«Gefangene des Schicksals»

Ist uns vorbestimmt, was für ein Leben wir führen müssen? Der Film ist eine filmische Langzeitbegleitung von afghanischen und iranischen Geflüchtete, die im Zuge der Flüchtlingswelle von 2015 in die Schweiz gekommen sind. Eine Kritik von Filmexplorer.

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FilmexBan

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Dieser Artikel wurde aus dem Italienischen übersetzt.

«Ein Land zu verlassen, ist wie ein Ausbruch aus einem Gefängnis, und ein Land zu betreten, ist wie durch ein Nadelöhr zu gehen»: Diese Worte des kleinen Rupert (Michael Chaplin) im Dialog mit König Shahdov (Charles Chaplin) in King in New York (1957) fassen das Thema dieses berührenden Dokumentarfilms von Regisseur Mehdi Sahebi – gebürtiger Iraner, seit 1983 in der Schweiz – zusammen.

Durch die geschickte Verflechtung der Geschichten mehrerer in der Schweiz lebender Migrant:innen aus dem Nahen Osten, die vor dem Krieg in Afghanistan oder dem Regime im Iran geflohen sind, zeigt Mehdi Sahebi den Zuschauenden, dass Flüchtlinge nicht Herr ihres Schicksals sind. Diejenigen, die vor der Gefahr fliehen, selbst wenn sie eine Reise voller Tücken überleben, müssen mitunter sehr lange auf die Bewilligung ihres Asylantrags warten und in ihrem neuen Land jahrelang untätig bleiben, um dann vielleicht gezwungen zu sein, in die Hölle zurückzukehren, aus der sie zu fliehen versuchten, ohne eine Alternative zu haben, und «Gefangene ihres Schicksals» zu bleiben.

Kein Platz für Selbstgefälligkeit

Viele Einstellungen unterstreichen das Gefühl der Entwurzelung, das die Protagonist:innen empfinden: Die kahlen, grauen Äste vor dem fahlen Himmel hinter der Fensterscheibe des Schlafzimmers des jungen Ezat, die von elektrischem Licht erhellt wird, während er mit seiner Mutter telefoniert, die Wiederkehr des Frühlings im Gesang der Vögel und den blühenden Zweigen auf der Strasse, während Abolzafls Eltern ihrem Ärger Luft machen darüber, dass sie ihren Sohn nach monatelangem Bitten nicht mit in die Schweiz nehmen können, die Perserteppiche, auf denen die Protagonist:innen ihre Mahlzeiten einnehmen, während um sie herum weisse, gleichförmige Einrichtungsgegenstände dominieren. Doch die Orientierungslosigkeit der Protagonist:innen wird nicht nachsichtig behandelt, denn sie entsteht nicht durch die Möglichkeit einer Wahl zwischen ihrem Herkunftsland und Europa. Alles geschieht aus der Not heraus. Es gibt keinen Platz für Selbstgefälligkeit und keine Zeit für Selbstmitleid. Die vom Regisseur dargestellten Situationen sind dramatisch, aber mit grosser Sensibilität erzählt: Elmiras Mutter erklärt, dass sie seit Wochen nicht mehr mit ihrem Sohn telefoniert hat, weil es ihr wehtut, ihn nicht bei sich zu haben, und mit einem Lächeln – ohne Tränen – verrät sie, dass sie beschlossen hat, sich aus Traurigkeit die Haare abzurasieren (zu dieser Zeit lebt die Familie im Umkreis von Basel).

In einem Film, in dem die erzählerische Komponente überwiegt, entwickelt der Regisseur Mehdi Sahebi die Geschichten der Figuren durch ihren Alltag im Zielland, vor allem, wenn sie miteinander im Dialog stehen: ein Telefonat zwischen Mutter und Sohn, ein Gespräch zwischen zwei Freunden beim Kochen, ein gemeinsames Abendessen, die Fahrt ins Büro, all das erhält Bedeutung. Sahebi folgt den Figuren ständig und schafft es, dass sich die Zuschauenden mit ihren konkreten Existenzen identifiziert und eine starke Empathie für sie entwickelt. Sahebi bevorzugt Nahaufnahmen, mit ungewöhnlichen Einstellungen von oben oder unten, als ob die Kamera versteckt wäre, oder subjektive Aufnahmen von einer Figur, die zum Beispiel mit einer anderen durch den Bildschirm eines Telefons spricht, oder sehr nahe Aufnahmen in Momenten grosser emotionaler Intensität. Manchmal wenden sich die Figuren direkt an die Kamera, wobei die Anwesenheit des Regisseurs deutlich zu sehen ist, mit dem sie sich in einer Art Interview-Beichte offen austauschen.

