«Tragfähige Entscheide fallen in diesem Saal nicht vom Himmel»

Heute hat Claudio Miozzari (SP) das neue Jahr des Grossen Rats eingeläutet. Das ist seine Antrittsrede – Abstimmung inklusive.

Grossratsprasidium_2024_Claudio Miozzari
(Bild: Matthias Willi)

Sehr geehrter Herr Statthhalter

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen des Grossen Rates

Sehr geehrter Herr Regierungspräsident ad interim

Sehr geehrte Damen und Herren Regierungsrätinnen und Regierungsräte

Sehr geehrter Herr Vorsitzender des Gerichtsrates

Sehr geehrte Mitarbeitende des Parlamentsdienstes und der Staatskanzlei

Sehr geehrte Medienvertreter und Medienvertreterinnen

Sehr geehrte Gäste auf der Tribüne und an den Bildschirmen

Liebe Familie und Freunde

Manchmal darf ich im Rathaus Führungen machen, mit dem Kinderbüro und Primarschulklassen. Und das mache ich sehr, sehr gerne. Denn bei den Kindern ist immer eine riesige Faszination für unser buntes Haus und viel Interesse zu spüren. Am liebsten habe ich es, wenn sie mich mit tausend Fragen löchern. Über den Ratsbetrieb. Aber auch über irgendwelche Details hier im Haus. Ist das Türmli auf unserem Dach aus echtem Gold? Wieso hat der Römer neben unserem Treppenaufgang rote Unterhosen an? Was sind das für Wappen bei der Tribüne? Oft, aber nicht immer, weiss ich eine Antwort.

Wüssten Sie Antworten auf die Fragen? Bestimmt hat sich Ihr Blick während einer Sitzung auch schon mal in einer der Darstellungen hier im Raum verloren. Gross inszeniert ist über mir die Aufnahme Basels in die Eidgenossenschaft, gegenüber sehen wir grosse Darstellungen von Handel und Wissenschaft. Die Medaillons zwischen den Fenstern erinnern an Basler Amtsträger der Vergangenheit, den damaligen Zeiten entsprechend alles Männer… – etwa Johann Rudolf Wettstein, der für die Schweiz die Loslösung vom Deutschen Reich aushandelte. Oder Wilhelm Klein, der Basel die direkte Demokratie brachte.

Es gibt aber auch viele kleinere Darstellungen über den Türen und Inschriften, die uns ganz direkt ansprechen, nämlich so: Ihr Grossrätinnen und Grossräte, ihr Regierungsrätinnen und Regierungsräte, seid klug (wie Penelope über der ersten Türe zum Vorzimmer), tapfer (wie Lucius Scaevola über der zweiten Tür), gerecht (wie Zeleukos über der nächsten Türe) und massvoll (wie Alexander der Grosse über der hinteren Türe zur Garderobe). All die dargestellten Geschichten sollen eben nicht nur Kindern, sondern vor allem uns etwas mitgeben.

«Salus publica suprema lex» steht gross gegenüber an der Wand. «Das Gemeinwohl ist das oberste Gebot.» Leichter gesagt als getan! Aber ich würde behaupten: Alle hier drin handeln entsprechend – zumindest meistens. So unterschiedlich unsere Grundhaltungen, Ängste und Wünsche sind – unser gemeinsamer Nenner ist das Ziel, für das Wohlergehen der Bevölkerung unseres Kantons zu wirken. Natürlich sind wir uns oft überhaupt nicht einig, wo wir diesbezüglich stehen und welche Richtung wir einschlagen sollten. Diese Uneinigkeit wird anhalten, so lange die Demokratie funktioniert. Und doch ist uns gemeinsam, dass wir uns nach Kräften engagieren für das, was uns richtig scheint.

«Ich möchte in diesem Kontext mit aller Deutlichkeit für unsere Demokratie und für die Achtung der Menschenrechte einstehen.»

