«Werden Sie bitte konkret, Herr Atici»

Nationalrat Mustafa Atici in der Kandidaten-Zange. Er beantwortet die harten Fragen von Andrea Fopp zu Bundesratswahlen, Autobahnen und der Credit Suisse, wo ihm zuletzt die Worte ausgehen.

Mustafa Atici, Nationalrat SP BS im Gespräch mit Andrea Fopp, Bajour
Zur Person

1996 hat Mustafa Atici am Steinenberg den ersten Kebab-Laden Basels eröffnet. Heute betreibt er ein Catering-Unternehmen im Joggeli. Atici kam in Elbistan (Türkei) zur Welt. Er engagiert sich für die Bildungs- und Integrationspolitik und bekommt reglemässig Anrufe von verzweifelten Müttern, die nicht wissen, wie ihre Jugendlichen einen passenden Beruf finden. 2019 ging Atici für Eva Herzog in den Nationalrat (sie holte den National- und Ständeratssitz), er sitzt in der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur.

Mustafa Atici, Sie kennen die Konditionen beim Gegenlesen?

Ja, ja, ich glaube, bis jetzt habe ich nie viel geändert beim Gegenlesen.

Gut, fangen wir an. Geben Sie es zu, Herr Atici, Ihre Bundesratskandidatur war eine Strategie, um mehr Bekanntheit während des Nationalratswahlkampfs zu erlangen.

Nein, überhaupt nicht. Eine halbe Stunde, nachdem Berset bekanntgab, dass er sich zurückziehen wird, habe ich einen Anruf von einem Journalisten von CH Media bekommen, der früher in Basel arbeitete.

Ben Rosch?

Genau. Er fragte mich: Mustafa, willst du Bundesrat werden? Und dann habe ich gesagt: Ja, warum nicht?

Aber Sie haben doch Ihre Bundesratskandidatur bei Prime News lanciert?

Das ist richtig.

Wenn man richtiges Interesse hat an einer Bundesratskandidatur, lanciert man diese doch nicht in einem Lokalportal, sondern in einem Leitmedium mit nationaler Reichweite?

Das ist vielleicht typisch Mustafa Atici, der in gewissen Dingen naiv ist. Man soll sein, wie man ist und sich treu bleiben. Und ich wusste ehrlich gesagt nicht, was wir beim Treffen mit Primenews besprechen werden. Ich hatte den Gründer, Christian Keller, beim Gewerbeverband-Sommerfest getroffen und er sagte da: «Mustafa, lass uns einmal ein Interview machen.» Und dann ging ich hin und wurde gefragt, ob ich Bundesrat werden wolle. Und ich sagte: «Ja, ich kandidiere.»

Moment. Sie wollen Bundesrat werden und die ganze Lancierung war reiner Zufall und gesteuert durch einzelne Journalisten? Wer das mächtigste Amt der Schweiz will, macht doch normalerweise vorher eine Medienstrategie.

Natürlich. Aber niemand wusste, dass Berset aufhört. Ich sah plötzlich eine politische Gelegenheit und ich habe mich richtig verhalten. Schauen Sie, ich bin jetzt seit dreieinhalb Jahren Nationalrat. Setze ich mich in Basel in einen Zug und steige in Bern aus, sehe ich dort so viele verschiedene Menschen aus verschiedenen Ländern herumlaufen – sie sind in der Schule tätig, in der Wirtschaft, im Sport. Aber wenn ich im Bundeshaus die Treppen hinaufsteige und mich herumschaue, ist das ein anderer Ort. Es wäre verantwortungslos gegenüber vielen Menschen in diesem Land, wenn ich nicht antrete. Sie sollen auch partizipieren können.

Meinen Sie Menschen mit Migrationshintergrund, die Sie im Bundesrat repräsentieren möchten?

Ja, 40 Prozent der Menschen haben Migrationshintergrund, und diese fehlen im Bundesrat.

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Her damit

  Haben Sie noch andere Qualitäten ausser Ihrer Herkunft, die Sie befähigen, Bundesrat zu sein?

