Eine Nacht mit den Bettler*innen bei Schneeregen
Die Romafamilie, die seit dem Sommer in Basel bettelt und draussen schläft, ist immer noch hier. Warum denn bloss? Wir haben eine Nacht bei ihnen verbracht.
Ich zittere am ganzen Körper. Um mich zu wärmen, ziehe ich die Beine an, grabe meinen Kopf noch tiefer unter die Kapuze meines Schlafsacks. Es nützt nichts, ich friere weiter.
Es ist der 5. Dezember, 3 Uhr Nachts. Das Thermometer zeigt 1 Grad an, es regnet.
Ich liege im Eingang der Sarasin-Bank auf dem Asphalt. Neben mir schlafen drei Roma: Ein Ehepaar und die Mutter des Mannes. Wie Sardinen dicht aneinander gedrängt, liegen sie nebeneinander unter zwei Wolldecken. Unter ihnen dünne Plastik-Matten.
Seit Monaten schlafen die Bettler*innen aus Rumänien draussen. Nur mit alten Decken ausgestattet liegen sie in Gruppen auf dünnen Matten oder sogar auf Kartons. Zum Unmut der bürgerlichen Politiker*innen, sie wollen die Rumän*innen loswerden. Am Mittwoch diskutiert der Grosse Rat über die Wiedereinführung des Bettelverbots in Basel-Stadt. Ein Übernachtungsverbot scheiterte. Beide Motionen kommen von der SVP.
Auch die Bajour-Community sorgt sich wegen der Bettler*innen, wie man in der Gärngschee-Facebookgruppe nachlesen kann. Allerdings nicht wegen des Stadtbildes, sondern wegen der Kälte. Letzte Woche war es in Basel Minus 3 Grad kalt, sogar geschneit hat es. Viele Freiwillige brachten den Bettler*innen deshalb Decken und Schlafsäcke.
Wir von Bajour wollten wissen, wie es den Bettler*innen geht in dieser Winterkälte. Und beschlossen, eine Nacht mit ihnen draussen zu verbringen.
Ich selbst habe für diese Nacht zwei Hightech-Schlafsäcke und Isomatten von einem Bergsteigerfreund ausgeliehen. Die Kälte ist stärker als die Kunstfasern.
Steppjacke statt Frotteemantel
Unser Abend beginnt um 20 Uhr an der Bahnhofsunterführung. Eine Gruppe von Frauen und Männern steht schwer bepackt mit Tüten, fleckigen Schaumstoffmatratzen, lädierten Wolldecken und Schlafsäcken im grellen Neon-Licht der Unterführung.
«Habt ihr Brot und Wurst für uns?»Gavril, Bettler aus Rumänien
Es handelt sich um Ludovic, Gavril und ihre Familienmitglieder. Die Familie bettelt seit dem Sommer hier in Basel, Bajour hat schon mehrere Male mit ihnen gesprochen. Vor einer Woche trug Ludovic noch einen Frotteemantel gegen die Kälte, jetzt hat er immerhin eine dünne Steppjacke an.
Als wir auf die Gruppe zugehen, erblickt uns Gavril, sein Schnurrbart zuckt erfreut. Er empfängt uns mit grossem Hallo. Es dauert bloss Sekunden und schon beginnen vier von ihnen, schnell und fordernd auf uns einzureden. Ob wir etwas Brot und Wurst für sie haben, ein bisschen Kleingeld. Ob wir ihnen helfen können, ein Rückfahrticket nach Rumänien zu finanzieren.
Basel, die Humanist*innenstadt?
Vielleicht muss so beharrlich sein, wer vom Betteln leben will. Aber es ist wohl diese Aufdringlichkeit, von der sich viele Basler*innen gestört fühlen. Ideales Material für bürgerliche Politiker*innen und gewisse Medien, um das Empörungsfeuer angesichts der sichtbaren Armut inmitten unserer sauberen Stadt zu füttern.
Die Bettler*innen stürzten Basel in eine regelrechte Identitätskrise. Die Humanist*innenstadt ist seither in diesem Thema wie gelähmt. Während die Rechte überkocht wie ein zu heisser Dampfkochtopf und ein Verbot nach dem anderen fordert ganz nach dem Motto «aus den Augen, aus dem Sinn», macht die Linke: gar nichts. Oder fast nichts. Und die GLP fährt ihren üblichen Schlingerkurs, will zwar kein Bettelverbot, stimmt aber trotzdem dafür.
Advent, Advent
Gavril und Ludovic betteln uns weiter an, bis wir sagen, wir seien zum Reden hier. «Wie ist es euch ergangen in den letzten Monaten in Basel?», frage ich mit Hilfe der Übersetzerin. «Na wie soll es uns ergangen sein? Nicht besonders gut», ruft jemand im lauten Stimmengewirr dazwischen.
