Das alte System hat ausgedient

Corona zeigt die Schwächen der Marktwirtschaft schonungslos auf: Die Konkurrenz wächst, die Menschen werden noch einsamer. Alternativen sind gefragt.

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Es ist Zeit für weniger Konsum, findet Wirtschaftsjournalist Werner Vontobel. (Bild: Unsplash/Illustration: Bajour)

Wegen Corona wird weniger gereist und weniger konsumiert. Insgesamt beträgt die Einbusse zwar nur 5 bis 10 Prozent. Aber ist aus ökologischer Sicht sogar erwünscht und könnte auch ein sozialer Vorteil sein: Weniger Konsum, weniger bezahlte Arbeit, mehr Zeit für Freunde und Familie. Doch wie wir leider wissen, geht das nicht so. Die Marktwirtschaft verhindert es. Sie kann kein Corona, weil sie Musse nicht mag.

Statt in mehr Freizeit verwandelt die Marktwirtschaft den durch das Virus erzwungenen Konsumverzicht in Stress und Angst um den Job (was wiederum das Immunsystem schwächt und das Virus stark macht. Doch: That’s another story). In den letzten Monat hat der Verbrauch an Psychopharmaka sprunghaft zugenommen. Nach einer Studie des US-Centre for Disease Control CDC kamen Depressionen und Selbstmord-Gedanken in den USA dieses Jahr dreimal so häufig vor wie noch 2019.

Wir haben zu viel von allem

Die Marktwirtschaft verdankt ihren beispiellosen Erfolg dem Umstand, dass sie alle Marktteilnehmer zwingt, möglichst viel mit möglichst wenig (Arbeits-) Aufwand herzustellen. Doch in der modernen Welt, wo wir von eh von allem zu viel haben und es uns nur an Arbeit mangelt, ist dieser Segen längst zum Fluch geworden. Der betriebswirtschaftliche Zwang, effizient zu produzieren, ist immer noch da, aber der volkswirtschaftliche Nutzen hat sich ins Gegenteil verkehrt. Der Kaiser ist nackt. Doch das darf man nicht sehen, weil man sonst die Marktwirtschaft infrage stellen würde. Und was bitte wäre die Alternative?

Gesucht ist eine neue Variante der Marktwirtschaft die Corona kann und Musse mag. Die «Gradido-Akademie für Wirtschaftsbionik» hat dazu neulich ihre Ideen präsentiert. Ihr Ansatzpunkt ist das aktuelle Geldsystem, das gleichsam im Ausschlussverfahren funktioniert. In dem heutigen System ist das Geld das Eintrittsticket in die Gesellschaft. Wird – coronahalber – weniger konsumiert und entsprechend weniger Geld in Umlauf gesetzt, werden Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie haben zwar noch immer ihre Bedürfnisse, können diese aber nicht mehr anmelden. Sie haben ihr Ticket verloren. Das äussert sich etwa darin, dass ganze (Armen-) Quartiere verlottern. An allen Orten mangelt es, kaputte Häuser, schlechte Schulen, Armenküchen statt Kneipen.

Es wäre viel zu tun, doch die Leute sitzen bloss herum. Die Arbeitslosenquote steigt.

Endlich frei von Existenzängsten?

Damit sind wir beim «Gradido». Das ist eine Gemeinschaftswährung im Wert von einem Euro, das man sich zu einem Stundenlohn von 20 Gradido mit Arbeit für die Gemeinschaft verdienen kann. Es handelt sich also nicht um ein bedingungsloses, sondern um ein aktives oder aktivierendes Grundeinkommen, das die Menschen in die Gemeinschaft einbindet, und die vom offiziellen Geldsystem zerschlagene Brücke zwischen den Bedürfnissen und den Arbeitslosen wieder befahrbar machen soll.

Die «Gradido-Akademie» formuliert es so: «Die Menschen können sich frei von Existenzängsten mit ihren Neigungen und Fähigkeiten in die Gemeinschaft einbringen. Das schafft Lebensfreude, stabilisiert die Psyche und stärkt das Immunsystem.»

Mehr Einbindung statt mehr Zeug

Einverstanden. Das klingt unakademisch und wolkig. Es bleibt unklar, wie genau die Euro- und die Gradido-Wirtschaft nebeneinander funktionieren können. Da ist noch vieles unausgegoren und das kann in diesem Stadium auch nicht anders sein. Wichtig ist, dass die Gradido-Akademiker erkannt haben, dass der Kaiser keine Kleider trägt, und dass wir eine Wirtschaftsweise finden müssen, die nicht nur immer mehr Zeug produziert, sondern auch unsere Bedürfnisse nach sozialer Einbindung berücksichtigt.

Auf der anderen Seite hängt noch viel zu viel an der alten Marktwirtschaft. Die können wir nicht einfach so wegwerfen. Intelligente Zwischenlösungen sind gefragt. Vielleicht können wir dereinst sagen, dass uns Corona den nackten Kaiser gezeigt und uns zum Nachdenken angeregt hat.

Werner Vontobel ist gebürtiger Basler und eine*r der bekanntesten Wirtschaftsjournalist*innen der Schweiz. Auf Bajour bringt er sich regelmässig zu volkswirtschaftlichen Themen, konjunkturpolitischen Grundsatzdebatten und ökonomischen Sinnfragen ein.

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