Ja. Die grösste Schweizer Ressource ist ja Forschung, Innovation und Bildung. Mein Hauptanliegen ist deshalb, genug Ressourcen in die Bildung zu investieren. Auch in die Weiterbildung. Es reicht nicht, nur die Menschen zu unterstützen, die gut sind in der Schule und Erfolg haben. Es braucht ein lebenslanges Lernen. Dem ist sich der Bundesrat nicht bewusst. Und das finde ich eine Gefahr für unsere Zukunft.

Woran machen Sie das fest?

Ich kann Ihnen hunderte Beispiele geben.

Nennen Sie mir bitte das wichtigste.

Ich bin in der Kommission Wissenschaft, Bildung und Kultur. Kürzlich hat der Bundesrat die Bildungsbotschaft für die Jahre 2025 bis 2028 vorgestellt. Sie bestimmt die ungebundenen Ausgaben in die Forschung. Und der Bundesrat will in den nächsten vier Jahren nur ein nominelles Wachstum von zwei Prozent.

Das ist immer noch ein Wachstum.

Real wird der Bundesrat wohl weniger als ein Prozent investieren. In den letzten 20 Jahren betrug das Wachstum im Minimum 3.4 Prozent.

Die Bildungsausgaben sind immer noch einer der grössten Posten im Staatsbudget.

Das ist auch unsere Hauptressource in der Schweiz. Und nicht die Landwirtschaft, oder das Militär. Wir müssen dort investieren, wo wir stark sind. Das gibt auch soziale Sicherheit.

Inwiefern?

Menschen mit einer guten Ausbildung haben höhere Chancen auf einen Job. So, dass sie Ende Monat einen Lohn auf dem Konto haben, von dem sie auch leben können. Ich habe schon immer gesagt: Chancengleichheit in der Bildung entlastet den Sozialstaat und stärkt auch den Arbeitsmarkt, ebenso wie die Integration.

«Die Idee ist gut, aber in der Realität funktioniert sie nicht.»

von Mustafa Atici über die integrative Schule.

Wo muss man das Geld investieren, damit die Chancengleichheit besser wird?

Erstens in die Frühförderung. Zweitens in die Volksschule, diese müssen wir unbedingt stärken. Aktuell haben wir ja auch einige Probleme mit der integrativen Schule.

Sie sind gegen die integrative Schule, habe ich auf Smartvote gesehen. Im Gegensatz zu Ihrer parteiinternen Konkurrentin Sarah Wyss, welche die integrative Schule befürwortet.

Die Idee ist gut gemeint, aber in der Realität funktioniert sie nicht. Letzten Freitag habe ich am Kasernenplatz bei einem Anlass mit einer Lehrerin gesprochen. Sie hat Migrationshintergrund und erzählt, sie habe zwei Kinder, die spezielle Unterstützung brauchen. Aber die zuständigen Lehrkräfte haben nur dreissig Prozent Zeit für diese Kinder. Und alle Kinder sind nachher überfordert.

Möchten Sie zurück zu den Einführungsklassen?

Nein, diese führten früher zu einer Stigmatisierung. Ich habe schon immer gesagt: Es braucht eine neue Interpretation der integrativen Schule. Was heisst das? Also, ich will keine Kleinklassen wie früher. Damals wurde jeder, der in Deutsch nicht so weit war, sofort in die Kleinklasse gesteckt. Aber ich bin auch dagegen, dass Jugendliche mit teilweise sehr schwierigen Themen in Regelklassen gehen, ohne dass man die Lehrpersonen mit genügend Ressourcen unterstützt. Kinder sollen in gewissen Fächern spezielle Unterstützung erhalten.

Befürworten Sie entsprechend die Lerninseln, die Regierungsrat Conradin Cramer in Basel-Stadt vorgeschlagen hat? Oder was genau sind Ihre Vorstellungen?

Ich weiss nicht genau, was Conradin Cramer will, aber es hat mich sehr gefreut, dass auch der Regierungsrat die Realität anerkennt und jetzt Vorschläge gebracht hat. Man könnte ja sagen, alle Kinder haben zusammen Musik, Sport oder andere Fächer. Aber alle Kinder in allen Fächern zusammenzubringen, funktioniert nicht. Und was nicht funktioniert, sollte man ändern.

