VPOD stellt sich gegen den Lehrer*innenverband FSS

Seit zwei Jahren bauen Lehrpersonen rund um die Freiwillige Schulsynode Druck auf die integrative Schule auf. Jetzt schalten sich Lehrer*innen des VPOD ein. Sie halten an der Integration fest.

Kind
Wissen die Kinder, wie über sie berichtet wird?

Es gibt wohl kaum eine Interessensgruppe, die in letzter Zeit so viel Aufmerksamkeit bekommen hat wie die Basler Lehrer*innen. Sie seien überlastet, wiederholen Politik und Medien. Und zeichnen dabei ein Bild der Schule, bei dem die Kinder schlecht wegkommen. Es ist ein Bild verhaltensauffälliger Schüler*innen, welche ihre Impulskontrolle je länger je weniger im Griff haben, die Lehrpersonen beschimpfen und den Unterricht stören. Und die deswegen nicht in den Regelklassen unterrichtet werden können. 

Der Hintergrund: Vor zwei Jahren hat ein Komitee aus Lehrpersonen die Förderklasseninitiative lanciert, mit Unterstützung der Freiwilligen Schulsynode (FSS), des Berufsverbands der Lehrer*innen. 

«Förderklassen stempeln Kinder ab.»

von VPOD

Pädagog*innen, welche die integrative Schule gut finden, waren bislang wenige zu hören. Doch nun schaltet sich der VPOD mit einem Positionspapier ein. Die Gewerkschaft für «Angestellte im Service Public» vertritt auch Lehrpersonen. Und diese halten an der integrativen Schule fest. So beispielsweise Sandra Meier: «Förderklassen stempeln Kinder ab», sagt die Heilpädagogin. Sie seien ein Rückschritt zulasten der Kinder und nicht mit der Kinder- und Behindertenrechtskonvention der UNO vereinbar.

Und Thomas Lauer, selbst Seklehrer, befürchtet: «Es besteht die Gefahr, dass gewisse Jugendliche ausgesondert werden, die heute schon diskriminiert werden.» Etwa Schüler*innen die von Armut betroffen seien, Deutsch als Fremdsprache hätten oder mehr Aufmerksamkeit bräuchten. Das zeige die Erfahrung von früher. Damals seien vor allem Kinder mit Migrationshintergrund in Kleinklassen gesteckt worden. Diese hätten danach Mühe gehabt, eine Lehre zu finden.

Was ist integrative Schule?

Früher wurden Mädchen und Knaben mit Behinderung, einer Lernschwäche oder verhaltensauffällige Kinder in Kleinklassen unterrichtet. Seit zehn Jahren gehen fast alle Kinder in Regelklassen.

Was will die Förderklasseninitiative?

Eine Gruppe Basler Lehrpersonen möchte wieder Förderklassen für «besonders auffällige Kinder» einführen. Der Umgang mit Kindern mit hohem Förder- und Betreuungsbedarf sei heute unzureichend gelöst. Viele seien im heutigen System überfordert und bräuchten ein Setting in kleineren Klassen.

Bajour hat Heilpädagogin Sandra Meier, Seklehrer Thomas Lauer und Primarlehrerin Corina Casanova sowie Gewerkschaftssekretärin Alex Aronsky diese Woche im VPOD-Sekretariat am Claraplatz getroffen. Die Lehrpersonen möchten anonym bleiben, die Namen sind geändert.

Die drei Pädagog*innen räumen ein, dass die Basler Lehrer*innen aktuell überlastet seien, da hätten die Initiant*innen der Förderklasseninitiative schon recht. Aber nicht, weil die Kinder nicht integrierbar wären, sondern: «Uns fehlen die Zeit und das Rüstzeug, richtige Inklusion zu betreiben.» 

Primarlehrerin Casanova erzählt aus ihrem Unterricht. In ihrer Klasse hat sie ein Kind, das in die Psychomotorik geht, zwei, die Logopädie haben und zwei, die eine Therapie gegen Dyskalkulie besuchen. Das Kommen und Gehen bringe Unruhe, sagt Casanova, und: «Wenn die Kinder aus ihren Therapien zurückkommen, habe ich keine Ahnung, was sie dort gemacht haben.» Also könne sie die Einzelförderung auch nicht in ihren Unterricht einbeziehen, «Therapie und Schule werden nicht aufeinander abgestimmt».

«Die integrative Schule ist machbar. Es braucht einfach mehr Zeit für den Austausch.»

von VPOD

Der Grund: Es gebe praktisch null Absprachen zwischen den Therapeut*innen und den Lehrpersonen. Denn: «Diese sind im Stundenplan nicht vorgesehen.» Wenn man Glück habe, sehe man sich mal in der Pause, aber häufig nicht einmal das, da die Therapeut*innen zwischen den Schulhäusern pendeln. Die Folge: «Die involvierten Fachpersonen können gar nicht eine gemeinsame, stringente Strategie für das Kind entwickeln und diese auch regelmässig überprüfen», so Casanova.

