So bünzlig wie Basel
Der SP-Mann Mustafa Atici ist Sozialinstitution und Wirtschaftswunder zugleich. Am Ende dürfte sein Migrationshintergrund über die Ersatzwahl in den Regierungsrat entscheiden. Was sagt das über das weltoffene Basel?
«Das hier ist der Stammtisch von Mustafa Atici», sagt der Kellner im Restaurant Casino und verweist die Journalistin in eine ruhigere Ecke der Pizzeria am Tellplatz im Gundeli. Der alt SP-Nationalrat wohnt nicht weit von hier, in einem schicken Haus auf dem Bruderholz, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. Er kommt hier beinahe täglich vorbei – und trinkt Tee. Tee mit verschiedensten Menschen, manchmal mehrmals am Tag. An diesem kalten Januarmorgen auch mit Bajour, denn Atici will in den Basler Regierungsrat, wo durch die Wahl von Beat Jans in die Landesregierung ein Platz frei geworden ist.
Atici hat sich mit seiner Kandidatur auch fürs Präsidialdepartement beworben, doch hofft er wohl insgeheim auf das wahrscheinlich frei werdende Erziehungsdepartement (ED). Denn der jetzige Departementsvorsteher, Conradin Cramer (LDP), strebt einen Wechsel an – und es ist davon auszugehen, dass dieser auch gelingen wird. Es ist kein Geheimnis, dass das ED das Traumdepartement des langjährigen Bildungspolitikers Atici ist.
Dossiersicher, fleissig, sorgfältig
Er, der 1969 in Elbistan im Osten der Türkei geboren wurde und 1992 fürs Masterstudium in die Schweiz kam, sass zwischen 2005 und 2019 im Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt, wo er Mitglied der Finanzkommission war. Später wurde Atici zum Nationalrat gewählt. Und gehörte der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) an. Die politischen Hauptthemen von Atici sind die KMUs, die Frühförderung und die Integrationspolitik. Vergangenen Herbst wurde er trotz sehr gutem Ergebnis abgewählt, Basel-Stadt hatte einen Sitz weniger zu besetzen in Bundesbern – mit den zweitmeisten Stimmen, wie er stolz betont.
Spricht man mit politischen Wegbegleiter*innen, hört man quasi durchs Band Positives über den Mann, der bereits seit 23 Jahren in der SP politisiert: Er sei ein dossiersicherer, sehr fleissiger Mensch, der überaus sorgfältig arbeite. Der Berner SP-Nationalrat und ehemalige WBK-Präsident Matthias Aebischer sagt: «Atici ist einer, der weiss, wie man Mehrheiten macht, er schafft es, sowohl die FDP als auch die Mitte von seinen Anliegen zu überzeugen.» Er sei kein Sozialdemokrat, der mit erhobener Faust und wehender Fahne auf die Leute zugehe. Er sei klug, intelligent, denke messerscharf. Auch GLP-Nationalrätin Katja Christ hat nur Lob für ihn übrig: «Atici ist aufrichtig, klar und ehrlich. Er hat sich stets kompromissbereit gezeigt. Ich habe ein grosses Vertrauen in ihn.» Im SRF-Regionaljournal gab die bürgerliche LDP-Nationalrätin Patricia von Falkenstein hingegen zu Protokoll, sein Leistungsausweis sei zu dünn. Sie habe in den zwei Jahren, in denen sie gemeinsam im Nationalrat sassen, nicht gesehen, dass er sich in vielen Dossiers ausgekannt habe.
Die Frage ist, in wie vielen Dossiers man stark sein muss, um ein guter Politiker zu sein, genauer: ein guter Regierungsrat? Was Atici indes ebenfalls nachgesagt wird: dass er sich extra das Bildungsdossier geschnappt habe, weil er, der nicht gerade fürs Poltern bekannt ist, hier mit wenig Konfrontation habe rechnen müssen. Denn: Wer hat schon etwas gegen Bildung? Atici sieht das komplett anders: «In diesem Bereich sparen Bürgerliche besonders gerne.» Das Bildungsdossier sei ihm wichtig, weil es «themenübergreifend ist: Gute Bildung bedeutet auch soziale Sicherheit». Für seinen wohl grössten Erfolg, die Frühförderung, habe er durchaus kämpfen müssen. Diese verlangt, dass Kinder noch vor dem Kindergarten Deutsch lernen, wenn sie es noch nicht beherrschen. Den Erfolg alleine Atici zuzuschreiben, wäre allerdings überzogen. Auch alt LDP-Regierungsrat Christoph Eymann, der diese Politik umgesetzt hat, oder der damalige Migrationsdelegierte Thomas Kessler, der eine Investitionsrechnung zur Frühförderung machte, haben einen wichtigen Beitrag geleistet. Es war, so darf man wohl sagen, auch der Zeitgeist.
