Erinnerung an wilde Theaterjahre
Wie war das damals, als ein neues Stadttheater gebaut und mit ihm eine neue Theaterkultur in die Stadt einzog? Kolumnistin Cathérine Miville, damals fürs Theater Basel tätig, sah die Sprengung des alten Baus mit eigenen Augen und war zunächst nicht begeistert vom neuen «Betonklotz».
Nein, gefreut hatte ich mich nicht auf das neue Stadttheater, auf den «Betonklotz», wie wir den Neubau damals nannten, für den «unser» geliebtes altes Haus weichen musste. Natürlich war uns, die wir am Theater arbeiteten, bewusst, dass es in vielerlei Hinsicht nicht den Anforderungen eines Theaterbetriebes des 20. Jahrhunderts entsprach. Auch der Brandschutz war absolut unzureichend – und das in einem Theater, das 1904 vollständig niederbrannte.
Leider wurde jedoch damals die grossartige Chance vertan, ein Haus für ein Theater der Zukunft zu bauen. 1906 wurde zwar, wie Karl Gotthilf Kachler in seiner «Entstehungsgeschichte des neuen Basler Stadttheaters» ausführt, gegen den Baubeschluss ein Referendum ergriffen, das erreichen wollte, dass nicht wieder ein gold-purpur farbiges «Herrentheater» mit Rängen und Logen gebaut wird. Ein «Volkstheater» sollte stattdessen realisiert werden.
Cathérine Miville ist in Basel geboren und aufgewachsen. Sie unternahm ihre ersten Karriereschritte am Theater Basel, später lebte sie lange Zeit in Deutschland, führte an verschiedenen Häusern und bei Dieter Hildebrandts Sendung «Scheibenwischer» Regie und leitete zuletzt als Intendantin das Stadttheater Giessen. Als vor drei Jahren Mivilles Vater, der Basler SP alt Ständerat Carl Miville-Seiler, starb, beschloss sie, nach Beendigung ihrer Tätigkeit als Intendantin, wieder in Basel zu leben. In ihrer neuen Kolumne «Ma ville» wirft die 70-Jährige regelmässig einen genauen Blick auf das kulturelle Leben in der Stadt und reflektiert, wie sich Basel entwickelt hat.
Aber das Referendum wurde abgelehnt und das zweite Basler Stadttheater entstand als Kopie des ersten auf Basis des technischen Know-hows von 1875 für Theaterformen des 19. Jahrhunderts. Und sogar die Theaterkasse wurde erneut vergessen. Schon bald wurde erneut der Ruf nach einem zeitgemässen Theater laut, sodass nach Projekt-Wettbewerben 1967 die Entscheidung über den Abbruch des Johann-Jakob-Stehlin-Baus am Steinenberg gefällt und die Eröffnung des dritten Stadttheaters für 1973 geplant wurde. Damit gingen die Probleme los:
Als es mit dem Neubau konkret wurde, die Mittel zum Ausgleich der höheren Betriebskosten jedoch nicht zur Verfügung standen, trat Theaterdirektor Werner Düggelin zurück. Trotz Sympathiekundgebungen aus dem Haus und allen Teilen der Stadtgesellschaft liess er sich nicht mehr umstimmen.
Meine emotionale Ablehnung des Neubaus wuchs, da durch den Betonklotz «unser» Theaterdirektor hinwarf – der Mann, der das Theater für junge Menschen nicht nur geöffnet, sondern gemeinsam mit einem kongenialen Team von Theatermacher*innen auch in hohem Masse formal, inhaltlich und ästhetisch attraktiv gemacht hatte.
Dem Rücktritt folgte eine mehr als chaotische und zunächst erfolglose Suche nach einer Nachfolge bis dann am 20. Dezember 1974 Hans Hollmann zum Direktor gewählt wurde. Da stand die Eröffnung des neuen Hauses schon unmittelbar bevor.