Für Meier, Lauer und Casanova ist klar: «Die integrative Schule ist machbar.» Es brauche einfach mehr Zeit für den Austausch zwischen den verschiedenen Fachpersonen und den Kontakt zu den Kindern. 

Mächtiger Lehrer*innenverband

Dass sich nun die Gewerkschaft gegen den Berufsverband stellt, ist bemerkenswert. 

Die Freiwillige Schulsynode ist ein mächtiger Verband mit über 3000 Mitgliedern. Und sie hat eine Basis, von der andere Verbände träumen dürften: Alle, die in Basel-Stadt als Lehrer*in oder Fachperson in der Schule angestellt werde, erhalten Post von der Freiwilligen Schulsynode. Wer nicht darauf antwortet, ist automatisch Mitglied und bekommt eine Rechnung. Wer dem Verband nicht beitreten möchte, muss sich aktiv abmelden.

IMG_AE0B39DF410C-1
Jean-Michel Héritier und Marianne Schwegler von der Freiwilligen Schulsynode.

Dieselben Personen, die in der Geschäftsleitung der FSS sitzen, sind auch im Leitungsausschuss der Kantonalen Schulkonferenz tätig, wenn auch in anderen Funktionen. Dieses Organ vertritt die Lehrpersonen gegenüber dem Erziehungsdepartement und nimmt Stellung zu allen wichtigen Fragen. So hat sie im Sommer auch das Konsultationsverfahren geleitet, bei dem Lehrpersonen Stellung zum regierungsrätlichen Gegenvorschlag zur Förderklasseninitiative (siehe unten) nehmen durften.

Die Heilpädagogin Marianne Schwegler, beispielsweise, ist gleich dreifach involviert. Einmal als Mitglied des Initiativkomitees, einmal als Vizepräsidentin der FSS-Geschäftsleitung und einmal als Mitglied des leitenden Ausschusses der Kantonalen Schulkonferenz, wo sie das Sekretariat macht. Auch FSS-Präsident Jean-Michel Héritier sitzt in beiden Gremien und unterstützt die Initiative.

Regierungsrat Conradin Cramer (LDP) dürfte sich über das klare Bekenntnis der Gewerkschaft VPOD zur Inklusion freuen. Beim Gegenvorschlag hat er sich vom Motto «Integration vor Separation» leiten lassen. Statt separaten Klassen möchte er beispielsweise Fördergruppen einführen, in denen Schüler*innen mit Lernschwächen bis zehn Lektionen heilpädagogisch begleitet werden. Kostenpunkt des Pakets: knapp 14 Millionen Franken pro Jahr.

«Cramer macht Symptombekämpfung»

Dem VPOD ist auch das zu viel Separation: «Diese Massnahmen lösen das Problem nicht», sagt Alex Aronsky. Es handle sich um Symptombekämpfung. Aronsky hat den Eindruck, Cramer habe unter dem Druck der Förderinitiative einen Schnellschuss nach dem Motto «Hauptsache, es passiert etwas» rausgehauen, statt eine präzise Analyse der Probleme der Volksschule zu machen. 

Hätte Cramer das gemacht, hätte er gemerkt: «Es gibt bereits genug mögliche Werkzeuge in der integrativen Schule», so die VPOD-Sekretärin. Das Problem dabei sei aber: Es fehle die Ruhe und die Zeit, um wirklich abzuklären, was das einzelne Kind brauche und dies dann umzusetzen. Genau das fordert nun der VPOD im Positionspapier. Die Gewerkschaft will:

  • weniger Pflichtlektionen (dafür mehr Zeit für Integrationsarbeit)
  • Konstante Doppelbesetzungen im Klassenzimmer (weniger Kommen und Gehen, mehr Ruhe, bessere Absprachen)
  • weniger Bürokratie
  • mehr Zeit für Weiterbildung
Alexandra Aronsky
Alex Aronsky, VPOD-Sekretärin

Diese Forderungen dürften nicht billig sein, insbesondere die Doppelbesetzung pro Klasse. Und Basel-Stadt hat bereits jetzt das teuerste Bildungssystem der Schweiz. Aronsky ist aber überzeugt: «Gute Bildung kostet Geld. Schlechte Bildung kostet noch viel mehr Geld.» Die Pläne der FSS und Cramers Massnahmen brächten keine langfristige Entlastung der Lehrpersonen. «Wenn es so weitergeht, werfen viele Lehrpersonen das Handtuch», ist Aronsky überzeugt. «Das können wir uns zur Zeit des Fachkräftemangels nicht leisten.» 

