Essen, Liegen, Treiben lassen
Vier Tage mit fünfzig Fremden den Rhein rauf und runter schippern. Bajour hats gewagt. Warum tut man sich das an? Und warum nicht öfter? Ein Reisebericht aus dem Schiffsrumpf.
Wenn man von der Oetlinger Buvette rüber schaut, sehen sie aus wie gläserne Zigarren, die Passagierschiffe, die unterhalb vom St. Johanns-Park im Rhein schwimmen.
Die meiste Zeit liegen sie einfach da, ziemlich unbeteiligt und nichts geschieht.
Doch ab und an erlebt man als Bewohner*in dieser Basler Feierabendkulisse, wie Bewegung in die Szenerie kommt. Dann erscheint eine Traube Menschen, ausgerüstet mit Rollkoffern, die sich ihren Weg durch das Joha-Pärkli bahnt und klappernd und ratternd im Bauch der Zigarren verschwindet.
Wie schaut es im Innern dieser Schiffe aus? Und was geschieht, nachdem sie ablegen?
An diesem Donnerstagabend im noch jungen Frühling kommen wir der Antwort hoffentlich etwas näher. Ich befinde mich im Salon der MS Edelweiss, das Willkommens-Cüpli in der Hand und höre Silvia von Thurgau Travel zu, wie sie uns über die bevorstehende Flusskreuzfahrt durchs Elsass informiert.
Dass ich auf dieser grau-beigen Couch sitze, ist mehr Zufall als Schicksal. Eine Freundin von mir gewann beim Wettbewerb der Reiseagentur und als sie mich fragte: «Kommst du mit?» ist noch Sommer 2023 und ich überlege nicht lange und sage «Ja, eh.»
Mit dem «Es het solang s’hett»- und dem «Internet»-Rabatt kostet uns der Kurztrip 240 Franken pro Person und das noch vor Abzug des Gutscheins. Ein Städtetrip wäre wohl teurer, so unser Fazit.
Tag 1: Zehn Meter neben dem Festland
Normalerweise wären wir jetzt im Airbnb irgendeiner Grossstadt. Auf dem Schiff hatten wir uns auf ein Wochenende in Zimmerlautstärke eingestellt, doch in diesem Moment dröhnen die Gitarren-Riffs von Status Quos «Whatever you want» durch den Schiffsalon und zum Applaus von Silvia und uns Passagieren läuft die Crew ein.
Erinnerungen werden wach an Géraldine Knie, die dem Publikum ihre Artist*innen präsentiert, während diese winkend durch die Manege kreisen. Hier an Bord sind das die Maitre des Cabins, der Koch und Petr, Verantwortlicher für die Abendunterhaltung. Den grössten Applaus bekommt der Mann, der als letzter erscheint und als einziger mit Vor- und Nachnamen vorgestellt wird: Jan Oosten, der Kapitän auf dieser 4-tägigen Flusskreuzfahrt.
Kreuzfahrt, da denkt man an die Karibik, die Südsee, an Schiffe, die grösser sind als Hochhäuser und Namen von Königinnen tragen. Die Sehnsuchtsorte, die vom Passagierbootterminal St. Johann aus angesteuert werden, heissen Saarbrücken, Worms, Maastricht. Für uns geht’s von Basel über Breisach nach Strassburg und wieder zurück.
(Foto: Instagram / @handinhandtours)
Wie viele solcher Flusskreuzfahrten machen Sie pro Jahr? Ich bin das ganze Jahr über auf Flusskreuzfahrt unterwegs – an die 20 Reisen pro Jahr sind das wohl im Durchschnitt. Einsätze an Bord wechseln sich immer mit freier Zeit ab.
Ein Tag als Kapitän einer Flusskreuzfahrt, wie schaut der aus? Der typische Arbeitstag am Fluss besteht für mich aus dem Steuern des Schiffes, das passiert bei uns in Schichten, bei denen ich mich mit meinem zweiten Kapitän und dem Schiffsführer abwechsle, mit Anweisungen an die Nautische Crew und vielen Gesprächen mit den Gästen an Bord, die sehr interessiert sind, was bei uns auf der Brücke passiert.
Wie kam es, dass Sie als Kapitän den Rhein befahren und nicht ein Kreuzfahrtschiff in der Karibik? Mein Herz schlägt für den Rhein – ich liebe es die MS Edelweiss über diesen mächtigen Fluss zu steuern. Irrsinnig schön finde ich auch die Nebenflüsse des Rheins, die wir mit den kleineren Schiffen befahren. Wie es ist so einen Mega-Dampfer zu steuern, kann ich mir nicht wirklich vorstellen. Und ehrlich gesagt – ich will es auch gar nicht. Mein Herz schlägt für die Flussschifffahrt – klein und fein.
