Marie bezieht aus Scham keine Sozialhilfe

30 Prozent der Anspruchsberechtigten in Basel beantragen keine Sozialhilfe. Bajour hat mit Betroffenen gesprochen, was die Gründe dafür sind.

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Lieber zur Tafel als zum Sozialamt? (Bild: Joel Muniz/Unsplash)

Marie* hätte nie gedacht, dass sie mal über Sozialhilfe nachdenken müsste. Sie stammt aus einem bildungsbürgerlichen Haushalt, doch ihr Professoren-Vater verweigerte ihr die finanzielle Unterstützung, als sie mit 16 Jahren ungeplant schwanger wurde. Statt aber Sozialhilfe zu beantragen, versuchte Marie*, mit drei bis vier Jobs über die Runden zu kommen, bis sie die Matura nachgeholt hatte. Zum Teil musste sie schwarz arbeiten.

Unterdessen ist der Sohn von Marie* volljährig, sie selbst hat nach ihrem Jus-Studium eine Kaderstelle in einer international tätigen Unternehmensberatung angenommen. «Alles in allem ist es also doch noch gut gegangen für uns. Aber ich hätte es sicher besser und einfacher gehabt, wenn ich offen für Hilfe gewesen wäre», sagt sie. Da sie selbst Angst hatte, als «asozial» abgestempelt zu werden, hatte sie damals keine Sozialhilfe beantragt. Heute findet sie, es sei extrem wichtig, Sozialhilfe zu entstigmatisieren.

Denn Marie* ist nicht die einzige Person, die darauf verzichtet hat, Sozialhilfe zu beantragen, obwohl es ihr zugestanden hätte. Von allen Personen, die 2022 in Basel Anspruch auf Sozialhilfe gehabt hätten, bezogen rund 34 Prozent diese nicht. Diese Zahlen veröffentlichte der Kanton Basel-Stadt am Donnerstag im Zusammenhang mit der alljährlichen Sozialberichterstattung.

Nichtbezug kann gefährlich werden

Zwei Studien hatte der Kanton zum Nichtbezug von Sozialleistungen (also auch von Prämienverbilligungen, Ergänzungsleistungen und Familienmietzinsbeiträgen) in Auftrag gegeben. «Die mittel- und längerfristigen Folgen eines Nichtbezugs können Betroffene vor grosse Herausforderungen stellen und hohe Folgekosten verursachen», schreibt der Kanton. Als Risikofaktoren werden psychischer Stress, Perspektivlosigkeit, Suchtverhalten, Verlust der Arbeitsstelle, eine dauerhaften Verschuldungssituation und Obdachlosigkeit genannt.

Der Anteil der bezogenen Sozialleistungen im Kanton sinkt seit Jahren kontinuierlich, die Sozialhilfequote sank 2022 auf 5,3 Prozent (fünf Jahren zuvor waren es noch 6,7 Prozent). Auch vor diesem Hintergrund ist es relevant, abzuklären, ob die sinkende «offizielle Sozialhilfequote» einhergeht mit einer steigenden Dunkelziffer, nämlich der Nichtbezugsquote.

Diesen Schluss zieht der Kanton im Sozialbericht nicht, denn die Entwicklung der Nichtbezugsquote blieb bis 2019 stabil. Erst 2020 stieg sie substanziell um vier Prozentpunkte an – für die Folgejahre wurden die Daten noch nicht untersucht. Der Anstieg kann mit der Pandemie zusammenhängen – aber auch die 2019 in Kraft getretene Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) dürfte einen Einfluss gehabt haben.

Das kann der Kanton anhand der Studien bislang zumindest noch nicht ausschliessen. Denn durch die Revision des AIG wurden Aufenthaltsbewilligungen stärker an Integrationsvereinbarungen geknüpft – dazu kann auch finanzielle Selbstständigkeit zählen. Und tatsächlich: Die Sozialhilfe-Nichtbezugsquote lag 2019 bei Personen mit Aufenthaltsbewilligung B um rund 10 Prozent höher als bei Schweizer*innen, wie die Studie aufzeigt.

2023-05-26 Frage des Tages-2
Soll man Sozialleistungen einfacher beziehen können?

Rund 30 Prozent der Berechtigten in Basel beziehen keine Sozialhilfe – die Quote bleibt kontinuierlich gleich, während die Sozialbezugsquote sinkt. Auch bei weiteren, vorgelagerten Sozialleistungen wie Prämienverbilligungen, Familienmietzinsbeiträge und Ergänzungsleistungen ist die Nichtbezugsquote hoch. Der Kanton will jetzt Massnahmen erarbeiten und zum Beispiel mit Erklärvideos verständlicher machen, wie der Antrag funktioniert.

Zur Diskussion

Davon berichtet auch Stella*. Ihr Mann ist Dominikaner. Obwohl er gerade Mal 800 Franken in der Lehre verdient und damit mehr schlecht als recht über die Runden kommt, bezieht er keine Sozialhilfe. «Grund ist, dass er seinen Aufenthaltstitel verlieren könnte. Und wenn er sich einbürgern lassen will, muss er auch mindestens drei Jahre vorher keine Sozialhilfe bezogen haben», schreibt sie. Auch die Ausschaffung kann drohen (Bajour berichtete).

