Das Ende eines Albtraums
Der in Basel lebende Palästinenser Marwan konnte am Flughafen Zürich nach langem Warten und vielen behördlichen Hürden seine Familie aus dem Gazastreifen in die Arme schliessen. Bajour hat den Leidensweg der Familie begleitet.
Ein Kreischen, ein Wirrwarr an Frauenstimmen: Endlich laufen die Töchter Woroud, Joud und Jouri sowie Ehefrau Nevin durch die Schiebetür in der Ankunftshalle 2 des Flughafen Zürichs und Marwan kann seine Familie nach zwei Jahren Krieg in Gaza wieder in die Arme schliessen. Die fünf lassen sich lange nicht mehr los und bilden eine kleine, schluchzende Traube.
Marwan ist bereits im Februar 2024 in die Schweiz nach Basel eingereist, weil seine Schwester Manal am Unispital wegen Leukämie behandelt wurde und er als Rückenmarkspender ein medizinisches Visum erhalten hatte. Seine Frau und seine drei minderjährigen Töchter – Jouri ist 10, Joud 14 und Woroud 16 – mussten im Gazastreifen bleiben, wo bis vor Kurzem Bombardierungen zum Alltag gehörten, die in einer humanitären Katastrophe mündeten. Die Uno-Kommission warf Israel Genozid vor.
Bajour durfte Marwan, der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, in den letzten Monaten sowie in diesem Moment der Glückseligkeit am Flughafen Zürich begleiten. Einzige Voraussetzung: Man nehme auch die Einladung zum Festmahl an, das die Familie später an diesem Tag in Basel erwartete.
Ende eines Albtraums
Pünktlich um 13.25 Uhr ist die Maschine aus Amman kommend gelandet. Das Landed auf der Anzeigetafel markiert das Ende eines Albtraums. Und Marwan läuft eine Träne über die Wange. Es sollten an diesem Donnerstagnachmittag noch so einige folgen.
Auch Schwester Manal sowie Nichte Sabreen, die zusammen mit Ehemann und Söhnen beziehungsweise Vater und Brüdern, vor sechs Jahren im Rahmen des UNHCR Resettlement Programm in die Schweiz kamen, sind angereist, um die Familie in Empfang zu nehmen – um mit ihnen zu weinen, zu lachen. Mit einem grossen Van einer befreundeten syrischen Familie sind sie für diesen grossen und lang ersehnten Tag von Basel nach Zürich gefahren. Mitgefahren sind auch Saskia und Roberto, Freund*innen aus Basel, die Marwan auf seinem Leidensweg hin zum Happy End begleitet haben, doch dazu später mehr.
Mitgebracht hat das Empfangskomitee bunte Luftballons und rosa-rote Rosensträusse, welche die etwas sterile Ankunftshalle in Zürich ein kleines bisschen bunter machten. Auf der Hinfahrt hat die Gruppe in einem Café in Dietikon noch Süssigkeiten aus Damaskus eingekauft, die beim späteren Abendessen in der Wohnung von Manal, mit Blick auf die Basler Innenstadt, serviert werden.
Losgeflogen ist Marwans palästinensische Familie mit der Maschine von Royal Jordanian um 10.40 Uhr, nachdem ein Bus der Schweizer Botschaft in Ramallah die Frauen am Mittwoch, also einen Tag zuvor, aus dem Gazastreifen, genauer von Chan Yunis, über die Grenze nach Israel und dann in ein Hotel nach Jordanien gebracht hat. Die Reise dauerte Stunden und war nicht ungefährlich, mussten sie doch zahlreiche Checkpoints in einer Todeszone passieren. Mitnehmen durften sie nichts, ausser die Kleidung, die sie am Körper trugen.
So trägt die Mutter bei Ankunft eine beige Steppjacke, die Kinder reisten in bunten Kapuzenpullis und Turnschuhen, die sie sich extra für die Reise gekauft hatten. Die kleinste Tochter, Jouri, wollte ihre weissen Sneakers mit rosarotem Stern in den letzten Wochen nicht tragen, sie wollte sie aufsparen für ihre Ankunft in der Schweiz, um schön auszusehen.
Trotz aller Freude steht ihnen das Grauen der letzten Jahre ins Gesicht geschrieben.
«Gefühl der Hilflosigkeit»
Mutter Nevin und ihre Töchter wurden bei ihrer ersten grossen Reise – haben sie den Gazastreifen zuvor noch nie verlassen – von Hakan und Nadja begleitet, einem deutsch-jordanischen Paar, das Marwan in der Moschee in Basel kennengelernt hat. Die beiden holten die vier Frauen am Donnerstagmorgen im Hotel in Amman ab und fuhren mit ihnen im Botschaftsbus zum Flughafen. Später beim Essen in Basel erzählt Hakan von der grossen Freude der Kinder und der Mutter, als er ihnen am Morgen je eine Zahnbürste und Zahnpasta ins Hotel brachte, diese Alltagsgegenstände, die für uns so normal sind. «Das muss man sich mal vorstellen», sagt er.