Die ersten Erfahrungen mit dem Neubau machte ich während der Proben zu «Die letzten Tage der Menschheit». Meine Ablehnung fing an zu schmelzen, ich verliebte mich in das Foyer mit seiner Weiträumigkeit. Es verlor seine Baustellenkälte und begann eine für mich neue Form der Theaterfaszination auszuüben.
Aber warum musste das alte Haus abgerissen werden? Auch hier wurde dagegen erfolgreich ein Referendum eingereicht und ein ausgearbeiteter Plan zur Umwandlung des alten Stadttheaters in ein vielfältig nutzbares Kulturzentrum vorgelegt. Zahlreiche Kirchen sind heute Beispiele für erfolgreiche Projekte dieser Art.
1973 lehnte die Stadt die Weiternutzung jedoch ab. Die Initiant*innen gingen vors Bundesgericht. Doch obwohl dieser Entscheid noch ausstand, liess die Basler Regierung die normative Kraft des Faktischen wirken.
So standen wir am 6. August 1975 früh um fünf auf der Terrasse des neuen Hauses und sahen zu, wie unser Stadttheater gesprengt wurde. Innerhalb von wenigen Momenten fiel es in sich zusammen und wurde zu einer gigantischen Staubwolke – ein höchst emotionaler Moment, gerade durch die Unumkehrbarkeit des Vorgangs.
Und in den nächsten Wochen wurde mir immer deutlicher: Das «Theater Basel» würde mit dem Neubau auch eine neue Unternehmenskultur bekommen. Erst an diesem Punkt verstand ich, dass Dügg zu Recht als Direktor zurücktrat. So wie er das alte Haus geleitet hatte, war es im Neuen nicht mehr möglich. Und was nun notwendig wurde, war nicht sein Ding.
Nur ein Beispiel: Die Zeit der Kommunikation durch offene Türen hindurch war vorbei. Diese war nur möglich, da im Altbau Kämmerchen mit Durchgangstüren als Büros dienten. Nun waren die Zimmer Tür an Tür in langen Fluren auf verschiedenen Etagen angesiedelt. Vorgänge mussten verschriftlicht werden, und die Kommunikation lief über ein neu eingeführtes System farbiger Lauf-Mäppchen. Professionelle Formen betrieblicher Organisation waren für uns ein Kulturschock, ähnlich wie davor der «Betonklotz». Wir waren überzeugt: so kann keine Kunst entstehen.
Heute weiss ich, gerade solide Strukturen ermöglichen künstlerische Zusammenarbeit am Theater. Notwendig dafür sind dafür jedoch auf Vertrauen und Respekt basierende gemeinsame Prozesse aller Beteiligter, die diese Strukturen entstehen lassen. Wir wurden vor vollendete Tatsachen gestellt.
Wie wäre es aber sonst möglich gewesen, innerhalb von neun Monaten einen dreitägigen Theatermarkt für 15'000 Besucher*innen zu organisieren, über den Hans Hollmann in aller Bescheidenheit das Motto schrieb: «So wurde noch nie ein Theater eröffnet». Drunter machte er es nicht. Aber das ganze Haus zog mit, sodass nicht nur das Motto mehr als erfüllt wurde. Es konnte wenige Tage danach auch noch die Premiere der ersten Opernaufführung im neuen Haus gefeiert werden.
Für meine Entwicklung war diese Zeit als Berufsanfängerin extrem prägend. Ich habe gelernt, mit eigenen und fremden Vorurteilen konstruktiv umzugehen, seien es Theaterbauten, Organisationsformen oder zunächst unverständliche Ideen. Durch die vielen Auseinandersetzungen im und um das Theater habe ich vor allem kapiert, wie unerlässlich auch das Verstehen wirtschaftlicher und struktureller Zusammenhänge ist für nachhaltig erfolgreiche künstlerische Arbeit. Und wenn ich später vielleicht nicht ganz erfolglos Theater geleitet habe, dann verdanke ich das zu einem ganz wichtigen Teil meinen Erfahrungen aus den wilden Theaterjahren der frühen Siebziger in Basel.