Das Gundeli verliert eine langjährige Gastgeberin
Nach fast 20 Jahren gibt Wirtin Simone Stingelin ihre Beiz «Haltestelle» ab und geht in den Ruhestand. Die gebürtige Baslerin erzählt von den Höhen und Tiefen des kleinen Kultlokals und wie das Gundeli offener wurde.
Mit kritischem Blick schaut Simone Stingelin nach draussen. Auf der vollen Terrasse der Beiz «Haltestelle» im Basler Gundeli-Quartier verschieben Gäst*innen gerade ein paar Tische. Voller Elan springt die 71-jährige Wirtin aus ihrem Stuhl, um nach dem Rechten zu sehen. Nachdem sie die Situation geklärt hat, kehrt sie zufrieden zurück in das – aufgrund des schönen Wetters – leere Innere ihrer Beiz, setzt sich und fragt: «Wo waren wir?»
Für die gebürtige Baslerin stehen ihre Kund*innen an erster Stelle. Klar haben da die Fragen eines Journalisten an einem belebten Freitagabend nicht die oberste Priorität. Dabei hat Stingelin viel zu erzählen. Nach beinahe zwanzig Jahren als Wirtin der «Haltestelle» hat sie sich dazu entschieden, ihren Vertrag nicht mehr zu verlängern und in Rente zu gehen.
«Am Anfang hatten wir natürlich ein bisschen zu kämpfen.»Simone Stingelin
Die Beiz hat ein einladendes Ambiente. Einige Tische und Stühle stehen auf engem Raum, über ihnen hängt ein Bild eines leicht bewölkten, blauen Himmels, der das Lokal scheinbar erweitert. Von aussen dringen die Stimmen der Gäst*innen und das Klirren von vollen Wein- und Biergläsern ins Innere.
Bereit für den nächsten Schritt
Eine – normalerweise von einem Tisch verdeckte – Schrift an der Theke verrät, dass das Lokal, das direkt gegenüber dem Gundeldinger-Ausgang des Basel SBB Bahnhofs liegt, einst ein Coiffeur-Salon war. Als dieser vor zwanzig Jahren auszog, ergriff Simone Stingelin die Möglichkeit und erfüllte sich im September 2005 zusammen mit ihrem Mann den Traum der eigenen Beiz.
Die gelernte Kindergärtnerin und Logopädin arbeitete bereits seit Ende der 80er-Jahre in der Gastronomie und fühlte sich, nach Jahren angesammelter Erfahrung, bereit für den nächsten Schritt. Auf den Namen der Kult-Beiz kam sie jedoch nicht allein. Einer Freundin fiel der Name «Haltestelle» ein und aufgrund der Nähe zum Bahnhof gefiel er Stingelin und wurde somit ein fester Bestandteil des Gundeli.
Die Nähe des Bahnhofes spülte der Wirtin immer wieder neue Besucher*innen ins Lokal. «Diejenigen, die beim Bahnhof den falschen Ausgang erwischten und hier rauskamen, sind dann bei mir gelandet». Seit der Eröffnung des Tibits am Meret Oppenheim-Platz sei dies jedoch weniger der Fall gewesen.
Trotzdem hat die «Haltestelle» viele Kund*innen, die regelmässig einen Halt einlegen. Alle, die während des Gesprächs auf der gefüllten Terrasse sassen, seien Stammgäst*innen. Dies war nicht immer so: «Am Anfang hatten wir natürlich ein bisschen zu kämpfen, da musste man zuerst einen guten Ruf kriegen und ein bisschen bekannt werden, damit die Leute überhaupt wissen, dass es und gibt, was das hier ist, und den Weg hierher finden.»
«Es war eigentlich jeden Abend rappelvoll.»Simone Stingelin
Die berüchtigten Moules-Abende der Gundeldingerin halfen definitiv dabei, den Ruf der Beiz in die Stadt hinauszutragen. Schon bald nach der Eröffnung der «Haltestelle» fing Stingelin damit an, in den Wintermonaten zweimal pro Woche das französische und belgische Nationalgericht Moules-Frites – Muscheln mit Pommes – zu servieren. «Das hat sich dann herumgesprochen und wurde zu einem richtigen Renner. Es war eigentlich jeden Abend rappelvoll.»
Es lohnt sich nicht mehr
Doch auch andere Gerichte kommen gut an. Von Pasta bis Wurst-Käsesalat wird fast alles selbst zubereitet. Den Menüplan zusammenzustellen, war eine von Stingelins liebsten Aufgaben. «Die ganze Speisekarte ist wie eine Komposition. Da muss ich schauen, dass es vielfältig ist und dass Fleisch und Vegetarisches ungefähr gleich vertreten sind».
Seit der Pandemie hat Stingelin jedoch einen Einbruch festgestellt. Sowohl finanziell wie auch bei den Kund*innen. «Heute hatten wir sieben Mittagessen. Das ist eine sehr gute Zahl. Sonst haben wir normalerweise drei bis vier. Vor Corona waren wir jeden Mittag knallvoll. Das ist natürlich ein riesiger Unterschied. Ich habe jetzt die Menükarte reduziert. Es lohnt sich einfach nicht mehr». Laut Stingelin waren viele Beizen im Quartier von den Einschränkungen der Shutdowns stark betroffen.
Doch in den letzten 20 Jahren habe sich vieles geändert, sagt die leidenschaftliche Gastgeberin. Auch im Gundeli, in dem sie schon seit vielen Jahren lebt. Vor allem seit der Errichtung der Passerelle sei das Gundeli mehr mit der Stadt verbunden und nicht mehr nur das Quartier hinter den Gleisen. «Multikulti war es schon vorher», sagt sie, aber durch das Viertel und das Gundeldinger Feld sei es als Wohnort attraktiver und noch hipper und jünger geworden.
Nächster Halt: Endstation
Für Simone Stingelin ist mit 71 Jahren jedoch Schluss. Sie hat mehrere Gründe, wieso sie nun in Rente gehen will. «Vor vier Jahren starb mein Mann. Wir haben dies grösstenteils zusammen gemacht. Danach war es einfach nicht mehr das Gleiche.» Viel länger hätten die beiden die Beiz aber ohnehin nicht bewirtschaften wollen.
Das Gastgewerbe hänge auch körperlich an. Am 4. Juli wird das «Ustrinkete» stattfinden, zu dem die Wirtin jeden herzlich einlädt, um alle Vorräte leer zu trinken und aufzuessen. Am Tag danach findet dann noch ein Flohmarkt statt, an dem sich jede*r ein Andenken mitnehmen kann.
«Wir werden Simone vermissen! Und das Gundeli wird sie auch vermissen!»Stammgast
Mit der «Haltestelle» wird es jedoch weitergehen. Eine Nachfolgerin hat Stingelin bereits gefunden. Die langjährige Betreiberin wird dann nicht mehr involviert sein. Sie findet: «Entweder man geht oder man bleibt.» Was sie in ihrem Ruhestand machen wird, hat sie noch nicht entschieden. Sie werde jedoch sicher ab und zu in der «Haltestelle» anzutreffen sein. Dann einfach als Gast.
Ob ihr das Gastgeber*innensein fehlen wird? «Ganz sicher.» Aus dem Hintergrund meldet sich ein treuer Stammgast zu Wort, der beim Gespräch mitgehört hat: «Wir werden Simone vermissen! Und das Gundeli wird sie auch vermissen!»