Wir schauen uns um im Schiffsalon.
Gut die Hälfte der Anwesenden ist mit dem*der Partner*in da. Die anderen 50 Prozent aber sind Frauen, die in Grüppchen unterwegs sind. Für sie ist diese Flussfahrt ein Ausflug unter Freundinnen. Also eigentlich wie bei uns, ausser, dass sie und uns ein paar Jahrzehnte trennen, denn die grosse Mehrheit hier im Salon ist im Pensionsalter.
Es sind vor allem Deutschschweizer*innen, dem Ohr nach viele aus der Innerschweiz. Die Kleidung ist unaufgeregt, aber «aaständig». Jeans zu Hemd oder Bluse. Viele tragen Brillen und graue Haare im praktischen Kurzhaarschnitt. Die Handtasche, quer über den Oberkörper getragen, wird auch am Tisch nicht abgelegt.
Die «me büglet», man legt was zur Seite und dann gönnt man sich was-Schweiz. Nach dem Wocheneinkauf einen Cappuccino im Migros-Restaurant oder in diesem Fall vier Tage MS Edelweiss.
Wir sind ganz unten, ganz hinten im Schiff in Fahrtrichtung links einquartiert. Das war am preisgünstigsten, kommt aber auch mit Einschränkungen, denn der unterste Stock liegt grösstenteils unter dem Wasserspiegel. Das heisst, im Zimmer und im Restaurant «Jungfrau» besteht die Aussicht zu drei Vierteln aus Wand und zu einem Viertel aus Baumkronen. Man muss schon aufstehen, um durch die Oberlichter den Fluss zu sehen.
Einstellungssache
Wäre das hier die Titanic, wären wir Jack, aber auf einer Flusskreuzfahrt ist für Abwärtsvergleiche kein Platz – schon gar nicht, wenn man selbst unten ist. «Ich buech immer z’underscht und z’hinderscht. Im Zimmer bisch ja nur zum Schlafe», sagt die erfahrene Schiffsgängerin am Nebentisch.
Alles Einstellungssache also oder eine Frage der Verpackung. An Bord der MS Edelweiss gibt es keine Holzklasse, stattdessen sind alle drei Stockwerke nach Edelsteinen benannt: Rubin, Diamant – und wir sind Smaragd.
Beim Abendessen ist immer sofort jemand vom Service an unserer Seite und fragt «More Wine?», sobald wir vom letzten Schluck absetzen. Das Personal ist darum bemüht, dieses Versprechen einzulösen, das Luxus für alle verheisst. Auf der Speisekarte steht nichts Ausgefallenes, sondern das, was das Publikum kennt: Viel Fleisch, viel Fisch, aber jeden Abend gibt es einen Viergänger und die Tische sind weiss gedeckt.
Wie so oft, wenn wir Schweizer*innen es uns gut gehen lassen, arbeiten andere dafür. Im Gegensatz zur homogenen Gästegruppe setzen sich die 41 Crewmitglieder an Bord aus 14 Nationen zusammen.
Wie schaut ein typischer Tag als Maître des Cabins aus? Jeden Morgen habe ich ein Treffen mit dem Team, um die täglichen Aktivitäten zu besprechen, wir bereiten den Wagen mit Bettwäsche, Handtüchern und Reinigungsmitteln vor, und jedes meiner Crewmitglieder bekommt die Kabinennummern zugewiesen, um die es sich kümmern muss. In der Nacht haben wir Nachtservice, das heisst, wir bereiten die Betten für die Gäste zum Schlafen vor, kontrollieren die Handtücher und leeren die Mülleimer, reinigen auch die öffentlichen Bereiche.
Wo wohnt die Crew? Wir haben Einzel- oder Doppelzimmer, dies sind schöne Kabinen mit eigener Toilette und TV. Die Kabinen befinden sich auf dem 1. Korridor mit Fenstern.
Wie erleben Sie die Passagier*innen auf einer Flusskreuzfahrt? Ich treffe gerne neue Leute, lerne Neues kennen und spreche über verschiedene Kulturen. Ich habe nie auf den großen Hochseeschiffen gearbeitet, aber für mich sind die Gäste, die auf die Flussschiffe kommen und mit denen ich gearbeitet habe, freundlich und sie schätzen unsere Arbeit.
Der erste Abend auf dem schwimmenden Hotelbett endet vor Mitternacht, weniger als zehn Meter vom Basler Festland entfernt.
Kurz nach sieben Uhr am nächsten Morgen wachen wir auf zum Rumoren des Schiffsmotors. Wir legen ab und das Frühstücksbuffet ist bereits aufgetischt.