Diese Gemeinsamkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wertvoll und wichtig. Sie bietet die Grundlage für die immer wieder erneuerte gemeinsame Lösungssuche und den kollegialen Umgang vor, während und nach Debatten und Abstimmungen. Zu einer guten Diskussionskultur gehört es natürlich auch, dass politische Dispute hier am Redepult ihren Raum finden. Es dürfen auch mal pointierte Reden gehalten werden.

Wir haben als Gesellschaft ja auch wichtige Herausforderungen zu meistern. Die Schreckensmeldungen von internationalen Konflikten und die Verwerfungen, die das auch bei uns auslöst; aggressive Rhetorik, die ganze demokratische Ordnungen erschüttert; die schamlose Infragestellung von humanitären Übereinkünften auch bei uns. All das macht mir Sorgen. Und all das hat natürlich auch Auswirkungen auf unsere Diskussionen. Ich möchte in diesem Kontext mit aller Deutlichkeit für unsere Demokratie und für die Achtung der Menschenrechte einstehen. Und ich freue mich, wenn Sie es mir gleichtun.

Es schadet manchmal auch nicht, sich vor Augen zu führen, dass wir eines von vielen Kantonsparlamenten in der Schweiz sind und dass unser Kompetenzbereich von hier aus in alle Richtungen spätestens nach 8 Kilometern (und normalerweise schon viel früher) endet. Wir sind der flächenmässig kleinste Kanton der Schweiz. In diesem engen Bereich bestimmen wir als Parlament vieles – zugleich erreichen wir aber immer nur einen Teil der Menschen. Wir alle sind demokratisch gewählt und repräsentieren einen guten Teil der Wählerinnen und Wähler, wir sind vielleicht fast so bunt und gemischt wie diese. Aber es ist auch wahr, dass mehr als die Hälfte von ihnen gar nicht gewählt hat und ein weiterer, noch diverserer Teil der Bevölkerung überhaupt nicht wahlberechtigt ist.

Claudio Miozzari im Grossratssaal
Vier Fragen an den neuen Grossratspräsidenten

Am 10. Januar wurde Claudio Miozzari in das Amt des höchsten Baslers gewählt. Auf was freut er sich am meisten? Diese und drei weitere Fragen haben wir ihm auf Instagram gestellt.

zum Video

Auch mit dem immer kleiner werdenden Anteil von Wahlberechtigten in unserer Bevölkerung müssen wir uns auseinandersetzen. Ich finde: Unser Wahlrecht soll sich weiterentwickeln und Sie werden ja schon sehr bald über entsprechende Vorlagen entscheiden. Ausserdem und sowieso braucht es unser stetiges Bemühen, den Menschen zuzuhören. Nur wenn wir uns für verschiedene Lebensrealitäten interessieren, wird es uns gelingen, diesen gerecht zu werden und Lösungen zu finden, die zum Vorteil aller sind.

Was – liebe Kolleginnen und Kollegen – denken Sie, beeindruckt die Schülerinnen und Schüler im Rathaus am meisten? Ich verrate es Ihnen. Mehr noch: Ich führe es Ihnen vor. Die krasseste Wirkung hat unsere Technik und wie sie in diesem historizistischen Saal eingebaut, ja versteckt ist. Haben Sie schon einmal bewusst mitverfolgt, wie unsere Bildschirme und Leinwände «aus dem Täfer» fahren?

Ein Highlight ist es jeweils auch, wenn Klassen am Mikrofon des Redepultes debattieren und an «unseren Knöpfen» über Fragen abstimmen. Die Kinder und Jugendlichen sehen dabei, dass wir gleich funktionieren wie sie selber, wenn sie in der Klasse einen Entscheid fällen. Man bringt Argumente vor, man sucht nach einem Kompromiss. Und man fällt wenn nötig einen Mehrheitsentscheid, der auch von der Minderheit akzeptiert wird.

Gerne behaupte ich am Ende der Führung auf dem Turm des Rathauses jeweils, dass die Kinder nach ihrem Besuch das Haus wohl besser kennen als viele Ratsmitglieder. Diese Behauptung möchte ich nun verifizieren. Und zwar per Abstimmung. Die Kinder auf den Führungen werden jeweils gefragt, ob sie zuvor schon mal im Rathaus waren. Das frage ich Sie natürlich nicht. Meine Frage an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, lautet: Waren Sie schon einmal auf dem Rathausturm? Die Abstimmung startet jetzt.

