Gesucht: Chefdirigentin
In Basel – wie in vielen anderen Schweizer Städten – gibt es kein Profi-Orchester, das fest von einer Frau geleitet wird. Warum eigentlich nicht? Wir haben uns bei Dirigent*innen umgehört.
Die Genderdebatte beschäftigt die Basler Klassik-Szene. Während neue Veranstaltungsreihen wie das Female Classics Festival oder die Feminale Basel jüngst zahlreiche Konzerte mit ausschliesslich frauenkomponierter Musik auf die Beine stellten, sorgte die Präsentation der Saison 2025/26 des Sinfonieorchester Basel (SOB) aufgrund des wiederholt geringen Frauenanteils im Repertoire für teils verbissen geführte Diskussionen.
An der Medienkonferenz des SOB wurde nicht nur das kommende Konzertprogramm, sondern auch der neue Chefdirigent Markus Poschner vorgestellt, der im Sommer die Nachfolge von Ivor Bolton antritt. Dass das grösste Basler Orchester auch die nächsten fünf Jahre von einem Mann geleitet wird, scheint dermassen selbstverständlich, dass darüber praktisch nicht gesprochen wird. Noch nie in der bald 150-jährigen Geschichte des SOB hatte eine Frau das Chefdirigat inne.
Und auch sonst sucht man in Basel aktuell vergebens nach einer weiblichen Spitze eines professionellen sinfonischen Klangkörpers: Das Kammerorchester Basel arbeitet seit Jahrzehnten ohne Chefdirigent*in. Das La Cetra Barockorchester wird seit 2009 von Andrea Marcon geleitet. Bei der Basel Sinfonietta löste Titus Engel auf die Saison 2023/24 Baldur Brönnimann als Principal Conductor ab. Christian Knüsel ist seit 2012 Chefdirigent des Neuen Orchester Basel (NOB). Und beim Collegium Musicum Basel steht Jan Schultsz gerade am Ende seiner ersten Saison als neuer Orchesterleiter – ersetzt hat er vergangenen Sommer Johannes Schlaefli.
Auch beim Theater Basel ist mit Thomas Wise ein Mann am Ruder. Immerhin: Dort gab es in der Vergangenheit schon einmal Chefdirigentinnen, etwa die Britin Julia Jones (Chefdirigentin der Oper 1998–2002) oder zuletzt Kristiina Poska aus Estland (Musikdirektorin in der Saison 2019/20).
«Ich kenne zwar einige Dirigentinnen, die Karriere gemacht haben – die haben aber alle auf Familie verzichtet.»Maija Gschwind
Der Gendergap in Sachen Leitung professioneller Orchester ist frappant – in Basel, aber auch schweizweit. Zwar sind immer wieder Dirigentinnen zu sehen, in der Regel jedoch nur gastweise oder im Amateurbereich. Die Frage drängt sich auf: Weshalb gibt es kaum Chefdirigentinnen?
«Ich glaube, das liegt zu einem grossen Teil an der schlechten Vereinbarkeit von Beruf und Familie», sagt Maija Gschwind. Die gebürtige Lettin ist eine der aktivsten in Basel lebenden Dirigentinnen. Sie leitet die Camerata Basilea, den Domchor St. Urs in Solothurn (als erste Frau überhaupt), das Ensemble Liberté und ist zudem als Dirigentin beim Reveillechor der Basler Liedertafel und dem Basel Proms Chorus tätig. Sie kenne zwar einige Dirigentinnen, die Karriere gemacht haben – «die haben aber alle auf Familie verzichtet», sagt Gschwind, die selbst Mutter ist.
«Als junge*r Dirigent*in musst du sehr viel herumreisen und Erfahrungen sammeln, um in dieser Branche Erfolgschancen – und damit Aussichten auf ein Chefdirigat – zu haben. Als Frau mit Kindern hast du diese Möglichkeiten normalerweise nicht.» Ein zweiter Grund ist laut Gschwind, dass es gesellschaftlich immer noch so ist, dass Männer in Führungspositionen ernster genommen werden als Frauen. «Vielleicht führt das auch dazu, dass Frauen weniger bereit sind, für eine Position zu kämpfen, in der sie gar nicht so akzeptiert sind wie Männer.»
«Es kommt darauf an, wie viel man bereit ist, einzusetzen – wenn der Weg, für den man sich entscheidet, schwieriger als gedacht ist, muss man halt mehr Effort leisten.»Lena-Lisa Wüstendörfer
Eine der wenigen Dirigentinnen, die sich in der Schweiz in den obersten Kreisen durchsetzen konnte, ist Lena-Lisa Wüstendörfer. Die gebürtige Zürcherin hat an der Hochschule für Musik Basel Violine und Dirigieren studiert, dazu an der Universität Basel Volkswirtschaft und Musikwissenschaft, wo sie auch promoviert hat. 2018 gründete Wüstendörfer das Swiss Orchestra, bei dem sie nicht nur dirigiert, sondern auch für die Programmierung verantwortlich ist. Seit 2022 ist sie ausserdem Intendantin vom Konzertveranstalter Andermatt Music.