Mustafa Atici, Nationalrat SP BS im Gespräch mit Andrea Fopp, Bajour

Gemäss Smartvote sind Sie dagegen, dass die Politik die Maturitätsquote senkt. Warum? Das würde die Berufsbildung stärken und das wollen Sie doch.

Man kann das eine nicht gegen das andere ausspielen. Berufsbildung braucht mehr Investitionen, zum Beispiel in die Digitalisierung. In gewissen Berufsbereichen braucht es einen Strukturwandel. Wenn jemand eine Lehre macht, kostet das den Staat jährlich knapp 15’000 Franken. Und wenn jemand studiert, ist man bei 37’000 Franken.

Und wer zahlt später mehr Steuern? Die Person mit dem Studium oder mit der Lehre?

Das lässt sich im Einzelfall nicht genau sagen. Ich kenne einfach viele Menschen, die mit einer Lehre erfolgreich waren und jetzt eine eigene Firma führen. Das duale Berufsbildungssystem funktioniert hervorragend, wer eine Lehre gemacht hat, kann nachher immer noch an eine Fachhochschule.

Wo genau würden Sie denn das Geld in die Berufsbildung investieren?

Viele Lehrlinge, die nicht so einen grossen schulischen Rucksack haben, zeigen Mühe im ersten Lehrjahr – die Lehrabbrüche bei Gipsern, Malern oder in der Gastronomie betragen bis zu 40 Prozent.

In Basel-Stadt sind sie besonders hoch.

Genau. Jugendliche, die ein Problem in der Lehre haben, müssen manchmal zwei Monate warten, bis sie einen Termin mit ihrem Lehrbeauftragten bekommen. Das weiss ich von meinem ältesten Sohn. Dort braucht es mehr Ressourcen.

Also braucht es mehr Lehrbeauftragte, welche die Lernenden begleiten?

Hundert Prozent. Auch Sozialbetriebe, die schwierigen Jugendlichen eine Lehrstelle anbieten, sollten mehr Unterstützung bekommen. Ich kenne einen Jugendlichen, der macht eine Lehre in einem Hotel, ist aber nicht so gut in der Schule. Man hat mir gesagt: «Ali ist nicht so gut in Mathematik oder im Schreiben. Aber er ist ein toller Junge, er hat keinen Tag gefehlt, kam immer rechtzeitig zur Arbeit. Wir werden ihn behalten und weiterbilden.»

Dann funktioniert die Eigenverantwortung ja offensichtlich. Es fehlen überall Lehrlinge. Also haben die Betriebe ein Interesse, die wenigen, die es gibt, gut zu behandeln, nicht?

Das hängt stark vom Betrieb ab. Nicht jedes Unternehmen ist gleich sensibilisiert. Es braucht auch mehr Berufsberater. Vor zwei Monaten war ich mit einem Jungen in der Berufsberatung im Rosental. Er findet seit über einem Jahr keine Lehrstelle. Und was passiert? Die Person, die dort arbeitet, drückt ihm Unterlagen mit 22 Berufen in die Hand und fragt, was ihm denn gefallen würde. Detailhandel vielleicht? Die Menschen dort machen ihre Arbeit hervorragend, aber sie haben viel zu wenig Ressourcen, um einen Jugendlichen richtig zu beraten. Eine Stunde reicht doch nicht, um die Stärken eines jungen Menschen herauszuarbeiten.

Der Leiter Berufsberatung hat mir vor einigen Jahren erzählt, dass Basler Eltern häufig wollen, dass ihre Kinder ins Gymnasium gehen, auch wenn sie nicht qualifiziert sind. Und Oberbaselbieter Eltern schicken ihre Kinder eher in eine Lehre, auch wenn sie vielleicht ins Gymi gehörten. Vielleicht müsste man bei den Eltern ansetzen?

