Soziologe Martin Hafen: «Die Schweizer Elternzeit ist beschämend»
Damit Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern herrschen könne, brauche es mehr Elternzeit und kostenlose Kinderbetreuung, findet Soziologe Martin Hafen.
Herr Hafen, braucht es Gratis-Kitas für alle?
Das ist eine einfache Frage, wo die Antwort, wie so oft, kompliziert ist. Aber zuerst die einfache Antwort: «Ja».
Wieso?
Es ist vielen nicht bewusst, wie wichtig die ersten Lebensjahre für die Entwicklung von Kindern sind. In diesen Jahren werden Lebenskompetenzen erworben, die Kinder lernen Sozialkompetenz, kognitive Fähigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren, sich zu binden und zu vertrauen. Die frühe Kindheit ist entsprechend die wichtigste Bildungsphase. Der Staat sollte daher viel mehr in den vorschulischen Bildungsbereich investieren.
Martin Hafen, geboren 1958, ist Sozialarbeiter und Soziologe und arbeitet als Dozent am Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention an der Hochschule Luzern. forscht und lehrt in unterschiedlichen Präventionsfeldern, insbesondere im Bereich der frühen Kindheit. Hafen wohnt im Gundeli und kennt die Kinderbetreuung als Vater und Grossvater.
Und weiter?
Die Gesellschaft hat sich in Hinblick auf die Geschlechterrollen radikal verändert. Die Idee, dass Frauen ihre Familie über die Karriere stellen sollen, ist veraltet. Frauen kommen mit einer hohen Belastung durch Familienarbeit und zusätzlicher Berufstätigkeit an ihre Belastungsgrenzen. Wenn sie aufhören zu arbeiten, werden sie in der Altersvorsorge dafür bestraft. Zudem tun sich die Männer nach wie vor schwer damit, ihre Erwerbsarbeit zu reduzieren und mehr Zeit in Kinderbetreuung und Hausarbeit zu investieren. Wenn Kitas günstiger und qualitativ besser wären, könnten diese Frauen wieder arbeiten, unabhängig von ihrer finanziellen Lage. Ich bin aber nicht für eine Kita-Pflicht.
Warum nicht?
In den ersten beiden Lebensjahren ist es durchaus günstig für die Entwicklung eines Kindes, wenn es in der Familie aufwachsen kann – gesetzt der Fall, dass die familiären Verhältnisse günstig sind. Deswegen haben gerade die skandinavischen Länder eine sehr grosszügig bemessene Elternzeit nach der Geburt. In der Schweiz haben wir neben den 14 Wochen Mutterschaftsurlaub gerade mal zwei Wochen Vaterschaftsurlaub. Das ist im innereuropäischen Vergleich beschämend wenig.
Was ist mit Familien, die zu Hause keine guten Verhältnisse haben?
Bei Familien, in denen Probleme herrschen wie Sucht oder viel Stress, sind ergänzende Betreuungsmassnahmen schon ab dem ersten Lebenstag von Vorteil. Qualitativ gute Kitas bieten hier wertvolle Entlastung, was natürlich allen Familien zugutekommt, die sich dafür entscheiden, ein Kind vor dem Alter von zwei Jahren in die Kita zu geben.
Sie sprechen die Qualität von Kitas an: Wirken Gratis-Kitas – und dadurch mehr Kinder in den Kitas – der nicht entgegen?
Das tun sie nicht, wenn die Investitionen nicht nur auf Quantität, sondern auch auf Qualität ausgerichtet sind. Nehmen wir die strukturelle Qualität: Der Betreuungsschlüssel bestimmt, wie viele Betreuungspersonen es pro Kind braucht. Momentan werden dort noch Praktikant*innen eingerechnet. Diese sollten ein Zusatz sein und von den ausgebildeten Betreuer*innen lernen können. Generell teilt der Betreuungsschlüssel in der Schweiz zu viele Kinder pro Mitarbeiter*in ein. Im Alter von null bis zwei Jahren sollten höchstens zwei Kinder durch eine Betreuungsperson betreut werden.
Kita-Betreuer*innen sind überlastet. Corona habe das Fass zum Überlaufen gebracht, sagt Kita-Mitarbeiterin Michaela*. In einer Petition fordert sie gemeinsam mit 500 Kolleg*innen bessere Arbeitsbedingungen.
