Geld zu zählen, raschelt sie mit Papier und «zählt». Als sie wiederholen muss, wie viel Geld sie hat und die Zahl von der zuvor genannten Summe abweicht, sagt sie: «Entschuldigung, ich zittere. Ich zähle nochmals, einen Moment.» 

Dann fängt ihr Hund Boby an zu bellen, richtig laut, in Richtung Wohnungstür. «Grosser Gott», denkt sich Irma. «Sind die Betrüger jetzt zu mir gekommen?» Mit je einem Telefon an einem Ohr schaut sie durch den Türspion. Da stehen zwei Polizist*innen im Treppenhaus. Dieses Mal sind es die echten. Irma atmet auf und lässt sie hinein. Die Polizist*innen lassen sie weitermachen, nur selten wirft Irma einen Blick in ihre Richtung, um sich Zuspruch für ihr Theaterspiel zu holen.

Boby kann auch bellen, wenn er will.

Boby kann auch bellen, wenn er will. (Foto: zVg)

Anruferin: Was war das?

Irma: Unser Hauswart putzt im Treppenhaus und der Hund hat deshalb gebellt.

Anruferin: Sie haben gar nicht gesagt, dass Sie einen Hund haben. 

Irma: Entschuldigung, Sie erzählen mir, dass meine Tochter jemanden überfahren hat und dann soll ich Ihnen noch von meinem Hund erzählen? 

Anruferin: Was will der Hauswart? 

Irma erfindet wieder eine Geschichte. Die Betrüger wollen ihre IBAN-Nummer, um ihr später das Geld zurückzuzahlen. Irma gibt die Nummer nach einem Daumen hoch der Polizei durch, liest sie aber in falscher Reihenfolge vor. 

«Das mit dem Geld war dann irgendwann geklärt», kommentiert sie und trinkt einen Schluck Wasser. Dann fragen sie nach Wertgegenständen. Die 58-Jährige hat weder wertvolle Uhren noch Goldbarren zuhause.

Anruferin: Haben Sie Wertgegenstände zuhause? 

Irma: Ja, ich habe so eine goldene Uhr, ein Erbstück. 

Anruferin: Welche Marke?

Irma: Das ist so klein geschrieben und so alt, das kann ich nicht lesen.

Anruferin: Haben Sie Goldbarren?

Irma: Ja, zwei.

Anruferin: Wie schwer sind die?

Irma hat keine Ahnung, wie schwer so ein Goldbarren ist. Sie lacht, als sie sich an diesen Moment erinnert.

Irma: Tausend Gramm.

Anruferin: Welche Nummern haben die Goldbarren?

«Ist das jetzt der Betrüger? Oder ist das einer von der Fahndung?»

fragt sich Irma

Irma googelt. Sieht irgendwelche Nummern auf Bildern. Nennt diese. Irgendwann wird sie angewiesen, sie müsse jetzt die Sachen in eine Tasche packen und diese einem Mann übergeben. Wo sie wohne? Sie nennt eine Hausnummer von nebenan. Währenddessen packt die Polizei in ihrer Wohnung alle möglichen Haushaltsgegenstände in eine Tasche.

«Mixer, Besteck, sogar Sparschäler und Guetzliförmchen haben sie genommen», lacht Irma. «Klar, es musste ja so aussehen, als sei sie gefüllt und schwer.»

Eine Polizistin begleitet Irma ins Treppenhaus und sagt ihr, Kollegen von der Fahndung seien draussen bereit. Vor der Tür hält Irma Ausschau, versucht den Mann zu erkennen, der ihre Wertsachen abholen soll. Bei jeder Person, die sie sieht, denkt sie: «Ist das jetzt der Betrüger? Oder ist das einer von der Fahndung?» Dann sieht sie einen älteren Herrn auf sie zukommen. Weil sie nicht weiss, ob die Fahndung bereit ist, denkt sie: «Jetzt muss ich noch etwas Zeit gewinnen.» 

Als der Mann vor ihr steht, streckte sie ihm ihre Hand entgegen: «Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind und mir mit meiner Tochter helfen», sagt sie und schüttelt seine Hand. Und dann geht alles ganz schnell: In dem Moment, als sie die andere Hand ausstreckt und ihm die Tasche übergibt, schnappt die Polizei zu. Irma dreht sich weg. 

Sie atmet hörbar aus. «Das wollte ich nicht sehen», sagt sie. Irma hatte genug. 

Nachdem die Polizei weg ist, denkt sie: «Grosser Gott, ich habe nicht mal ausgestempelt.»

Nachdem die Polizei weg ist, denkt Irma: «Grosser Gott, ich habe nicht mal ausgestempelt.»

Am nächsten Tag kommt die Polizei nochmals zu ihr nach Hause, spricht Irma einen Dank für ihren grossen Dienst aus. Bürokolleg*innen hängen einen Zettel an Irmas Bürotür: «Liebes Irmchen, du Heldin des Alltags, Schrecken der Strassen, Albtraum aller Ganoven», steht darauf. Sie lacht laut, als sie das vorliest. 

Macht sie das stolz? Nachdem die ganze Geschichte nur so aus ihr herausgesprudelt ist, bleibt sie bei dieser Frage einen Moment ganz still. Auf ihrem Sessel sitzend, zieht sie den Kopf zwischen die Schultern, knetet ihre Hände. Dann sagt sie mit ruhiger Stimme: «Nein, stolz nicht. Ich habe da wirklich nur meine Bürgerpflicht erfüllt.» Heute kann Irma verstehen, in welchem Schockzustand Betroffene sind, wenn sie so einen Anruf erhalten. Und sie versteht auch, dass Leute sich schämen, wenn sie darauf hereinfallen.

Auch wenn die Polizei generell empfiehlt, solche Anrufe sofort zu beenden, um Betrugsversuche zu verhindern, bereut Irma nicht, dass sie so gehandelt hat. Aber vor allem bei der Geldübergabe sei ihr unwohl geworden. «Ich weiss nicht, ob ich das noch einmal tun würde.» Die Sache hat etwas verändert bei ihr. Sie lässt ihre Fenster nicht mehr unbeaufsichtigt offen, kontrolliert öfter, ob die Tür wirklich abgeschlossen ist. «Ich bin kein Angsthase, aber ich bin jetzt auch nicht Lara Croft, gäll Boby.»

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