Es braucht beides. Ich höre oft das Vorurteil, dass Eltern mit Migrationshintergrund ihre Kinder lieber ins Gymi schicken. Das stimmt nicht, die Statistik zeigt, dass Kinder mit Schweizer Pass öfters eine höhere Ausbildung machen. Meine Erfahrung ist: Wenn man den Eltern erklärt, wie durchlässig unser Bildungssystem ist, hören sie zu. Ich habe noch keine einzige Familie erlebt, die gesagt hat: Mein Kind macht keine Lehre.

In bildungsbürgerlichen Kreisen habe ich das schon erlebt. Aber reden wir über Autobahnen.

Nur noch etwas zu den Eltern.

Aber ganz kurz.

Es hängt stark von der Herkunft und vom Bildungsstand der Eltern ab, wie gut die Kinder nachher in der Schule sind. Um alle Eltern mitzunehmen, habe ich 2011 im Basler Kantonsparlament einen Anzug eingereicht und gefordert, dass Schulen und Eltern Absichtserklärungen für eine gute Zusammenarbeit unterschreiben. Linke haben dann kritisiert, dass ich zu viel von Migrant*innen verlange. Nein, tue ich nicht. Mein Ziel ist, dass diese Menschen unser Schulsystem kennenlernen und ihre Kinder sich gut integrieren können.

«Im Kleinbasel leben 500 Menschen, die jeden Tag auswärts arbeiten (...). Diese Menschen sollen einen Parkplatz haben.

von Mustafa Atici über Verkehr.

Zu den Autobahnen. Freuen Sie sich, dass der Nationalrat letzte Woche entschieden hat, dass die A1 zwischen Bern und Zürich sowie Lausanne und Genf sechsspurig werden soll?

Überhaupt nicht, ich habe nein gestimmt. Wir sollten den ÖV ausbauen in einem Land, in dem die Besiedlung so dicht ist.

Bei Smartvote haben Sie angegeben, dass Sie einen Ausbau überlasteter Autobahnen befürworten.

Da hatte ich wahrscheinlich den Rheintunnel im Kopf. Ich bin für den Tunnel. Aber es ist klar, dass man den oberen Teil so gestalten muss, dass es gut ist für die Quartierbevölkerung. In Birsfelden ist die Situation nicht mehr aushaltbar. Es braucht mehr Velowege und die Autofahrer müssen wohl etwas Komfort abgeben.

Was bedeutet das?

Es braucht eine Entlastung auf der Osttangente für die Quartiere.

Wie genau?

Autofahren sollte nicht so einfach sein.

Wie genau würden Sie die Osttangente entlasten, Herr Atici?

Man sollte in gewissen Stunden mit dem Auto nicht mehr durchfahren können. In Birsfelden dürfen nach 16 Uhr auch nur noch Anwohnerinnen und Anwohner durch die Quartiere fahren.

Gäbe es dann nicht einfach Stau im Rheintunnel?

Nein, es wird keinen Stau geben. Wir wollen, dass die Menschen weniger Auto fahren. In Basel-Stadt haben wir beispielsweise weniger Parkplätze. Das ist in Ordnung, dann kommen weniger Autos in die Stadt.

Ist das nicht etwas ungerecht? Auf dem Bruderholz, wo viele gut betuchte Menschen leben, hat es Parkplätze en masse auf der Allmend. Aber im Klybeck oder im Matthäusquartier, wo viele Menschen mit wenig Geld leben, hat es kaum Parkplätze.

Es ist wirklich ungerecht. Im Kleinbasel kenne ich Menschen, die in der Baubranche arbeiten und mir sagen: «Mustafa, es ist schrecklich. Abends sagt mir der Chef, du musst morgen früh nach Olten und am Nachmittag nach Eptingen. Das ist unmöglich ohne Auto.» Für diese Menschen braucht es bezahlbare Parkhäuser.

Was heisst bezahlbar? Die Anwohnerparkkarte kostet 284 Franken im Jahr. Wieviel soll ein Platz im Quartierparking kosten?

Es könnte sogar noch günstiger sein.

