Es ziehen sich die Falschen zurück

Während sich die Zahl der Femizide auf einem Rekordhoch befindet und Frauen* sich aus Selbstverteidigung in geschützte Räume flüchten, vergisst die Politik, wer verantwortlich ist, damit sich Frauen* sicher fühlen: Männer mit verkümmertem Frauenbild. Ein Wochenkommentar von Ina Bullwinkel.

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(Bild: (Unsplash/Niko Musgrave)

Vor Kurzem las ich einen Kommentar über ein Phänomen, das die Autorin «akustisches Manspreading» taufte. Es meint Männer, die in der Öffentlichkeit unnötig viele und störende Geräusche von sich geben und damit auf unangenehme Art den Raum einnehmen. Solche Fälle begegnen mir ständig: Männer, die im Tram, am Bahnhof oder im Supermarkt wie aus einem Zwang heraus grunzen, rülpsen oder stöhnen. Im Artikel mahnt die Journalistin: «Es ist eine Frage des sozialen Miteinanders – und dass man im öffentlichen Raum Rücksicht nimmt.»

Der öffentliche Raum, und wer ihn wie stark nutzen darf, scheint mir eines unserer grossen gesellschaftlichen Themen zu sein. Das zeigt sich bei der Diskussion um Superblocks, um fehlende Spielplätze, bei der Suche von Konsumräumen für Drogenkranke und aktuell auch bei der Forderung, einen Ort am Rhybord nur für Frauen bzw. Flinta* zu schaffen. 

Bereiche nur für Frauen. Es klingt ebenso verlockend wie ausschliessend. Es kommt nicht von ungefähr, dass Frauen lieber im Women-only-Fitnessstudio Sport treiben, in die Frauenbadi- oder sauna gehen und dass es solche Orte überhaupt gibt. Es handelt sich dabei nicht um einen exklusiven Club, sondern um die Flucht in einen geschützten Raum. Weil es Orte sind, an denen Frauen – noch mehr als sonst – belästigt werden. Solchen Orten darf man zwiegespalten gegenüberstehen. Das zeigt auch die Debatte zu unserer Frage des Tages, ob ein Flinta-Bereich am Rhein realistisch ist.

Dass Frauen (und andere Minderheiten) sich immer wieder Räume im öffentlichen Raum suchen müssen, und sich das unfreiwillige Abkapseln als normal etabliert, ist ein zivilisatorischer Rückschritt.

Es ist gut, wenn Frauen einen «safe space» haben, in dem sie sich sicher fühlen vor Übergriffen, unangenehmen Blicken oder lustig gemeinten, dummen Bemerkungen. Und gleichzeitig mutet es falsch an, dass Frauen* sich zurückziehen müssen, weil sie im öffentlichen Raum allzu oft zum Freiwild für unbeherrschte Männer werden. Es ziehen sich die Falschen zurück. 

Während es nötig und begrüssenswert ist, dass diese Orte existieren, müsste gleichzeitig viel stärker bei den Wurzeln des Problems angepackt werden: den Übergriffigen. Dass Frauen (und andere Minderheiten) sich immer wieder Räume im öffentlichen Raum suchen müssen, und sich das unfreiwillige Abkapseln als normal etabliert, ist ein zivilisatorischer Rückschritt.

Die Verantwortung wird den Opfern zugeschoben: Wenn ihr euch rechtzeitig Hilfe holt, passiert euch auch nichts.

Vor ein paar Tagen wurde der 22. Femizid in der Schweiz in diesem Jahr begangen: In Neuenburg soll ein Mann seine Ex-Frau und seine beiden Töchter getötet haben. «2025 dürfte als eines der schlimmsten Jahre in Sachen häusliche Gewalt in die Schweizer Geschichte eingehen», konstatiert das SRF. Die 22 Morde an Frauen, weil sie Frauen sind, markieren hierzulande ein entsetzliches Rekordhoch. 

