Was Basel den Zionisten ist das Rütli den Schweizern
Dem Ersten Zionistenkongress in Basel vom 29. bis 31. August 1897 werden Qualitäten eines Gründungsmythos zugeschrieben, analysiert der Historiker Georg Kreis.
«In Basel habe ich den Judenstaat gegründet.» Das notierte Theodor Herzl im Jahr 1897, drei Tage nach dem Ersten Zionistenkongress in Basel, in sein Tagebuch. Dieser Satz bringt abgekürzt auf den Punkt, was der Hauptakteur des Kongresses mit der ihm eigenen Zuversicht glaubte, für sich und die Nachwelt festhalten zu können.
Herzl war sich der Verwegenheit dieser Feststellung durchaus bewusst, denn er fügte gleich bei, dass er dies nicht laut sagen dürfte, ohne damit ein universelles Gelächter auszulösen. Dennoch hielt er an seiner Vision fest: «Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig, wird es jeder einsehen.»
Herzl, Autor des ein Jahr zuvor erschienen Buches «Der Judenstaat. Versuch einer modernen politischen Lösung der jüdischen Frage», konnte auf einen äusserst erfolgreichen Kongress zurückblicken. Über 200 Personen aus ganz Europa waren gekommen und hatten das «Basler Programm» verabschiedet. Es sprach sich für die Schaffung einer «öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte» in Palästina aus.
Die vorsichtige Formulierung verzichtete bewusst auf den Begriff «Staat». Auffallend ist, was als erster Zweck genannt wird, nämlich die Besiedlung mit «jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden», mithin Erwerbsexistenzen, die den Juden in Europa weitgehend vorenthalten waren. Erst an dritter Stelle steht «Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewusstseins».
Die Bewegung nahm den Davidstern zum Symbol, jedoch weniger als religiöses, denn als säkular politisches Zeichen. Herzl war als Laizist für eine strenge Trennung von Religion und Staat, und Deutsch sollte seines Erachtens die gemeinsame Nationalsprache sein. Herzl: «Wir können doch nicht Hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiss genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillett zu verlangen?»
Alte und umstrittene Bewegung
Das Basler Treffen war keineswegs die Geburtsstunde des Zionismus. Die Idee, dass die über die ganze Welt zerstreuten Juden und Jüdinnen einmal nach ihrem Ursprungsort Jerusalem zurückkehren würden, bestand in Varianten seit Jahrhunderten. Innerhalb der zionistischen Bewegung gab es verschiedene Strömungen. Und ausserhalb der Bewegung gab es zum Teil dezidierte Ablehnung gerade von jüdischer Seite.
Das orthodoxe Judentum sah im weltlichen Projekt ein Vergehen gegen den Willen Gottes, nach ihrer Überzeugung hätten die Juden auf die Ankunft des Messias zu warten. Und die liberalen Juden verstanden sich als Angehörige ihrer jeweiligen Nationen und befürchteten, dass das Projekt das ihnen gegenüber bestehende Misstrauen verstärken würde.
Dann gab es die jüdische Arbeiterbewegung, die ihrerseits wiederum in verschiedene Richtungen zerfiel und in einer Variante das bourgeoise Konzept des Nationalstaats ablehnten, in einer anderen Variante ein solches Territorium zur Umsetzung des Klassenkampfes begrüsste. Der Zionismus wurde und wird von aussen und insbesondere von den Anti-Zionisten einheitlicher gesehen, als er war und ist.
Basel geschätzt, aber nur zweite Wahl
Es waren die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der zionistischen Bewegung, die das Zustandekommen und Gelingen des ersten Basler Treffens zu einem besonderen Ereignis machten. Ursprünglich hätte der Erste Zionistenkongress in München stattfinden sollen, dieser Plan scheiterte jedoch am heftigen Widerstand der örtlichen orthodoxen Gemeinde. So wollten die Initianten in die Schweiz ausweichen und sich in Zürich treffen. Ein Treffen in dieser Stadt hätte aber Russland, auf das man Rücksicht nehmen wollte, irritiert, weil es als ein Zentrum russischer Revolutionäre galt.