Hätten Sie da Ihre SP und die Grünen auf Ihrer Seite?

Wissen Sie, ich bin einer, der die Realität anschaut und nicht ideologisch denkt. Im Kleinbasel leben 500 Menschen, die jeden Tag auswärts arbeiten und daher auf einen Parkplatz angewiesen sind. Diese Menschen sollen einen Parkplatz haben, damit sie weiterhin in der Stadt leben können.

Mustafa Atici, Nationalrat SP BS im Gespräch mit Andrea Fopp, Bajour

Gehen wir nochmals national, reden wir über die Credit Suisse. Wenn Sie Bundesrat werden, dürfen Sie eng mit Karin Keller-Sutter politisieren. Würde Sie das freuen? Sie hat immerhin die CS gerettet.

Volkswirtschaftlich war diese Entscheidung nötig, sonst hätte das ganze Schweizer Finanzsystem kollabieren können. Aber es ärgert mich ausserordentlich, dass man nichts aus dem UBS-Debakel von 2008, 2009 gelernt hat. Die Finma hat keine Zähne, die Aufsicht funktioniert überhaupt nicht, daher habe ich bereits im Mai einen Vorstoss eingereicht, dass die Finma gestärkt werden muss.

Wie muss die Aufsicht der Finma funktionieren?

Es braucht noch klarere Kontrollen und die Befunde aus diesen Kontrollen sollten auch zu Konsequenzen führen.

Was muss die Finma genau kontrollieren? 

Die Finma hat keine richtige Übersicht. Nehmen Sie das Beispiel Malaysia, wo die CS vor ein paar Jahren eine Milliarde Franken verloren hat. Unsere liebe Finma reagierte erst auf Druck aus den USA. Im Bankensektor ist diese Verantwortungslosigkeit Normalität. Wenn ein ganz einfacher Bürger oder eine Bürgerin etwas falsch macht, wird er oder sie bestraft. Aber die Manager in der Bankenbranche haben einen Freipass. Und es ist natürlich krass, wenn nachher die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zahlen.

Gut, wir zahlen ja nicht drauf. Der Staat hat eine Garantie gegeben und sogar noch Zinsen bekommen, welche dem knappen Bundesbudget etwas geholfen haben. Schon bei der UBS-Rettung hat der Staat alles Geld plus Zinsen zurückbekommen.

Nein, nein, es ist eine grosse Verantwortungslosigkeit. Ich als kleiner Unternehmer muss bei jedem kleinen Papier zittern und aufpassen, dass ich alle Formulare richtig ausfülle. Und bei der Bank und diesen verantwortungslosen Managern, die immer mehr Boni kassieren wollten, kommt der Staat und sagt: Ja, ja, du hast einen Freipass, im schlimmsten Fall retten wir dich schon.

Vielleicht müssen wir damit leben, dass wir die Banken im Notfall retten müssen, weil sie systemrelevant sind?

Nein, das muss sich ändern. Spitäler sind auch systemrelevant, aber wenn ein Spital verantwortungslos handelt, wird es auch nicht gerettet…

«Wir müssen die Sicherheit haben, dass die Finma den Banken auf die Finger schaut, und sieht, wenn ein Deal verantwortungslos war. Etwa bei Oligarchengeldern oder wenn sie merkt, dass etwas strafbar ist.»

von Mustafa Atici über die CS-Rettung.

Die Gewerkschaften haben erstaunlich positiv reagiert, weil «nur» 3000 Stellen verloren gehen aufgrund der Übernahme der CS durch die UBS.

Also ehrlich gesagt, bei dieser Sache gibt es nichts Positives zu holen. Jeder Arbeitsplatz, der verloren geht, belastet die Familien, die es trifft.

Der Fachkräftemangel im Bankensektor ist gross, finden diese Menschen nicht leicht wieder einen Job?

Wir dürfen das nicht herunterspielen. Das Problem ist, dass die Aufsicht im Finanzsystem nicht funktioniert.

Dann sagen Sie mir bitte konkret: Was muss sich ändern bei der Finma?