Heimat, wo die Familie ist

Der passende Soundtrack fungiert als Voice-over, denn die Worte iranischer und afghanischer Liebeslieder (Marjah Farsad und Ahmad Zahir), die sich um die Themen Distanz und Trennung drehen und viele Sequenzen begleiten, betonen die Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Figuren, nämlich ihr Gefühl der inneren Zerrissenheit, ausgelöst durch eine Verlassenheit: eine geliebte Person anderswo zurückgelassen zu haben oder ihren Arbeitsplatz in ihrem Heimatland aufgegeben zu haben. Es sind Figuren, die schwierige Entscheidungen treffen müssen. Der Ort der Seele ist für sie jedoch nicht immer mit dem Herkunftsland identifiziert, sondern mit dem Ort, der die Liebe wiederherstellen kann, mit dem Ort, an dem eine Familie zusammenhalten kann. So heisst es in dem Lied, das die Flüchtlinge wie ein Schlaflied begleitet, wenn sie sich einer nach dem anderen auf ihr Bett legen und dann einschlafen: «Unsere Heimat ist weit weg, hinter den geduldigen Bergen, hinter den goldenen Feldern, hinter den leeren Wüsten, unsere Heimat ist auf der anderen Seite des Wassers, (...) sie ist in einem Traum, in einer Fantasie.»

Das Wort, das im Film so sehr dominiert, weicht nicht nur der Musik, sondern auch dem traditionellen Tanz, der in Zeitlupe gefilmt wird. Diese Wahl ist in den entscheidenden Momenten des Wiedersehens oder der Trennung der Protagonist:innen von ihren Liebsten vorherrschend.

Ständig auf Reise

Eine trockene Erzählweise trägt dazu bei, die Fakten auf wesentliche Weise zu erzählen und auch den nötigen Raum für Humor zu schaffen, wo die Protagonist:innen ihre Geschichten oft mit Witzen und lustigen Episoden anreichern. Darüber hinaus versteht es Sahebi, ein und dasselbe Ereignis aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten: Die Geschichte der polizeilichen Festnahme des Jungen Abolzafl an der türkisch-iranischen Grenze ist beispielhaft. Die Betrachtenden erfahren davon aus dem Bericht der Eltern des Kindes, aber auch aus einer Zeichnung von Abolzafl, die auf einem Telefonbildschirm zu sehen ist und von der Mutter kommentiert wird, und schliesslich aus dem direkten Bericht des Kindes Jahre später. Der Blick der Kinder auf die Realität, ihre Spiele, ihre ausgedehnten Zeiten, ihre leichten Unterhaltungen, ihre an die Erwachsenen gerichteten Fragen werden mit Poesie und Unschuld hier und da in die Erzählung eingefügt und werfen ein offenes Licht auf die Probleme, im Gegensatz zur Absurdität der bürokratischen Komplikationen der Erwachsenenwelt.

Der Film endet mit einer hoffnungsvollen Note: Mahmad offenbart Ezat, dass er sich geirrt hat, als er dachte, er könnte im Iran leben. Jetzt, weit weg von der Schweiz, spricht er mit seinem Freund (und den Zuschauenden) per Videoanruf. Verhaftet und verprügelt, versucht er sechsmal, die Grenze zur Türkei zu überqueren, bis es ihm – wie wir später erfahren – gelingt, in die Schweiz zurückzukehren. Emotional in die Geschehnisse des fragilen Mahmad involviert, will das Publikum des Films natürlich wissen, ob die Figur das Trauma des Krieges überwunden hat und versucht, sich ein neues Leben aufzubauen, es will die kleine Elmira und Abolzafl kennenlernen, und es will auch wissen, welchen Job Ezat jetzt hat.

Mit Prisoners of Fate ist es Sahebi zweifellos gelungen, dass wir den Geschichten seiner Figuren nahe sind und das Gefühl bekommen, dass ihre Existenz derjenigen von so vielen anonymen Gesichtern von Männern und Frauen ähnelt, die täglich versuchen, ihr eigenes Zuhause zu finden – ständig auf Reisen und doch immer wieder Ausländer:innen.

Info

Prisoners of Fate - Gefangene des Schicksals | Film | Mehdi Sahebi | CH 2023 | 100’ | Locarno Film Festival 2023, Semaine de la critique; Solothurner Filmtage 2024 | CH-Distribution: Cineworx

In der Region

Wo läuft der Film? Zur Übersicht. Am 19. März 2024 findet eine Sondervorstellung im Palazzo Kino Liestal statt.

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