Und das reicht dann?
Auch die Löhne sind erschreckend tief für das, was geleistet wird. Diese schlechten Arbeitsbedingungen führen zu hohen Fluktuationen und das ist schlecht für die Kinder. Diese können sich, dann keine tragfähigen Beziehungen zu den Betreuer*innen aufbauen. In die Ausbildung für diesen Bereich muss auch investiert werden.
Wie würden Sie die Ausbildung verbessern?
Es braucht ein Verständnis über die Zusammenhänge in der frühen Entwicklung. Wir gehen in der Schweiz immer noch davon aus, dass pädagogische Fachkräfte mit dem zunehmenden Alter der Kinder mehr Wissen und Kompetenzen brauchen. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt so viel Wissen von der Epigenetik, Neurologie und Psychologie, das vorhanden sein sollte. Mir geht es nicht um eine Verschulung der Ausbildung, sie sollte sehr praxisorientiert sein. Wir brauchen in den Kitas mehr Fachkräfte mit Tertiärausbildung, welche die Betreuer*innen, die eine Lehre als Fachperson Betreuung gemacht haben, unterstützen und weiterbilden.
Kitas fehlt es schon jetzt an Betreuungspersonal und Sie verlangen eine höhere Ausbildung. Ist das nicht kontraproduktiv?
Wir bewegen uns in einer Übergangsphase. Es gibt nationale Anstrengungen, Leute zu motivieren, ihren FaBe-Lehrabschluss durch ein Diplom an einer Höheren Fachschule oder einer Fachhochschule zu ergänzen. Da braucht es meiner Meinung nach Subventionen. Dem Fachkräftemangel muss man aber auch, wie vorhin erwähnt, mit besseren Arbeitsbedingungen entgegenwirken, insbesondere mit höheren Löhnen.
In Basel-Stadt und Baselland will die SP kostenlose Kitas durchsetzen. Das würde auch der Wirtschaft zugutekommen, heisst es, weil beide Eltern wieder arbeiten könnten. Mit zu hohen Betreuungsgebühren würde sich das in vielen Fällen nicht lohnen. Gegner*innen geht das zu weit. Sie argumentieren, es ergebe keinen Sinn, dass Gutverdienende und Vermögende nichts für die Betreuung zahlen. Auch in der Bajour-Community sorgte die Frage für eine rege Debatte rund um Lohn- und Hausarbeit, Fremdbetreuung und Gleichstellung.
Zurück zu den Gratis-Kitas: Ist es unethisch, mit dem Fachkräftemangel zu argumentieren, also damit dass Frauen arbeiten sollten?
In einer kapitalistischen Gesellschaft ist es eher ein pragmatisches Argument. Angesichts des Fachkräftemangels kann es sich die Schweiz einfach nicht leisten, auf die Arbeitskraft der gut ausgebildeten Frauen zu verzichten. Aus ethischer Perspektive ist eher die Ungleichstellung der Geschlechter ein Problem. Denn nach der Geburt ihrer Kinder bleiben Männer vermehrt Vollzeit im Arbeitsmarkt tätig, wohingegen Frauen reduzieren. Das ist folglich für die Entwicklung der Karriere der Frau ein Hindernis und beschert ihnen Probleme in der Altersvorsorge.
Was wäre Ihre Forderung?
Wir müssen schauen, dass Männer ihre Arbeitszeit auch zu Gunsten der Familie reduzieren und Frauen mehr arbeiten können. So schaffen wir mehr Gendergerechtigkeit. Bis die Männer in vermehrtem Mass Familienarbeit leisten, brauchen wir Strukturen, die dabei helfen, dass auch Frauen sich beruflich entwickeln können. Dafür brauchen wir qualitativ gute Kitas, die kostenfrei sind, so wie es das formale Bildungssystem ja auch ist. Zahlreiche Studien zeigen, dass sich diese Investitionen langfristig auf volkswirtschaftlich auszahlen – insbesondere, wenn es gelingt, mehrfach belastete Familien zur Nutzung der familienergänzenden Kinderbetreuung zu bewegen.
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