Tag 2: Die Eingewöhnung
Es gibt Brötli und Mini-Croissants, Vanilleplunder, Vollkorn-Toast, Butter-Toast, Würstchen, Speck und Rührei aus dem Speisewärmer und währenddessen pflügt unser Schiff Wellen in den Rhein. Links Frankreich, rechts Deutschland.
Die Schwäne am Ufer überholen wir mühelos.
Nach dem Essen folgt der Rückzug aufs Zimmer und der Blick auf die Uhr: erst halb 10 Uhr. Während wir weg waren, hat jemand unser Bett gemacht und das Zimmer aufgeräumt. Das ist uns etwas unangenehm: «Wir haben doch gesagt, das müssen sie nicht machen.»
Die MS Edelweiss, 110 Meter lang und 11,5 Meter breit, ist ein Werk der Schweizer Reederei Scylla. Hier gibt es kein Multiplex-Kino und keine Wasserrutsche in den Infinity Pool, sondern Spannteppich, viel Spannteppich. Die Einrichtung erinnert an grosse Hotelketten. Es gibt drei Etagen, zwei Restaurants und eine Boutique, mit Schmuck und Postkarten in der Auslage. Vorne hat es eine Bar, hinten hat es eine Bar und viel mehr gibt es hier nicht zu tun.
Der Passagier*innen-Alltag ist unterteilt in Zeiten, in denen man isst und Zeiten, in denen man ruht. Abgesehen davon sind die Regeln für richtiges Verhalten an Bord relativ simpel: Kein Feuer entfachen, die Hände regelmässig desinfizieren und beim Passieren von Brücken und Schleusen die Arme nicht über die Bordkante strecken.
Auf dem Weg Basel-Strasbourg gibt es total neun dieser Schleusen und dass wir die erste fast verpassen, merken wir, als es im Zimmer plötzlich dunkel wird. Die Aussicht aus dem Oberlicht zeigt jetzt eine Betonwand und es ist nur schwer vorstellbar, wie in den knappen Raum zwischen Boot und den elf Meter hohen Mauern noch ein Körperteil reinpassen soll.
Der erste Halt ist Breisach (D), Europastadt am Oberrhein. Wir laufen mehr aus Pflichtbewusstsein zum Münster hoch und dann zieht es uns auch bald wieder zurück aufs Schiff.
Um 18 Uhr beim «Hafengespräch mit Silvia» informiert uns unsere Reiseleiterin über die nächste Etappe.
Wie viele solcher Flusskreuzfahrten machen Sie pro Jahr? 2011 setzte ich zum ersten Mal einen Fuss auf eines der Fluss-Schiffe von Thurgau Travel um Einblick in die Arbeit der Kreuzfahrtleitung zu erhalten. Ich war vom ersten Moment an begeistert vom Erlebnis und den Eindrücken dieser Kurzreise von Basel nach Strasbourg und vor allem auch von der grossen Gastfreundschaft der gesamten Crew an Bord. Nachdem meine Kinder flügge waren, hatte ich das grosse Bedürfnis nach Veränderung. Ich kündigte meine Stelle im Büro und war fortan bis rund 130 Tage, in 2 bis maximal 6 Wochen-Blocks für Thurgau Travel auf verschiedenen Flüssen und Schiffen in Europa und auch Asien unterwegs und dies noch immer mit grosser Faszination.
Gibt es einen prototypischen Flusskreuzfahrtsgast? Da wir auch verschiedene Themenreisen und auch Fernreisen im Angebot haben, gibt es nicht unbedingt einen prototypischen Flusskreuzfahrtgast. Thurgau Travel hat eine sehr grosse Stammkundschaft und diese ist, wie ich öfters höre, gleich mehr als nur einmal im Jahr auf einem unserer Schiffe unterwegs. Von daher sind es oft Gäste im sogenannten Unruhezustand, welche diese bequeme Art des Reisens für sich entdeckt haben.
Neben uns im Salon sitzen vier Frauen zwischen 70 und 80. Vielleicht liegt es an der Dosis Sauerstoff von heute Nachmittag, auf jeden Fall sind wir alle ziemlich aufgekratzt. «Händ ihr ghört, am viertel vor Drüü müender zrugg sii», sagt eine in unsere Richtung. «Ja, Sie aber au, mir kontrolliered dänn» antworten wir.
Gekicher auf allen Seiten. Wir sind angekommen, wir gehören dazu.
Später, beim Programmpunkt Abendunterhaltung in der Panorama-Bar macht einer der Gäste die Runde und sammelt Liederwünsche für unseren Entertainer am Keyboard. «079» wünscht das Paar hinter uns oder was von Polo Hofer. Petr muss die Noten googeln, aber das Resultat kann man dann mit ein bisschen Goodwill als «Kiosk» identifizieren und von diesem Goodwill hat die MS Edelweiss ausreichend.