So kam Basel zum Zug, das als liberale und gastliche Stadt gepriesen wurde. Hier gab es auch christliche Gruppierungen, die eine Wiederherstellung der jüdischen Nation begrüssten. Die Regierung stellte denn auch zwei Tagungslokale zur Verfügung (die sog. «Burgvogtei», das spätere Volkshaus sowie den Musiksaal des Stadtcasinos) und ein Tagungsbüro an der Freien Strasse. An der Eröffnungsfeier war die Regierung durch ihren Präsidenten Prof. Paul Speiser vertreten.
Abgesehen von der religiös begründeten Zion-Sehnsucht förderten reale Erfahrungen die Bestrebungen, einen eigenen jüdischen Nationalstaat zu gründen, in dem jüdische Menschen geschützt vor Diskriminierung und Verfolgung leben können. In Osteuropa entluden sich in Phasen sozialer Krisen immer wieder Pogrome gegen Juden; in Westeuropa machten Juden die Erfahrung, dass Juden trotz formalrechtlicher Gleichstellung (Emanzipation) und vollständiger Aneignung des säkular bürgerlichen Lebensstils (Assimilation) antisemitischer Ausgrenzung ausgesetzt blieben.
Herzl hatte als Wiener Jus.-Student in einer nationalistischen Burschenschaft persönliche Diskriminierung erlebt, und als Reporter für die Wiener «Neue Freie Presse» wohnte er 1894/95 in Paris dem Prozess bei, in dem Hauptmann Alfred Dreyfus auf Grund verleumderischer Unterlagen verurteilt und aus der Armee ausgestossen wurde. Es war vor allem die im Zuge dieser Affäre aufgekommene antisemitische Stimmung, die bei Herzl Zweifel an der Akzeptanz jüdischer Bürger und damit am Integrationserfolg durch Assimilation schwere Zweifel aufkommen liess, zumal dies in einem Land geschah, in dem einmal die Menschenrechte verkündet worden waren.
Das Projekt war aus der Not geboren, es entsprach aber auch dem im Laufe des 19. Jahrhunderts stärker gewordenen Nationalidee, welche Menschen gleicher Herkunft – «Völker» – in Nationalstaaten zusammenfassen wollte, wie dies um 1860 in Italien und 1871 in Deutschland bereits verwirklicht und in Mittel- und Osteuropa angestrebt wurde. Im Nationalismus war die Vorstellung angelegt, dass eine Grossfamilie von Gleichartigen in einem gemeinsamen Haus wohnen sollten. Die modernen Zionisten verstanden sich sozusagen als die Letzten in dieser Reihe.
Die Kernidee war, irgendwo ein «Stück der Erdoberfläche» zu erhalten. Palästina war aus historischen Gründen der in erster Linie angestrebte Ort. Zwischendurch war aber auch Uganda als Behelfslösung im Gespräch: Herzl schlug 1903 auf dem 6. Zionistenkongress in Basel die britische Kolonie Uganda als «Heimstätte» vor, 1905 wurde diese Variante auf dem 7. Zionistenkongress jedoch wieder fallengelassen.
Ein koloniales Projekt?
Es ist nicht einfach zutreffend, aber auch nicht völlig unzutreffend, wenn Kritiker heute sagen, das zionistische Projekt sei kolonialistischem Denken entsprungen und damit den klassischen Imperialismus im Auge haben, der sich mit seiner wirtschaftlichen und politischen Überlegenheit schwächere Gebiete unterwarf.