Doch so nett und zuvorkommend Atici auch sein mag, er kann durchaus auch mal auf den Tisch hauen. Richtig sauer machte ihn beispielsweise der Verhandlungsabbruch zum Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU im Frühling 2021, da findet Atici klare Worte: «Das ist eine grosse Verantwortungslosigkeit gewesen!» Und er lacht selbstironisch. Denn er weiss ganz genau, dass das auch noch ein bizli härter gehen würde.
Zumindest ein klein wenig geärgert hat sich der 54-Jährige auch, als der Gewerbeverband seine bürgerlichen Konkurrenten Luca Urgese und Conradin Cramer zur Wahl empfohlen hatte – und nicht ihn, den Unternehmer (oder den Inhaber einer Velo-Kurierzentrale, Jérôme Thiriet). Nach einem kräftigen Schluck Tee sagt Atici: «Der Entscheid ist ideologisch gewesen, denn ich habe mich immer stark gemacht fürs Gewerbe.» Die BaZ schrieb damals, Atici habe den Entscheid «sportlich genommen», während Thiriet «angesäuert» gewesen sei. Bei der Basler Bevölkerung dürfte der Grüne damit keine Pluspunkte gesammelt haben.
«Atici ist einer, der weiss, wie man Mehrheiten macht, er schafft es, sowohl die FDP als auch die Mitte von seinen Anliegen zu überzeugen.»SP-Nationalrat und ehemalige WBK-Präsident Matthias Aebischer
Auffällig: In diesem Wahlkampf wird die Nähe zum Unternehmertum besonders oft und inbrünstig betont, und während Atici in früheren Wahlkämpfen noch geraten wurde, seine Karriere als DER Kebabpionier von Basel (sowie der Cocktailsauce!) nicht allzu hoch zu hängen, wird dieses Mal keine Gelegenheit ausgelassen, ihn und sein Business als Traum eines jeden Wirtschaftsverbandes zu vermarkten. Das Ziel: Auch im bürgerlichen Lager Stimmen abzuholen. Tatsächlich hat er in Basel drei Firmen gegründet und während seiner Karriere ungefähr 300 Menschen beschäftigt. Bis heute arbeitet er nicht nur als Unternehmensberater, sondern ist immer noch als Geschäftsführer seiner Cateringfirma tätig. An jedem FCB-Spiel steht er im Joggeli und reicht Döner über die Theke.
Seine Zeit kann Atici mittlerweile «frei einteilen.» Seiner Privilegien ist er sich durchaus bewusst. Vielleicht kommt seine soziale Ader, sein offenes Ohr für jedermann- und frau aber auch gerade daher, weil er eben die Kapazitäten dafür hat. Für so manchen in der türkisch-kurdischen Community ist Atici der Retter in Not, gerne wird er auch als «Sozialinstitution» bezeichnet. Diese Nähe zur Bevölkerung möchte er beibehalten, sollte er in die Exekutive gewählt werden. In Aussicht gestellt hat er Sprechstunden (vermutlich mit einem Tee), um den Puls der Stadt auch weiterhin zu fühlen.
Atici ist für die türkisch-kurdische Community Basels wichtig, genauso wichtig wie sie für ihn: Das Mobilisierungspotential ist enorm. Als grösster Erfolg in der Geschichte bleiben die Wahlen 2004 in Erinnerung, als Rot-Grün eben dank der kurdisch-türkischen Stimmen die jahrzehntelange bürgerliche Mehrheit in der Regierung beendete. Bei den letzten Wahlen hat sie diese Mehrheit wieder verloren.