Es ist ja nicht nur die Aufsicht. Zuerst muss man das Eigenkapital der Banken erhöhen.

Die CS ist ja nicht am Eigenkapital gescheitert, sondern am Bankrun, am fehlenden Vertrauen.

Ja, dieses Problem kann man nicht nur mit einer Massnahme lösen. Eine starke Aufsicht braucht mehr Personal.

Die Finma ist in den letzten Jahren bereits gewachsen.

Ja, aber was für Instrumente hat sie zur Verfügung? Mir kommt es häufig vor, als wären die Bankdirektoren wichtiger als die Finmadirektoren. 

Gut, was ist das wichtigste Aufsichtsinstrument, das die Finma bekommen muss, damit ein Fall CS nicht noch einmal passiert?

Jede Kleinigkeit, die festgestellt wird, muss verfolgt werden…

Was für Kleinigkeiten zum Beispiel?

Also, ich weiss nicht. Wir müssen einfach die Sicherheit haben, dass die Finma den Banken auf die Finger schaut, und sieht, wenn ein Deal verantwortungslos war. Etwa bei Oligarchengeldern oder wenn man merkt, dass etwas strafbar ist.

Was soll strafbar sein?

Ja, also wenn ein Manager etwas Verantwortungsloses unternommen hat.

Herr Atici, Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie einen Vorstoss eingereicht haben. Dieser fordert, dass die Finma mehr Kontrollmöglichkeiten bekommt. Bitte werden Sie einmal konkret und sagen Sie ganz genau, welche Kontrollmöglichkeiten die Finma bekommen muss.

Ich bin kein Bankenspezialist. Aber wenn ich sehe, dass diese Manager beim Verwaltungsvermögen ein hohes Risiko eingegangen sind und an der Börse in irgendein Papier investiert haben, um immer mehr zu verdienen. Diese Mentalität, diese Logik…

Mustafa Atici, Nationalrat SP BS im Gespräch mit Andrea Fopp, Bajour

Also wollen Sie, dass die Finma Risikoanalysen der Tätigkeiten von Banken macht?

Also es sind viele Sachen. Ich bin kein Spezialist,  aber ich weiss, dass die Finma nicht funktioniert hat, weil sie ihre Aufgabe nicht richtig wahrgenommen hat. Der Aufgabenbereich der Finma sollte noch klarer definiert und ausgeweitet werden. Sie sollen nicht nur Berichte verfassen, sondern auch Befugnisse haben, reagieren zu können.

Welche Befugnisse? Mit dem Bundesrat zu reden, Bussen auszusprechen oder was?

Ich kann Ihnen kein Beispiel nennen. 

Wenn Sie einen Vorstoss machen und Massnahmen für die Finma definieren, müssen Sie mir diese doch erklären können, nicht? Ich verstehe immer noch nicht, was genau Sie fordern.

Das müssen Finanzspezialisten definieren. Ich kann als Politiker fordern, dass ein Betrieb das Lebensmittelgesetz einhält und dass das Lebensmittelgesetz alle wichtigen Punkte beinhalten muss. Aber ich kann als Laie nicht definieren, was diese Punkte sind.

Ja?

Und ich sage auch im Finanzbereich: Die Finma sollte eine Palette vor sich haben. Diese soll beispielsweise definieren: Okay, hier sind Privatvermögen und diejenigen, die diese Vermögen verwalten, bekommen so und so viel Geld. Und wenn rauskommt, dass es nach einem Jahr nicht funktioniert, sollen sie zur Verantwortung gezogen werden.

Gibt es denn diese Palette noch nicht oder kennen Sie sie einfach nicht?

Ich denke, dass es sie nicht gibt. Das war nie ein Thema. Es gab die UBS-Krise 2008 und dann hat man es verpasst, die Kompetenzen und Sanktionsmöglichkeiten der Aufsicht klar zu definieren.

Mustafa Atici, Nationalrat SP BS im Gespräch mit Andrea Fopp, Bajour

Lassen Sie mich kurz auf meine Fragen schauen. Ah ja: Die SP möchte, dass Banken nur eine Bilanzsumme von 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts haben dürfen. Wenn man das umsetzen würde, müsste die UBS auf einen Viertel reduziert werden. Wie muss ich mir das vorstellen?