In diesem Geiste bot Herzl den Emissären der Kolonialmächte an, die «Judenfrage» in Palästina zu lösen, indem er den geplanten «Judenstaat» im Nahen Osten als «Wall gegen Asien» und als «Vorposten der zivilisierten Welt in der Barbarei» anpries. Wohl ging es um eine Region, die das britische Empire nach 1918 dem osmanischen Imperium abgenommen hatte, und Kolonisierung im Sinne von landwirtschaftlicher Bebauung war ein erklärtes Ziel. Der Plan konnte sich aber auf frühere Präsenz in der Region und eine Art von «Ureinwohnerschaft» berufen, obwohl nach eigenem Verständnis das jüdische Volk zuvor selbst einmal in das von Gott verheissene Land Kanaan eingewandert war.
Es war eine Problemlösung, die neue Probleme schuf und Ungleichheit in der Region verstärkte. Dass die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina Konsequenzen für die lokale, arabische Bevölkerung haben werde, blendete Herzl weitgehend aus. Zum Zusammenleben mit anderen Völkern und Religionen meinte er lediglich: «Und fügt es sich, dass auch Andersgläubige, Andersnationale unter uns wohnen, so werden wir ihnen einen ehrenvollen Schutz und die Rechtsgleichheit gewähren.» In einer Tagebucheintragung vom 12. Juni 1895 hatte es allerdings anders gelautet: «Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihnen in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern.»
Der zuweilen Herzl unterstellte Slogan «Wir suchen für ein Volk ohne Land ein Land ohne Volk!» stammt nicht von der zionistischen Hauptströmung, sondern von der speziellen Variante der vom britischen Juden Israel Zangwill angeführten «Territorialisten», die sich in der Basler Safran-Zunft konstituiert hatten und bereit waren, auf «Zion», «Jerusalem» und «Land der Bibel» zu verzichten und einfach ein Land wollten, egal welches, ob in Argentinien oder in Australien etc.
Ein längerer Weg
Der erste Basler Kongress war ein wichtiger Schritt auf einem langen Weg. Es folgten weitere Kongresse. Von den insgesamt 22 fanden zehn in Basel statt, zuletzt 1946 in Anwesenheit des späteren israelischen Ministerpräsidenten David Ben Gurion, jetzt nicht mehr mit 200 Beteiligten im Casino, sondern mit 2'200 Delegierten in der Mustermesse. Die wiederkehrenden Zusammenkünfte am gleichen Ort verliehen der Bewegung zusätzliche Verstetigung.
Ausser dem Durchhaltewillen der Bewegung brauchte es für die Verwirklichung des «Märchens» weitere Voraussetzungen: insbesondere die bekannte Balfour-Deklaration, mit der die britische Kolonialmacht der Zionistischen Weltorganisation in einer vagen Formulierung wiederum eine «Heimstätte» in Palästina im zunächst noch osmanischen und schon bald britisch werdenden Verwaltungsgebiet in Aussicht stellte. Dabei sollte allerdings nicht übersehen werden: Die Balfour-Deklaration von 1917 erwartete, dass «die zivilen und religiösen Rechte der ansässigen nichtjüdischen Bevölkerung gewahrt werden».
Und dann brauchte es vor allem den Entscheid der UN-Generalversammlung vom 29. November 1947 für eine Zweistaatenlösung in der palästinensischen Region. Die zuvor gemachte schreckliche Erfahrung der Massenvernichtung der europäischen Juden durch die NS-Gewaltherrschaft verlieh dem Projekt, das Juden einen sicheren Hafen zur Verfügung stellten wollte, zusätzliche Schubkraft.
Der Basler Ausgangspunkt alleine, das dürfte klar geworden sein, sicherte nicht die angestrebte Zukunft. Basel war einfach, wie Fachleute sagen würden, ein Ort der Kontingenz, ein Ort der Möglichkeit ohne zwangsläufige und schon gar nicht automatische Erfüllung des Angestrebten. Dem Basler Treffen werden Qualitäten eines Gründungsmythos zugeschrieben, wie ihn viele Nationalstaaten kultivieren. Uns kann da auch das Rütli in den Sinn kommen.