Während Marwans Kinder in kurzer Zeit verschiedene Länder durchquert und überflogen haben, sass der 49-Jährige in Basel und betete. Geschlafen hat er in den letzten Wochen nur wenige Stunden. Er hat gebetet, dass beim letzten Schritt des Familiennachzugs nichts schiefgeht.
Seit seiner Ankunft in Basel hat er dafür gekämpft, dass seine Familie ebenfalls in die Schweiz einwandern darf. Doch es war ein steiniger Weg, geprägt von viel Hoffnungslosigkeit. So sagte Marwan im September mit gedämpfter Stimme und glasigen Augen: «Nichts ist mit dem Gefühl der Hilflosigkeit vergleichbar, wenn meine Kinder mich anrufen und fragen, wann sie denn nun auch zu mir in die Schweiz kommen können, um in Sicherheit zu sein.» Doch er sagte immer wieder: «Ich gebe die Hoffnung nicht auf.»
Am Flughafen Zürich nun sagt er: «Wir haben gewonnen.»
Umwege und glückliche Zufälle
Dass die Familie hier in dieser Ankunftshalle wieder vereint beisammen steht, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Resultat eines langwierigen Prozesses voller Unvorhersehbarkeiten, Umwege und glücklicher Zufälle. Und des mehr als hartnäckigen Engagements von Menschen aus Marwans Umfeld. Einerseits ist da seine Nichte Sabreen, die in Basel Medizin studiert, mittlerweile fliessend Deutsch spricht und ganz genau weiss, was sie will. Sie stand Marwan jederzeit zur Seite, begleitete ihn auch zu den Treffen mit Bajour und übersetzte für ihn ins Arabische.
Da waren aber auch die Menschen aus Basel, die sich für ihren Freund Marwan und seine Familie eingesetzt und ihm bei all dem Papierkram – von Gesuchen für Aufenthaltsbewilligungen, über Rekurse bis hin zum Familiennachzug – unterstützt haben.
Diese Freundschaften, die für den 49-Jährigen so hilfreich waren, entstanden durch sein Engagement in den Heks-Gärten, ein Angebot für Menschen mit Migrations- oder Fluchtbiografie, die noch nicht über ein tragendes soziales Netz verfügen. Durch das Projekt fand er in den Gemeinschaftsgarten Landhof, wo er erste Kontakte zu Basler*innen knüpfte. Der Garten blieb über die Monate hinweg ein Zufluchtsort.
Eine der befreundeten Basler*innen ist eben jene Saskia, die auch im Van von Basel nach Zürich mitgereist war, um den Moment der Freude in Zürich mit Marwan zu teilen. Noch im September sagte sie im Bajour-Büro etwas konsterniert: «Wenn die Schweiz schon vor Ort kaum Einfluss nehmen kann, dann sollte sie wenigstens die Menschen unterstützen, die hier bei uns leben.» Damals war der Familiennachzug nicht mehr als ein Wunschtraum, der in weiter Ferne lag.
Auf dem Weg zu diesem Wunschtraum mussten zahlreiche Hürden genommen werden: Marwan hatte erst versucht, den Status «geflüchtet» zu erhalten, doch weil er gegenüber dem Staatssekretariat für Migration (SEM) keine individuelle Verfolgung glaubhaft machen konnte, erhielt er den Status «Vorläufig Aufgenommen», damit wäre ein Familiennachzug nicht vorgesehen.
Die Beschwerde gegen diesen Entscheid war beim Bundesverwaltungsgericht hängig, als das parallel eingereichte Gesuch um Staatenlosigkeit gutgeheissen wurde. Damit erhielt Marwan den Aufenthaltsstatus B, was seiner Familie letztendlich die Einreise ermöglichte. «Es geht voran, die Freude ist gross», schrieb Saskia per Whatsapp Anfang Oktober.
Marwan hat von Beginn weg alles unternommen, um sich zu integrieren: Er besucht regelmässig einen Deutschkurs, arbeitet täglich in einer Lederwerkstatt und engagiert sich weiterhin in den Heks-Gärten und dem Gemeinschaftsgarten Landhof.