Wüstendörfer hat sich von den geschlechtlich bedingten unterschiedlichen Karrierevoraussetzungen für eine Dirigierlaufbahn nicht behindern lassen: «Für mich war das nie ein Grund, es nicht zu machen», sagt sie. «Es kommt darauf an, wie viel man bereit ist, einzusetzen – wenn der Weg, für den man sich entscheidet, schwieriger als gedacht ist, muss man halt mehr Effort leisten.»
Die Dirigentin, die vor zwei Jahren auch Mutter geworden ist, hat sich nie die Frage gestellt, ob es für sie in ihrem Beruf als Mann einfacher gewesen wäre: «Dafür möchte ich schlicht keine Zeit aufwenden.» Dass es ein Ungleichgewicht gibt, sei ihr aber auch schnell aufgefallen. «Chefdirigentinnen sind in der Schweiz heute noch nicht selbstverständlich», sagt sie. «Aber Dirigentinnen sind heute viel sichtbarer als früher.»
«Es gibt eigentlich erst seit meiner Generation ein wirklich breites Feld an gut ausgebildeten, erfahrenen und wertgeschätzten Dirigentinnen.»Titus Engel
Zum Beispiel bei der Basel Sinfonietta, die – abgesehen davon, dass vergleichsweise viele Komponistinnen im Repertoire vorkommen – jede Saison mindestens eine Gastdirigentin engagiert. Principal Conductor Titus Engel glaubt, es gebe noch immer viel Nachholbedarf in der Förderung junger Dirigentinnen, auch wenn in dieser Hinsicht schon einiges gemacht werde. «Es gibt eigentlich erst seit meiner Generation ein wirklich breites Feld an gut ausgebildeten, erfahrenen und wertgeschätzten Dirigentinnen», sagt der 1975 in Zürich geborene Engel.
Durch die zunehmende Dichte an ausgezeichneten Dirigentinnen gebe es auch immer mehr weibliche Vorbilder in diesem Beruf. «Die Szene ist definitiv im Wandel, der natürlich richtig und auch unumkehrbar ist.» So sei es letztlich nur eine Frage der Zeit, bis Dirigentinnen auch zahlreich in den Spitzenpositionen anzutreffen sein werden.
«Auch das Sinfonieorchester Basel wird früher oder später eine weibliche Leitung haben.»Ivor Bolton
Das meint auch Ivor Bolton, der abtretende Chefdirigent des SOB und zugleich Chefdirigent beim Dresdner Festspielorchester sowie Musikdirektor am Teatro Real Madrid. «Dirigentinnen etablieren sich gerade in grosser Zahl», sagt er. «Wenn Mirga Gražinytė-Tyla [ehemalige Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra] oder Joana Mallwitz [Chefdirigentin des Konzerthausorchesters Berlin] die grössten Orchester der Welt dirigieren, hat das natürlich eine grosse Strahlkraft und macht den Beruf auch für junge Frauen attraktiver.»
Bolton, der das SOB im Sommer nach neun Jahren verlassen wird, ist sich sicher, dass es auch in Basel in nächster Zukunft eine Chefdirigentin geben wird: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass das nicht passiert. Auch das SOB wird früher oder später eine weibliche Leitung haben.»
«Hoffen wir, dass die Zeiten bald kommen, in denen für Neubesetzungen die passenden Persönlichkeiten gesucht werden, unabhängig vom Geschlecht.»Christian Knüsel
«Hoffen wir, dass die Zeiten bald kommen, in denen für Neubesetzungen die passenden Persönlichkeiten gesucht werden, unabhängig vom Geschlecht», findet Christian Knüsel, Leiter des NOB. Schon Beethoven habe vor 230 Jahren gefragt: «Wann wird auch der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird?» Knüsel ist über das nach wie vor herrschende Ungleichgewicht erstaunt: «Es ist wirklich überraschend, dass es bei den grossen Basler keine und bei Schweizer Orchestern nach wie vor kaum Chefdirigentinnen gibt.»
Dass in Basel an den Spitzen der grossen sinfonischen Klangkörper noch immer durchgehend Männer stehen, ist – so zumindest der Tenor unter den Dirigent*innen – ein historisch bedingtes Auslaufmodell. Man darf also gespannt sein, wie lange es noch dauert, bis ein professionelles Basler Orchester eine Chefdirigentin ins Amt beruft.
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Transparenzhinweis: Lukas Nussbaumer arbeitet seit knapp drei Jahren für das unter der Leitung von Lena-Lisa Wüstendörfer stehende Swiss Orchestra.