Ein junger Mann mit kurzem schwarzen Haar, er ist etwas korpulent und trägt eine dünne dunkelrote Bomberjacke, fragt uns, ob es nicht möglich wäre, günstig eine Wohnung zu mieten. «Dort könnten wir ja zu zehnt oder fünfzehnt wohnen. Es muss nichts Grosses sein. Aber ich habe es satt, draussen in der Kälte zu schlafen.» Ferma sei sein Name, sagt er uns. Ferma möchte gerne einen temporären Job. Das Betteln lohne sich kaum noch. «Ich möchte auf den Bau. Wie finde ich eine Stelle?»
Die Adventszeit ist normalerweise für Bettler*innen die Zeit, in der sich der Pappbecher etwas besser füllen lässt als während dem Rest des Jahres. In diesem Dezember ist aber alles anders. Die Pandemie trifft die Bettler*innen hart. Der Weihnachtsmarkt ist abgesagt, viele Geschäfte sind geschlossen, haben Existenzsorgen und kein Kleingeld übrig. Und trotzdem vermeldete die Polizei eine Zunahme: «Es ist augenfällig, dass wieder mehr Bettler unterwegs sind. Das milde Wetter der vergangenen Tage und die vielen Passanten könnten zu einer Zunahme geführt haben», sagte Polizeisprecher Toprak Yerguz am 23. November.
Das milde Wetter hat sich in der Zwischenzeit verabschiedet, aber die Hoffnung vieler Basler*innen, dass sich die Problematik rund um die Bettler*innen mit dem Einsetzen der Minustemperaturen erledigen würde, hat sich nicht bewahrheitet. Sie sind noch immer da. Und scheinen, nicht so bald abreisen zu wollen.
Ludovic zieht sich seine rote Bommelmütze mit dem Schweizer Kreuz etwas tiefer ins Gesicht, klemmt sich die Schaumstoffmatratze unter den Arm und läuft schwerfällig los. Sein Neffe Gavril und der Rest der Gruppe tut es ihm nach. Sie gehen in Richtung de Wette-Park. Gavril hat einen schweren Rucksack geschultert. An den Füssen trägt er braune abgewetzte Lederlatschen, die Spitze der Schuhe hat sich von der Feuchtigkeit dunkel gefärbt. Unter seiner sandfarbenen Winterjacke hat er einen grauen Pulli und ein blaues verwaschenes T-Shirt an. Er habe ein paar Kleider bei der Verteilaktion am Bahnhof vor ein paar Tagen bekommen, sagt er.
Community-Mitglied Jean hatte letzte Woche mit Hilfe von «Gärn gschee – Basel hilft» Bettler*innen mit warmen Kleidern, Decken, Schlafsäcken und Essen ausgerüstet.
21 Uhr, 1 Grad
Nieselregen hat eingesetzt, es ist etwa ein Grad kalt. Wir laufen neben Gavril und Ludovic her und fragen zögerlich, ob wir heute Nacht bei ihnen und ihren Verwandten bleiben dürfen. Ich bin ein bisschen nervös, kann nicht abschätzen, wie ihre Reaktion ausfallen wird und hoffe, sie nicht vor den Kopf zu stossen.
«Ihr wollt auch draussen schlafen?», fragen sie ungläubig. Gavril sieht uns mit weit aufgerissenen Augen an. Unser Vorhaben sorgt für ratlose Gesichter. Aber niemand hat etwas dagegen. «Das könnt ihr schon machen. Ich verstehe zwar nicht ganz warum, aber bleibt ruhig», sagt Gavril mit seiner tiefen Stimme auf Rumänisch. «Neben mir hat es vielleicht etwas Platz für euch.» Wir sind die Letzten, die im Park ankommen. Die Grossfamilie hat sich in der Zwischenzeit im Pavillon eingerichtet. Die Wolldecken hängen über dem Geländer und sollen vor dem Wind schützen. Eng nebeneinander liegen sie zugedeckt im Kreis. Es sind etwa zwanzig Menschen.
Gavril steht am Brunnen und füllt seine Petflasche mit Wasser. Sein Cousin Mihail tut es ihm nach und hält einen kleinen Milchkarton unter den Wasserstrahl.
«Ich bin seit einer Woche wieder hier. Es läuft nicht besonders gut für uns. Gestern habe ich fünf Franken gemacht. Heute gar nichts», sagt Gavril.
Es seien zu viele Bettler*innen in der Stadt, hören wir Gavril und auch andere Bettler*innen immer wieder sagen. Das mache das Geschäft kaputt. Die Menschen seien vielleicht spendemüde geworden, jetzt wo man fast an jeder Ecke in der Innenstadt eine*n Bettler*in antrifft, sagen sie.
«In den letzten drei Monaten haben wir vom erbettelten Geld gelebt.»Gavril, Bettler aus Rumänien
Der Regen ist etwas stärker geworden. Gavril bedeutet uns, uns unter den Dachvorsprung des Pavillons zu stellen. Er beisst in einen halben Laib Weissbrot und beginnt kauend zu erzählen:
«Im Sommer waren meine Frau und ich zwei Wochen da. Gemeinsam haben wir 500 Euro gemacht und sind damit wieder zurück nach Rumänien zu unseren drei Kindern.» Er hält uns ein Foto hin. «Hier, das ist meine grosse Tochter. Sie ist zwanzig.» Seine anderen beiden Kinder, Söhne, sind im Teenager-Alter und haben Trisomie 21, sagt Gavril.