Während er in sozial schwächeren Kreisen grösstes Ansehen geniesst – dafür steht nicht zuletzt der Slogan «unser Musti» –, scheint eine intellektuelle Garde seiner Community ihm gegenüber skeptischer eingestellt zu sein, wobei nicht auszuschliessen ist, dass sich darunter auch Neider*innen befinden. Die gerne hervorgebrachte Kritik: Er, der 2013 zum Präsidenten der SP-Migrant*innen gewählt wurde und sich unter anderem ein starkes Engagement für Menschen ohne Stimm- und Wahlrechte auf die Fahne geschrieben hat, soll kaum andere Politiker*innen nachgezogen haben. Tatsächlich sind bekannte Köpfe wie SP-Grossrätin Edibe Gölgeli oder SP-Grossrat Mahir Kabakci nicht seine Zöglinge. Fürchtet sich Atici vor zu starker Konkurrenz? «Nein», sagt er. Im Gegenteil. Das Ziel seines Engagements sei es, die Partizipation von Migrant*innen zu ermöglichen. «Ich finde, das ist uns auch gut gelungen: Ich verweise gerne auf Menschen wie Nationalrätin Farah Rumy, Nationalrat Islam Alijaj, Nationalrat Hasan Candan, alt Nationalrat Angelo Barille und weitere Amtsträger*innen der SP und auch in anderen Parteien.» Wobei die SP-Fraktionen auch kantonal diverser sind als jene von anderen Parteien.
Falls er das ED übernimmt, wäre im Thema Migration kaum jemand so dossiersicher wie der Einwanderer und Arbeitgeber. Atici möchte Migrant*innen nicht in der Opferrolle sehen, er ist der Meinung, Integration benötige beide Seiten: «Ich finde es kontraproduktiv, in einem Diskriminierungsdiskurs zu verharren.» Was auch immer über Atici gesagt wird, alle bescheinigen ihm: Er schaut vorwärts, ist ein Macher mit Ausdauer (das zeigen auch seine unzähligen Kandidaturen) und keiner, der sich im Selbstmitleid ausruht. Das merkt man nicht zuletzt an der Art, wie er die Spitzen gegen seine Person im Wahlkampf kontert: mit Gelassenheit.
«Mein Deutsch hat mich noch nie an etwas gehindert.»Mustafa Atici, Regierungsratskandidat (SP)
Am meisten scheint die Basler Bevölkerung sein fehlendes Schwyzerdütsch zu beschäftigen, was die Provinzialität unserer Stadt nicht besser aufzeigen könnte. Denn Atici ist inzwischen sowas von schweizerisch, fast schon bünzlig. Er steht um 5 Uhr morgens auf, geht joggen und liest Zeitungen (im Plural). Atici ist aktiver Fasnächtler und schreibt SMS, wenn er sich ein paar wenige Minuten verspätet.
Atici ist «einem vo uns»
Am Ende dürfte tatsächlich sein Migrationshintergrund, und was ein solcher halt so mit sich bringt, über die Ersatzwahl in den Regierungsrat entscheiden. Die Gretchenfrage wird lauten: Ist man im Jahr 2024 bereit, einen Politiker mit unvollkommenem Deutsch in den Regierungsrat zu wählen? Und dadurch eine Realität dieses Kantons auch auf der Ebene Exekutive stattfinden zu lassen? Atici ist «einem vo uns», könnte man, grammatikalisch inkorrekt, aus linksurbaner Sicht sagen. So wie viele andere höchst erfolgreich integrierte Migrant*innen. Wird dieses Vorwärtsmomentum nicht genutzt, darf dies durchaus auch als Armutszeugnis für linke Städte gesehen werden. Sie müssten sich den Vorwurf gefallen lassen, strategisch am Dativfehler bzw. am eigenen Kleingeist gescheitert zu sein.
Atici selbst sagt dazu: «Mein Deutsch hat mich noch nie an etwas gehindert.» Niemand sei perfekt – und das sei auch gut so. Atici verweist auf Texte zum Thema, die ihn berührt haben. Dabei zittern seine Hände. Man könnte denken, er sei doch sehr aufgebracht ob der Diskussionen über «Wir» und «die Anderen». Doch das Zittern ist trügerisch. Denn Atici leidet an einer Genkrankheit, weshalb er auch keinen Kaffee mehr trinkt, sondern eben Tee. «Schreiben Sie das gerne auf», sagt er. Denn das Zittern wird ihm fälschlicherweise als Schwäche ausgelegt. Was nur allzu gut zum vielleicht gerne unterschätzten Kandidaten passt.
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