Conradin Cramer
Erziehungsdepartement weist Kritik ab

Das Erziehungsdepartement lässt die Kritik an Regierungsrat Conradin Cramers Gegenvorschlag nicht gelten. Das System sei an Grenzen gestossen, so Sprecher Gaudenz Wacker: «Zuwarten ist daher keine Option». Auch die Initiative und Vorstösse aus dem Grossen Rat setzten «zeitliche Rahmenbedingungen».

Der Gegenvorschlag sei in Zusammenarbeit mit Fachspezialisten, Lehr- und Fachpersonen erarbeitet worden, sagt Wacker. Ausserdem konnte die Lehrer*innenschaft in der Konsultation über den Sommer Stellung nehmen, die Massnahmen seien «mehrheitlich auf breite Zustimmung» gestossen. 

Auch enthält der Gegenvorschlag bereits Verbesserungsvorschläge für vom VPOD angesprochene Probleme, etwa punkto Bürokratie oder Doppelbesetzung im Klassenzimmer. So möchte Cramer die Abläufe entschlacken und den Schulleitungen mehr Spielraum einräumen. In besonders belasteten Kindergärten sollen am Vormittag je zwei Lehrpersonen gemeinsam unterrichten. 

Zuletzt hat der VPOD noch eine Forderung, die für die Schweiz ziemlich radikal ist. Die Gewerkschaft möchte die Leistungszüge abschaffen. Im Basler Schulsystem gehen alle Kinder der Oberstufe in die gleiche Schule, nicht wie früher in die Real oder Sek. Die Kinder werden aber je nach Noten in unterschiedliche Leistungszüge gesteckt.

Laut den Lehrpersonen des VPOD macht das keinen Sinn. «Ein Kind mag in Deutsch in den stärksten Leistungszug P gehören, aber in Mathe hat es ein anderes Niveau.» Deshalb wäre es besser, die Kinder in jedem Fach in unterschiedliche Teams einzuteilen.

Um diesen Vorschlag umzusetzen, müsste man das Basler Schulsystem einmal mehr vollkommen umpflügen. Dazu ist die Schule kaum bereit, nach allen Umbrüchen in den letzten Jahren. 

Der VPOD hofft, dass seine Vorschläge in die Diskussionen des Grossen Rats, beziehungsweise die Bildungskommission einfliessen, die als nächste über die Förderklasseninitiative und den Gegenvorschlag befinden.

Die Fraktionen haben sich noch nicht offiziell zum Geschäft geäussert. Bislang war aber recht viel Rückhalt für Initiative und Gegenvorschlag zu spüren. Auch bei Teilen der Linken, denen die integrative Schule traditionell ideologisch nahe liegen dürfte.

Egal, wie die Diskussion ausgeht: Eins haben Schulsynode, VPOD und Regierung gemeinsam. Sie alle betonen, wie wichtig es sei, die Lehrpersonen zu entlasten und eine gute Beziehung zu den Schüler*innen zu ermöglichen. Doch wie sie hinkommen, darin sind sie sich uneinig.

Die Kinder, um die es geht, hört man aktuell nicht. Ob es sie kümmert, welches Bild die Politik und Medien aktuell von ihnen zeichnen?

Basel Briefing

Das wichtigste für den Tag
Jetzt Abonnieren
Jetzt Member Werden

Das könnte dich auch interessieren

Eva Biland Freizeit

Eva Biland am 29. April 2024

Freie Zeit oder Freizeit – eine Satire

Der Schweizer Erwerbsbevölkerung täte mehr Müssiggang gut, ist Kolumnistin Eva Biland überzeugt. Sie plädiert dafür, dass wir sorgsamer mit der arbeitsfreien Zeit umgehen. Der Mai mit seinen vielen Feiertagen lade geradezu dafür ein.

Weiterlesen
Kinder spielen

Valerie Wendenburg am 29. April 2024

Der Kampf um die Betreuungsplätze

In zwei Monaten beginnen die sechswöchigen Sommerferien und neben aller Vorfreude stellt sich für berufstätige Eltern die Frage: Wer betreut die Kinder? Der Kanton hält Angebote bereit, die allerdings selbst organisationsfreudige Eltern vor Herausforderungen stellen.

Weiterlesen
Vorher Nachher Dreispitz Nord Arealentwicklung

David Rutschmann am 26. April 2024

Alles unter einem Dach

Mit dem «Basel-baut-Zukunft»-Kompromiss im Rücken geht das Arealentwicklungs-Projekt «Dreispitz Nord» in die Planauflage.

Weiterlesen
Ausstellung Girls City

Jan Soder am 26. April 2024

Eine Stadt für Mädchen

In einer Ausstellung im De-Wette-Park zeigen Teenager*innen, wo sie sich in Basel wohlfühlen und wo nicht. Sie schreiben von Bäumen, Schatten und Sitzmöglichkeiten, aber auch von Dunkelheit, Dealern und der «Vorgeschichte Tod».

Weiterlesen

Kommentare