Verbotsgesellschaft: Ein Unwort geistert durch die Schweiz

Tempolimits, Rauchverbote auf Spielplätzen oder verkehrsbefreite Innenstädte: Seit der Gründung der modernen Schweiz 1848 wurden unsere Freiheitsrechte immer stärker eingeschränkt, wird oft kritisiert. Das ist Unsinn, findet unser Kolumnist Roland Stark.

Ein Auto faehrt durch die verkehrsfreie Riehentorstrasse in Basel am Dienstag, 6. Januar 2015. Seit dem 5. Januar gilt in der Basler Innenstadt ein neues Verkehrskonzept, mit dem Fussgaenger mehr Platz erhalten sollen und der Fahrradverkehr gefoerdert werden, der oeffentliche Verkehr Vorrang haben, der Taxiverkehr privilegiert werden und der motorisierte Individualverkehr in der Innenstadt reduziert werden soll. (KEYSTONE/Georgios Kefalas)
Bevormundete Autofahrerinnen und Autofahrer: Der Airbag wurde Pflicht, das Gurtenobligatorium eingeführt, ebenso ein Tempolimit auf Autobahnen.

Schon ein flüchtiger Blick in die Medien oder auf die «Sünneli»-Propaganda für die Wahlen im Herbst lässt Schlimmes befürchten. Wir staunen: In den 175 Jahren seit der Gründung der modernen Schweiz 1848 wurden unsere Freiheitsrechte immer stärker eingeschränkt. Selbst ein kluger Kopf wie Eric Gujer, Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, behauptet allen Ernstes, die Gesellschaft mutiere zur «Erziehungsanstalt», welche ihren Insassen beibringe, welches Auto sie fahren, welche Heizung sie benutzen und wie sie korrekt sprechen sollen. 

Heute erregen Bettler, Klima-Kleber und Gendersterne die Gemüter. Früher waren es Fremdarbeiter («Tschinggen») oder langhaarige 68-er («ab nach Moskau»), die als Reize funktionierten wie beim Pawlow’schen Hund, dem der Speichel bereits floss, wenn er nur den Klang der Glocke hörte, die das baldige Essen ankündigte.

«Das Ansehen der Autofahrerinnen und Autofahrer rangiert unterdessen am untersten Ende der politischen Nahrungskette»

von Roland Stark

Angeblich – oder tatsächlich – sind in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Gesetze und Verordnungen beschlossen worden, die offenbar grosse Teile der Bevölkerung in tiefstes Unglück stürzten. Rauchverbot in Restaurants, Vermummungsverbot, Indianer, Eskimos und Kaminfeger sind aus Spielen, Kinderbüchern und Liedern verbannt, Lehrkräfte dürfen ihre Zöglinge nicht mehr schlagen oder mit Kreiden bewerfen, AKW’s, Gasheizungen und Fleisch auf dem Teller sind bald Geschichte. Selbst die Bezeichnungen «Mutter» und «Vater» sind akut gefährdet. Bäckereien verwandelten «Meitlibei» in «Glücksbringer».

Noch härter getroffen hat es aber die Autofahrerinnen und Autofahrer; ihr Ansehen rangiert unterdessen am untersten Ende der politischen Nahrungskette. Der Airbag wurde Pflicht, das Gurtenobligatorium eingeführt, ein Tempolimit auf Autobahnen. Hunderte Parkplätze vernichtet, zuerst am Barfi, in der Freien Strasse, dann auf dem Marktplatz und dem Münsterplatz. Und nun auch noch in den Quartierstrassen. Dazu Tempo 30, nicht nur vor Kindergärten, sondern gleich flächendeckend. Rücksichtslose Velofahrerinnen und Velofahrer, Baustellen, Staus, Ampeln und Umleitungen behindern die freie Fahrt. 