Ich denke, dass die Finanzbranche seit der Finanzkrise für unsere Wirtschaft  nicht mehr so essentiell ist. Wir leiden darunter und wenn das Ausland Druck aufsetzt, geben wir sofort nach. Die UBS müsste man so weiterführen, dass sie für unsere Wirtschaft keine Gefahr mehr darstellt.

Wie müsste man die UBS schrumpfen?

Man müsste die UBS so aufstellen, dass sie die Interessen der KMU vertritt. 63 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts basieren auf inländischer Kaufkraft. Das heisst, wir brauchen auch für unsere KMU starke Banken. Ich würde die UBS auf verschiedene Sparten aufspalten.  Sonst stehen wir in zehn Jahren wieder vor demselben Problem wie heute.

Im Moment geht es der UBS ja gut, der Aktienkurs steigt. Würden bei einer Aufspaltung nicht Arbeitsplätze verloren gehen?

Mit einem guten Sozialplan und gezielter Weiterbildung könnte man diese Menschen gut in anderen Bereichen einsetzen. Die Schweiz sollte sich von der Finanzwirtschaft unabhängiger machen und mehr auf die Digitalisierung, umweltfreundliches Bauen und erneuerbare Energien setzen. Das sollte unsere Stärke sein. Im Umweltbereich fehlen Fachkräfte, ich habe letztes Jahr einen Vorstoss dazu eingereicht. Im Bereich Solarenergie, auf dem Bau, bei den Elektrikern und den Sanitären.

Also, wenn die UBS die CS schluckt, ist jede verlorene Stelle zu viel. Aber wenn die SP die UBS schrumpfen will, dann finden die Banker, die arbeitslos werden, sicher im Energiebereich etwas Neues?

Mein Wunsch ist nicht, dass jemand seinen Arbeitsplatz verliert. Aber mein übergeordnetes Ziel ist klar: Eine UBS, die bei Problemen die ganze Schweiz mit in den Abgrund ziehen könnte, so eine Bank will ich nicht.

«Menschen mit kleinem Budget können sich keine Weiterbildung leisten. Resultat: Wir holen Arbeitskräfte aus dem Ausland.»

von Mustafa Atici über Weiterbildungen.

Gut. Wollen Sie mir noch Ihren grössten Erfolg in Bern erzählen? Katja Christ und Sarah Wyss haben das auch gemacht. Am liebsten hätte ich etwas aus der Kommission, aber Sie dürfen wünschen.

Das Projekt Viamia unterstützt Menschen, die über 40 Jahre alt sind, darin, sich beruflich neu zu orientieren und sich weiterzubilden. Der Bund wollte das Projekt Ende dieses Jahres beenden. Ich habe durch einen Kommissionsauftrag erreicht, dass es nun auch in der nächsten Bildungsbotschaft noch drin ist. Der Bund ist bereit, das Projekt noch eine Periode zu unterstützen und dann will er es an die Kantone übergeben.

Warum ist Ihnen dieses Projekt wichtig?

Wissen Sie, durch die Digitalisierung und strukturelle Veränderungen in der Arbeitswelt besteht eine grosse Gefahr, dass viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, weil ihre Fähigkeiten nicht mehr gebraucht werden oder gar ihre Betriebe schliessen müssen. Das Armutsrisiko wird deshalb ab 40 Jahren grösser, obwohl wir Arbeitskräftemangel haben. Diese Menschen brauchen daher eine Weiterbildung, damit sie sich für die Jobs qualifizieren, die auf dem Markt sind. Doch Weiterbildung ist heute Privatsache, Menschen mit kleinem Budget können sich das nicht leisten. Resultat: Wir holen Arbeitskräfte aus dem Ausland. Nur: Andere europäische Länder haben auch Fachkräftemangel und zahlen bessere Löhne, es wird also immer schwieriger.

Herzlichen Dank, Herr Atici.

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