«Sozialhilfe ist keine Schande»

Warum beantragen Menschen, die eigentlich Anspruch auf Sozialhilfe hätten, diese nicht? Nicole Amacher arbeitet beim Verein Surprise zum Teil mit genau diesen Menschen. Die SP-Grossrätin sagt im Interview, die Bedürftigen müssten besser über die Hilfsangebote informiert werden.

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Kein Festmahl.

Frau Amacher, Sie haben mit einer Interpellation den Weg für die Studien zur Nichtbezugsquote von Sozialleistungen freigemacht. Was sagen Sie zu den Ergebnissen?

Ich hätte mir erhofft, dass die Studien stärker auf die Gründe eingehen, weshalb anspruchsberechtigte Menschen keine Sozialhilfe beziehen. Aber es ist gut, dass wir nun klare Angaben haben zum Ausmass: 30 Prozent Nichtbezug ist bedenklich.

Eine Betroffene hat mir erzählt, sie habe sich geschämt und deshalb keine Sozialhilfe bezogen (Bajour berichtete). Warum schämen sich Menschen dafür, Hilfe in Anspruch zu nehmen?

In der Schweiz definieren wir uns durchaus über Arbeit. Es wird gesellschaftlich erwartet, dass man für sich selbst sorgen kann. Man will der Allgemeinheit nicht auf der Tasche liegen, so heisst es oft. Leider ist Sozialhilfe auch mit negativen Stereotypen verknüpft: Man steht unter Generalverdacht des Betrugs, obwohl es verhältnismässig wenig Missbrauch gibt.

Sie arbeiten bei Surprise auch mit Menschen zusammen, die in Armutssituationen gelangt sind und dennoch keine Sozialhilfe beantragt haben. Was sind die Gründe dafür?

Manche Betroffenen erzählen von Erfahrungen mit dem Staat, die sie als negativ empfunden haben. Sie fühlten sich nackt, wenn sie ihre Geschichte den Behörden erzählen mussten und nicht selbstbestimmt, wenn sie staatliche Hilfe in Anspruch nahmen. Zudem haben  Menschen ohne Schweizer Bürgerrecht Angst vor Rückstufung und Ausweisung. Deshalb leben viele unter dem Existenzminimum und verzichten auf Sozialhilfe.

Nicole Amacher, SP
Zur Person

Nicole Amacher politisiert seit 2018 für die SP im Grossen Rat. Sie ist Co-Geschäftsleiterin vom Verein Surprise, der sozial benachteiligte Menschen mit Erwerbsmöglichkeiten und Angeboten zur gesellschaftlichen Teilhabe unterstützt. So verkaufen sie das gleichnamige Magazin, organisieren soziale Stadtrundgänge, einen Strassenchor und Obdachlosen-Strassenfussballturniere.

Was ist denn das Hauptproblem?

Wahrscheinlich ist es oft Unwissenheit. Sozialleistungen werden als grosse Falle  angesehen, aus der man nicht mehr rauskommt. Dass die Unterschiede zwischen den Kantonen so gross sind, hilft dabeinicht. In Basel-Stadt muss die Sozialhilfe nicht zurückgezahlt werden, auch wenn manche sich davor fürchten. Und Personen ohne Schweizer Pass ist nicht klar, wann ihnen migrationsrechtliche Konsequenzen drohen. Die Informationslage ist für die Betroffenen zu unübersichtlich.

Der Kanton hat deshalb auch Massnahmen angekündigt, zum Beispiel wurden schon mehrsprachige Erklärvideos zum Beantragen von Prämienverbilligungen produziert. Reicht das?

Das ist sicher nicht schlecht. Aber ich fände es wichtig, dass wir auch öffentlich darüber reden und so die Vorurteile abbauen. Es muss klar werden: Sozialhilfe ist keine Schande. Ausserdem muss der Kanton meiner Meinung nach proaktiv tätig werden. Er hat ja die Daten der Personen, die unter dem Existenzminimum leben. Warum werden die Anspruchsberechtigten nicht kontaktiert und auf ihr Recht hingewiesen, Sozialleistungen und wenn nötig Sozialhilfe zu beantragen und dabei administrativ unterstützt?

Würde das nicht in erster Linie teuer für den Staat werden?

Eine prekäre wirtschaftliche Lage und soziale Ausgrenzung machen krank, physisch und physisch. Viele Anspruchsberechtigte warten mit dem Gang zum Sozialamt, bis es gar nicht mehr geht. Aber die Gefahr einer Verschuldungsspirale, aus der sie nicht mehr rauskommen, ist dann eben höher. Das ist für die Betroffenen ein persönliches Desaster und kommt auch volkswirtschaftlich teuer.

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