«Sie werden überschwemmt»
Wann auch immer Marwan zusammen mit Bajour am Tisch sass, betonte er, wie sehr es ihn quälte, dass seine Kinder nun bereits im dritten Jahr keine Schule besucht haben. Als studierter Pädagoge hatte er vor der Hamas-Attacke und dem darauffolgenden Kriegsausbruch als Sozialarbeiter an einem Gymnasium gearbeitet, wo er Kinder mit Lernschwierigkeiten unterstützte. Auch mit seinen Töchtern hat er viel Zeit verbracht, damit sie gut in der Schule abschnitten. «Ich habe viel auf die Zukunft hin gearbeitet, mit allen drei jeden Tag Unterricht gemacht.»
«Wenn ich darüber nachdenke, wie sie leiden, könnte man mit den Gedanken hunderte Seiten füllen.»Marwan im Oktober
Im Gespräch im Oktober zeigte er ein Video seiner ältesten Tochter Woroud. Und so freudig sein Lachen nun ist, da die Kinder bei ihm sind, so eisern war seine Miene damals, als er sie darin um Hilfe bitten hörte, wie sie von Stress erzählt durch Hitze, bald auch durch Kälte, den Regen: «Es ist schrecklich, sie werden überschwemmt», sagte Marwan damals mit Blick auf den Winter. Das Zelt, in dem sie wohnten, schütze sie nicht. Im Video sprach Woroud zudem davon, dass es an allem fehle, der Kampf ums Essen alltäglich sei, dass sie ihre Kleider verbrennen müssten, um anzufeuern und heizen zu können. Marwan wiederum erzählte, dass seine Mutter erst kürzlich gestorben ist, wegen Mangel an Medikamenten. Sein Vater lebe, aber unter schwierigen Umständen.
Bald werden seine Töchter in Basel ihre schulische Laufbahn wieder aufnehmen können. Und auch den Winter werden sie nun in beheizten Räumen verbringen und nicht in notdürftigen Zelten von Hilfswerken. Diese Zelte: sie waren für Marwan die Zusammenfassung des Leids, das seine Familie ertragen musste: «Wenn ich darüber nachdenke, wie sie leiden, könnte man mit den Gedanken hunderte Seiten füllen, die Geschichte nimmt kein Ende, es gibt zu viel zu erzählen», sagte er damals.
Fleisch, Fleisch, Fleisch
Nach Ankunft in Basel kommt die Familie vorerst bei Marwans Schwester unter. Begrüsst wurde sie mit einem grossen Festessen in deren Wohnung. Ein Buffet wurde aufgefahren, wie man es selten sieht: Fleisch, Fleisch, Fleisch – das die Kinder seit mehr als anderthalb Jahren nicht mehr gegessen haben – Gemüse, Salat, Früchte, mit Reis gefüllte Weinblätter. Herbeigesehnt haben seine Kinder das Menü schon lange vor Ankunft. Marwan schöpft mit Kelle und Händen voller Sauce den Gästen nach.
Am Tisch sitzt das Paar aus Jordanien, Saskia, Roberto und Ehefrau Nevin, während die Kinder in einem der Zimmer verschwinden und sich dem widmen, was Kinder am liebsten tun: Quatsch machen. Gesprochen wird auf Arabisch, Deutsch, Schweizerdeutsch, manchmal wild durcheinander, manchmal gesittet. Über das strenge Asylsystem, den Rechtsrutsch und Rassismuserfahrungen. Und darüber, wie wichtig es ist, dass eben auch diese Geschichten – die Geschichten der Hoffnung – erzählt werden, damit andere auch weitermachen und angeblich Unmögliches anpacken.
Manchmal sind die Gespräche so laut, dass man das Gefühl haben könnte, es sei ein Streit ausgebrochen. Doch die jordanische Freundin Nadja beruhigt: «Es hört sich nur so an, es ist kein Streit.» Und sie fragt mit ihrer höflichen Art jene Gäste am Tisch, die weniger Bezug zur arabischen Kultur haben: «Wollen Sie den Lauch auch so essen wie wir?» Dieser liegt roh und am Stück auf dem Tisch und rundet das Festmahl tatsächlich mit der nötigen Schärfe ab.
Marwan ist sichtlich müde. Während der Wochen, die Bajour ihn begleitete, sagte er immer wieder, er habe das Gefühl, in einem ewigen (Alb-)Traum zu sein. «Ich kann es nicht realisieren. Der Moment, in dem ich aufwache, wird der Moment sein, wenn die Familie da ist.» Er hatte Angst, enttäuscht zu werden, Angst, dass sie am Schluss doch nicht kommen.
Doch sie sind gekommen. Und sie werden bleiben. Zum Abschied sagt er erneut: «Wir haben gewonnen.» An diesem Tag hat die Menschlichkeit gesiegt.
Der Palästinenser Marwan konnte nach zwei Jahren Krieg seine Familie von Gaza nach Basel holen. Der Rahmen des Gesetzes sollte innerhalb einer humanitären Krise juristisch voll ausgereizt werden, kommentiert Valerie Zaslawski.