Von all dem Essen und Liegen und Treiben lassen sind wir satt und tiefenentspannt, die Stimmung an Bord ist heiter.
Tag drei und wir leben im Schiff-Rhythmus. Aufstehen, Frühstück, Rückzug ins Zimmer für die Verdauungspause. Blick auf die Uhr: Schon halb zehn. Im Fernsehen läuft eine dieser Restaurantsendungen, während wir die nächste Schleuse passieren.
Tag 3: Unser Schiff
Wir sind schon ein mittleres Spektakel als wir gegen 11 Uhr in Strasbourg einfahren. Kapitän Oosten und seine Crew manövrieren uns mühelos in die Lücke an der Anlegestelle. Geübte Hände werfen Seile und Bootsfender aus, spannen und sichern.
Wir sind zwar keine Aida oder Queen Elizabeth, aber das grösste Schiff im näheren Umkreis hier. Ein Velofahrer bleibt stehen und schaut uns beim Anlegen zu. Ein Anflug von Stolz: Das ist unser Schiff.
Im Elsass scheint die Sonne, doch der Höhepunkt ist das Schiffs-Gala-Dinner am Samstagabend. Auf den Tellern vor uns erscheinen Roastbeef, Surf and Turf und Mousse au Chocolat. Die Hose spannt, die Teller leeren sich und der Rosé fliesst.
Und dann kommt der Sonntagmorgen und das Ganze ist schon fast wieder vorbei. Der Blick aus den Oberlichtern zeigt die vertraute Kulisse. Links Deutschland, rechts Frankreich. Wir passieren die Dreiländerbrücke und da ist auch schon die Anlegestelle St. Johann.
Das Küchenpersonal trägt die Taschen von Bord und Petr rollt das Staubsaugerkabel aus. Silvia steht beim Ausgang und manövriert uns mit einem Lächeln von Bord.
Sonntagmorgen, 8.50 Uhr, wir haben wieder festen Boden unter den Füssen.
Wie lange sind Sie jeweils auf einem Schiff? Je nach Fahrsaison verschieden. Ich arbeite 6-7 Monate pro Saison/Jahr. Als Chef de Service organisiere ich Frühstück, Mittag- und Abendessen, kontrolliere die Bar, mache Inventur und Getränkebestellungen, organisiere die Schichten für meine Teamkollegen, organisiere die Tischwünsche und Reservierungen, wie unsere Gäste sitzen wollen. Zu meinem Job gehört es, sich mit Passagieren über unsere Kulturen zu unterhalten. Ich schätze es sehr, mich mit den Passagieren auszutauschen.
Unterscheiden sich die Passagier*innen hier vom Publikum auf grossen Kreuzfahrtsschiffen? Ich habe noch nie auf einem Hochseeschiff gearbeitet, aber ich denke, dass die Erwartungen der Gäste dort höher sind, da sie mehr Veranstaltungsorte und Aktivitäten haben. Ich bin sehr zufrieden mit unseren Gästen, die wir auf der MS Edelweiss haben.
Während die Reise für uns vorbei ist, bordet die Tischnachbarin in zwei Wochen bereits das nächste Schiff, dieses Mal mit dem Ziel Amsterdam. Eine Kreuzfahrt auf dem Meer? Entschiedenes Kopfschütteln: «Das wär also gar nüüt für mich.»
Tag 4: Das Résumée
Nach vier Tagen ist es Zeit für ein Fazit: Auf diesen Schiffen geschieht tatsächlich nicht viel. Also eigentlich gar nichts, doch vermutlich macht genau das den Reiz einer Flusskreuzfahrt aus.
In den letzten vier Tagen war die Welt übersichtlicher und einfacher, als sie es sonst oft ist. Dort ist das Ufer und an Bord das Vertraute. Hier ist Kuhmilch die normale Milch und Vegetarier*innen sind die Ausnahme. Im Untergeschoss sieht man zwar den Fluss nicht, aber dafür von der Bar aus. Der Tag ist organisiert und der Rest ist Einstellungssache.
Ähm. Aber Frage.
Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass diese Entspannung vor allem deswegen möglich ist, weil andere arbeiten? Auch hier springt die Reiseleitung ein und kommt der Schweizer Verlegenheit in Sachen Geld zuvor: Beim Hafengespräch am Vorabend wurde verkündet, wie viel Trinkgeld wir ins Couvert geben sollen, das bereits im Zimmer parat liegt (5 bis 10 Euro pro Person und Tag).
An das hier erreichte Ausmass an Entspannung denken wir spätestens dann wieder, wenn uns bei den nächsten Ferien in Berlin oder London oder Lissabon vor Ort auffällt, dass die Altbau-Airbnb-Wohnung im 5. Stock liegt und der Lift nicht funktioniert.