«Ich finde: Unser Wahlrecht soll sich weiterentwickeln und Sie werden ja schon sehr bald über entsprechende Vorlagen entscheiden.»

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich mag sie, diese Momente, wenn die Bänke im Grossratssaal so gut besetzt sind. Wenn sich die politischen Verantwortungsträgerinnen und -träger versammeln. Wenn wir Verantwortungsgefühl und Wertschätzung für unsere politischen Institutionen zeigen.

Dass ich heute an so einem Moment sprechen darf, erfüllt mich mit Stolz und mit Demut. Mit Ihrer Unterstützung darf ich unseren Verhandlungen nun ein Jahr lang vorstehen. Ich werde mich nach bestem Wissen und Gewissen darum bemühen, dass wir geordnete Debatten führen und Entscheide korrekt fällen.

Und ich werde mich auch ausserhalb dieses Hauses dafür einsetzen, dass die Menschen in unserem Kanton möglichst viel über unsere Parlamentsarbeit erfahren. Ich werde erzählen, dass man mit uns Kontakt aufnehmen und sich einbringen kann. Dass die Demokratie vom Engagement aller lebt. Und dass gute, tragfähige Entscheide auch in diesem Saal nicht vom Himmel fallen – selbst wenn wir Bildschirme aus dem Täfer fahren lassen können.

Hiermit eröffne ich das vierte Amtsjahr der 44. Legislatur des Grossen Rats Basel-Stadt.

Bülent Pekerman
Mit Miozzaris Antritt endet Pekermans Amtsjahr.

«Ich war der erste Migrant auf diesem Stuhl», sagte Bülent Pekerman in seiner Schlussrede.

Hier weiterlesen
Bajour Herz
Hoi

Wir stehen für unabhängigen Lokaljournalismus. Komm an Bord als Member!

Das könnte dich auch interessieren

Wochenkommentar Leila Moon

Ina Bullwinkel am 13. Dezember 2024

Verlierer*innen, wo du hinschaust

Was bleibt übrig von der knapp einmonatigen Diskussion um die Vergabe des Kulturförderpreises an Leila Moon? Eine Jury, die sich und die Künstlerin angreifbar gemacht hat. Ein Amt für Kultur, das sich wieder einmal rechtfertigen musste. Und eine Künstlerin, an der nun ein Image haftet, das nur schwer zu revidieren ist. Ein Kommentar von Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

Weiterlesen
Pekerman2

Valerie Zaslawski am 10. Dezember 2024

«Wir werden sehen, ob Syrien wirklich ein Land für alle sein wird»

GLP-Grossrat Bülent Pekerman sagt im Interview mit Bajour, die Freude über den Sturz von Assad in der kurdischen Community sei gross. Er äussert aber auch Bedenken: «Die Türkei wird nun versuchen, den Kurden in Syrien das Leben schwer zu machen.»

Weiterlesen
Elisabeth Schneider-Schneiter Ukraine

David Rutschmann am 06. Dezember 2024

«Uns allen geht es um die humanitäre Tradition»

Die Baselbieterin Elisabeth Schneider-Schneiter war eine der Ausscherer*innen aus der Mitte, die im Nationalrat die Verschärfung des Schutzstatus S möglich machten. Sie findet es richtig, den Sonderschutz auf die akuten Kriegsgebiete zu beschränken – und hofft, dass man damit die Zuwanderungspolemik der SVP bekämpfen kann.

Weiterlesen
Valerie Kommentar-1

Valerie Zaslawski am 02. Dezember 2024

Alle Parteien raus! Sie haben da nichts zu suchen

Das Stadtteilsekretariat Kleinbasel steht in der Kritik, zu links zu sein. Nachdem die bürgerlichen Parteien ihm bereits den Rücken gekehrt haben, sollten auch die linken ihre Rolle überdenken. Parteien haben andere Gremien, um mitzuwirken, kommentiert Valerie Zaslawski.

Weiterlesen

Kommentare