Roland Stark
Zur Person

Roland Stark schreibt für Bajour einmal im Monat Kolumnen - unter dem Titel: Unvermummt. Das kommt daher, dass Stark dem «Verein für eine deutliche Aussprache» angehört, der im harmoniebedürftigen Basel kaum Mitglieder hat. Stark wurde 1951 in Appenzell geboren, an der Universität Basel studierte er später Heilpädagogik und arbeitete 42 Jahre auf seinem Beruf. 1968 trat er in die St.Galler SP ein, 1981 bis 1990 war er Präsident der SP Basel-Stadt, und von 1992 bis 1997 deren Fraktionspräsident, 2000/2001 wurde er Verfassungsratspräsident und schliesslich 2008/2009 Grossratspräsident. Stark ist mit der Journalistin Claudia Kocher verheiratet und hat zwei Töchter (15 und 17). Was Stark besornders gerne mag: Lesen und Schreiben. Wandern. Gute Nahrung, fest und flüssig. SC Freiburg.

Über 30 Jahre vor Eric Gujer, im November 1990, hatte schon Friedrich Dürrenmatt, in seiner provokanten Rede zu Ehren Vaclav Havels, den Zustand unseres Landes sinngleich beschrieben:

«Die Gefängnisverwaltung, die alles gesetzlich zu regeln versucht, behauptet, das Gefängnis befinde sich in keiner Krise, die Gefangenen seien frei, insofern sie echte gefängnisverwaltungstreue Gefangene seien, während viele Gefangene der Meinung sind, das Gefängnis befinde sich in einer Krise, weil die Gefangenen nicht frei seien, sondern Gefangene.»

Die alllwissende Suchmaschine Google nennt auf Anfrage das Stichwort Verbotsgesellschaft 3430 mal: «Sind wir auf dem Weg in die Verbotsgesellschaft?», «Wie die Verbotsgesellschaft den Bürger entmündigt», «Signal gegen eine ausufernde Verbotsgesellschaft», «Im Eiltempo unterwegs zur Verbotsgesellschaft», «Der Irrweg in die Verbotsgesellschaft», usw. usf. Blättert man in den Texten, erkennt man sogleich ein riesiges Tohuwabohu, einen wirren Mix aus vernünftigen, überflüssigen und erfundenen Regeln. Im selben Topf finden sich etwa Tempolimits, Rauchverbote auf Spielplätzen, verkehrsbefreite Innenstädte, Mieterschutz, Maskenpflicht, Solarheizungen auf Dächern, Kleidervorschriften an Schulen, Handyverbot im Klassenzimmer, Gendersprache in der Verwaltung. Wer in einigen Jahren zurückblickt, schaut verwundert und erschreckt auf eine Gesellschaft ausser Rand und Band und eine Diskussionskultur ohne Mass und Vernunft.

Politik und Medien sind gefordert. In erster Linie aber steht jede und jeder Einzelne in der Verantwortung.

von Roland Stark

Vielleicht liest aber auch jemand nachträglich die Kolumne von Carolin Emcke unter dem Titel «Die Maulhelden» in der Süddeutschen Zeitung:

«Es ist ein eigentümlich narzisstisches Verständnis von Freiheit, wenn jede Regel, die Rücksicht auf andere, jedes Gesetz, das mit Blick auf das Gemeinwohl mir individuell etwas abverlangt, jede Norm, die zum Schutz von Personen oder Institutionen oder der Natur erlassen wird, kategorisch abgelehnt und als mutmassliche Repression umgedeutet wird. Jede Achtung vor anderen, jede Selbstbeschränkung, jedes Einhegen von eigenen Ansprüchen wird da schon mit infantilem Geplärre als Zumutung behauptet. Man könnte es für einen populistischen Kinder-Zirkus halten, was da gerade aufgeführt wird, wenn es nicht so gefährlich wäre in der Absage an demokratische Verbindlichkeit und Solidarität.» 

Der Krieg in der Ukraine, Corona, die Klimakrise, Flüchtlinge, wirtschaftliche und soziale Abstiegsängste und Umweltzerstörungen verunsichern viele Menschen und liefern Vereinfachern, Demagogen und Populisten reichlich Futter für ihre Hasspredigten und ideologischen Feldzüge.

Die immensen Herausforderungen sind  jedoch nur zu bewältigen, wenn sich die Gesellschaft auf Regeln des Zusammenhalts und der Rücksichtsnahme verständigt. Das nennt man Demokratie. Politik und Medien sind gefordert. In erster Linie aber steht jede und jeder Einzelne in der Verantwortung. In Wort und Tat.

Herz Tanz
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