Die Regelungen über Widerruf und Rückstufung der Aufenthaltsbewilligungen bestätigen das. Doch ist die Sorge vor migrationsrechtlichen Konsequenzen der entscheidende Grund, warum Anspruchsberechtigte keine Sozialleistungen beziehen?

Der Kanton leitet aus den Studien einen anderen Hauptgrund für den Nichtbezug ab. Am entscheidendsten sei die Höhe der Bedarfslücke bei den Betroffenen, also wie viel Geld ihnen im Monat wirklich fehlt. Desto mehr Geld ihnen fehlt, desto wahrscheinlicher ist, dass sie wirklich Sozialleistungen beantragen. «Bei Personen mit grosser Bedarfslücke, welche unter dem Existenzminimum leben, ist es hingegen praktisch unmöglich, dass sie ohne finanzielle Hilfe leben können», schreibt der Kanton.

Allerdings nutzen die beiden Studien für die Analyse lediglich Steuerdaten. So kann zwar aufgezeigt werden, inwiefern die Nichtbezugsquote nach Haushaltstyp, Erwerbsstatus, Nationalität, Aufenthaltstitel und Alter variiert (nach Geschlecht wird nicht untersucht). Das reicht für Interpretationen. Was aber die wirklichen, individuellen Gründe für den Nichtbezug sind, bleibt offen.

Tabelle Nichtbezug
So verteilt sich die Nichtbezugsquote nach unterschiedlichen soziodemografischen Merkmalen. (Bild: Screenshot Sozialkennzahlen BS 2023)

Anhand dieser Daten will das kantonale Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt unter Kaspar Sutter (SP) nun Massnahmen erarbeiten, um die Nichtbezugsquote zu senken. Eine erste Massnahme wurde bereits umgesetzt: Für Prämienverbilligungen wurden Erklärvideos in fünf Sprachen (deutsch, englisch, französisch, italienisch und türkisch) erstellt. Sie sollen einfach und verständlich sein.

Genau das ist der Kritikpunkt von Géraldine*. Auch sie hätte Anspruch auf Sozialleistungen gehabt, aber nie welche beantragt – weil es ihr zu kompliziert schien. «Ich wusste nicht, an wen man sich da wenden soll. Schon bei der Schuldenberatung musste ich immer meine ganze Geschichte erzählen und dann hiess es, ich muss mich an jemand anderen wenden. Ich hatte schon so viel zu tun, dass ich nicht wusste, wo ich anfangen soll.»

*Die Namen im Text sind pseudonymsiert, da die Betroffenen nur anonym über ihre Situation sprechen wollten.

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Das ist David (er/ihm):

Von Waldshut (Deutschland) den Rhein runter nach Basel treiben lassen. Used to be Journalismus-Student (ZHAW Winterthur) und Dauer-Praktikant (Lokalzeitungen am Hochrhein, taz in Berlin, Wissenschaftsmagazin higgs). Besonderes Augenmerk auf Klimapolitik, Wohnpolitik, Demopolitik und Politikpolitk. Way too many Anglizismen.

Kommentare

Oliver
Antwort auf Basel Briefing

Nicht nur Scham, sondern Stolz

Bei meiner Mutter ist so ziemlich alles nach Murphys Gesetz gelaufen, wenn es zum Thema Geld und Vorsorge geht, wie es nur möglich ist. Lange Zeit lebte sie mit meinem Vater unverheiratet zusammen, zahlte nicht in die AHV & Pensionskasse, und war Hausfrau. Auch brach sie ihre KV ab, da sie schwanger wurde und holte nie die Ausbildung nach. Es folge eine Heirat und eine Scheidung.

Die Pensionskasse des Vaters ging durch Selbständigkeit (und Alkohol) flöten. Mein Vater starb, als ich noch jung war, dadurch aber erhielt sie den H Teil der AHV. Weil die Beitragsjahre aber sehr gering waren, lebten wir nicht mit der vollen AHV, sondern einem kleinen Teil plus den Kinderzulagen.

Rückblickend ein klarer Fall für Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe, welche sie aber nie in Anspruch nahm, da sie ihrer Mutter auf dem Sterbebett versprach, nie solche Hilfe anzunehmen. Wir lebten also weit unter der Armutsgrenze, auch wenn ich das als Kind nicht wirklich wahrgenommen habe.

Es gibt aber ein paar Erinnerungen, wie z.B. als mir meine Mutter im Coop sagte, ich solle Eier aus dem Regal nehmen und ich wohl die Freilandeier genommen habe. Zuhause hat sie das gesehen und diese für viel zu teuer erachtet. Dann musste ich die Eier zurückbringen. Es wurde also jeder Franken umgedreht.

Auch heute lebt sie noch von der AHV mit weniger als 2000 CHF/Jahr und lässt sich aber nicht helfen, obwohl ich und mein Bruder beide den sozialen Aufstieg geschafft haben, und beide einen sechstelligen Betrag verdienen. Ich verstecke manchmal eine 20er Note in ihrer Handtasche, wenn sie zu Besuch ist.

Im Briefing wurde geschrieben, dass Hilfe oft wegen Scham nicht genommen wird, ich denke aber, dass es bei meiner Mutter auch Stolz ist, weil sie trotzdem über die Runden kommt.