Auch eine erschütterte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider meldet sich zu Wort. Und leider beweist sie wenig Gespür für den Kern des Problems. Angesprochen auf den Fall spricht sie von einer «Krise in einer Partnerschaft». Bei Mord oder Totschlag kann nicht mehr von einer «Partnerschaft» die Rede sein, handelt es sich beim Täter tatsächlich um den Ex-Mann. Und eine Krise gibt es höchstens in Bezug auf den Geisteszustand des mutmasslichen Täters.

Aber damit nicht genug, im Interview betont Baume-Schneider mehrmals, dass die betroffenen Frauen und Kinder Hilfe verlangen müssen, dazu werde demnächst sogar eine Kampagne lanciert. Kein Wort verliert sie über die fast immer männlichen Täter und ihr – völlig unabhängig von ihrer Herkunft – einheitlich verkümmertes Frauenbild. Die Verantwortung wird den Opfern zugeschoben: Wenn ihr euch rechtzeitig Hilfe holt, passiert euch auch nichts. Was für eine perfide Art des Victim Blaming. Wo bleibt die Kampagne, die Jungen und Männer sensibilisiert?

Der Frauenhass rührt auch daher, sich abgelehnt zu fühlen in einer Gesellschaft, in der sich Frauen zum Teil besser zurechtfinden und das Recht des Stärkeren nicht mehr viel zählt.

Unsere Politiker*innen müssen sich nicht die Frage stellen, wie Opfer besser nach Hilfe fragen, sondern wieso immer wieder Cis-Männer zu Angreifern und Mördern werden und wie man das durch frühe Aufklärung verhindern kann. Dazu gehört es auch, sich anzuschauen, in welchen Bereichen Männer und Frauen auseinanderdriften. Unser Männerproblem beginnt schon in der Schule. Dort zeigen Schülerinnen die besseren Leistungen und die Jungs werden abgehängt. Selbst fremdsprachige Mädchen übertreffen inzwischen die Schweizer Buben. Natürlich ist das verallgemeinernd, aber die Mädchen machen vorwärts und die Jungs bleiben stehen. Dieser Frust scheint sich vielerorts ein Leben lang fortzusetzen.

Der Frauenhass rührt auch daher, sich abgelehnt zu fühlen in einer Gesellschaft, in der sich Frauen zum Teil besser zurechtfinden und das Recht des Stärkeren nicht mehr viel zählt. Platt gesagt: Starke, dumme Jungs braucht kein Mensch mehr, während strebsame Mädchen, die auf Kooperation setzen, besser ankommen und Karriere machen. Wem das nicht passt, sehnt sich zurück in eine Zeit, in der Frauen weniger zu sagen hatten und physische Vorteile noch eine Rolle spielten.

Diese Polarisierung zwischen den Geschlechtern ist es, die Politiker*innen umtreiben und dazu bringen sollte, die Werte zu hinterfragen, die Buben noch immer vom Mann-Sein vermittelt bekommen.

Das Wahl- und Stimmverhalten kennt eine eindeutige männliche Richtung rechts. Der Zuwachs der neuen Rechten in Europa und den USA nährt sich sicher zum Teil auch aus dieser Macho-Fantasie der Abgehängten, die die vermeintlich gute alte Zeit in Form rückschrittlicher Politik und tradierten Rollenbildern wieder heraufbeschwören – mit eingeschränktem Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, dem Unterdrücken von Minderheiten und Pronatalismus. 

Diese Polarisierung zwischen den Geschlechtern ist es, die Politiker*innen umtreiben und dazu bringen sollte, die Werte zu hinterfragen, die Buben noch immer vom Mann-Sein vermittelt bekommen. Buben und Männer sollen ihren Platz in der modernen Gesellschaft haben. Das neue Selbstwertgefühl müssen sie sich aber selbst erarbeiten. Das kann ihnen niemand schenken. Auch nicht Politiker*innen, die die Zivilisation so lange zersetzen wollen, bis wieder das Recht des Stärkeren gilt. 

Wie der umkämpfte öffentliche Raum verteilt wird, sagt mehr über eine Gesellschaft aus, als so mancher*m lieb ist. Auch in der Politik wäre weniger Manspreading angenehm.

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*Flinta steht für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans und agender Personen.

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