Jetzt ist er mit Cousin Mihail angereist. Die Frau sei bei den Kindern geblieben. «In den letzten drei Monaten haben wir vom erbettelten Geld gelebt.» Einen Job hat er zu Hause nicht.
Plötzlich hören wir eine verärgerte Stimme, direkt neben uns. «Geht woanders hin. Ich versuche hier zu schlafen», sagt einer der Roma, der gleich neben uns liegt. Wir entfernen uns ein paar Schritte. Ich ziehe meine Kapuze auf und meine Jacke zu. Gegen den Regen nützt das trotzdem nicht lange. Meine Beine sind irgendwann nass. Ich spüre, wie die kalte Feuchtigkeit in meine Kleidung kriecht.
Organisiert, aber keine Bande
Gavril will genug Geld sparen, um seine Rückreise zu finanzieren. Die koste 100 Euro pro Person. Rumänen würden sie in einem Van mit acht Plätzen zurückfahren. Aber sie fahren erst, wenn genug Geld zusammengekommen sei. Es komme auch vor, dass man sich bei ihnen verschulde.
Sofort denke ich an Schlepper, die sich auf Kosten von armen Menschen bereichern.
«Setzen diese Fahrer euch unter Druck? Versteht ihr euch gut mit ihnen?», wollen wir von Gavril wissen.
«Nein, kein Druck. Sie gehören nun zu unserer Gruppe. Wir sind Freunde», sagt Gavril.
Gut, 100 Franken für eine Fahrt sind nicht viel. Klingt nicht nach Bereicherung... Schaut man bei Flixbus kostet die nächste Fahrt am Sonntag, 13.12. von Zürich nach Bukarest 195 Franken.
Roma-Familien reisen häufig organisiert zum Betteln ins Ausland wie schon die deutsche Reporterin Anna Tillack recherchiert hat. Sie hat eine Roma für eine Doku ein Jahr lang begleitet.
Wer jetzt einen mafiösen Bettelboss mit Goldkette und Villa vor dem inneren Auge sieht: Das ist ein Hirngespinst. Wir von Bajour haben den Bettelboss im Sommer gesucht und keinen gefunden. Jean-Pierre Tabin, Professor an der Fachhochschule für soziale Arbeit und Gesundheit in Lausanne, hat das Thema Betteln wissenschaftlich untersucht. Resultat: Die Verdienstmöglichkeit einer Bettlerin liegt in der Schweiz zwischen zehn und 20 Franken pro Tag. Das spricht gegen mafiöses Betteln, oder wie Wissenschaftler Tabin gegenüber swissinfo.ch sagt: «Es existiert nicht, es ist eine Fantasie.» Was es gebe, sei Familiensolidarität.
In Basel ist seit Juli dieses Jahres Betteln erlaubt, solange es nicht bandenmässig geschieht. Die Polizei soll mehrere Dutzend Bettler*innen verzeigt haben. Die Gründe dafür sind aber Teil der Ermittlungen und wurden bisher nicht kommuniziert.
Rückkehrhilfe für Roma
Allerdings gäbe es noch eine zweite Lösung, um heimzufahren. Sie könnten beim Kanton Basel-Stadt Nothilfe beantragen und so ihr Rückfahrts-Billet finanzieren. «Ja, das wissen wir», sagt Gavril. Aber er und seine Familienmitglieder seien skeptisch. «Wir wären dann mit unseren Personalien registriert. Ich weiss nicht, ob das gut ist. Wir fragen uns, ob das dann bedeutet, dass wir nie mehr nach Basel zurück dürfen?»
Auch Michel Steiner, Co-Geschäftsleiter des Vereins für Gassenarbeit «Schwarzer Peter», hat die Erfahrung gemacht, dass die Bettler*innen sich ungern Hilfe holen: «Das Problem ist, dass die Menschen sich dafür offiziell anmelden müssten und die Rückkehrhilfe einmalig gilt. Aber die meisten wollen nicht definitiv zurück. Höchstens über die Festtage.» Die Schweizer Asylverordnung sieht nämlich vor, dass Begünstigte, die in die Schweiz zurückkommen, die Nothilfe zurückzahlen müssen.
Aus demselben Grund gehen viele Bettler*innen wohl nicht in die Notschlafstelle. Auswärtige, die nicht über die Sozialhilfe gehen, zahlen in der Notschlafstelle 40 Franken pro Übernachtung.
Auf einmal stellt sich ein Mann neben uns und redet aufgeregt auf Rumänisch auf uns ein. «Seid ihr meine Anwältinnen?», will er wissen. Er erzählt uns, dass er Ärger mit den Behörden habe. Er soll unschuldig im Gefängnis gewesen sein. «Man wollte mich wegen Diebstahls verurteilen. Aber ich habe nichts getan. Trotzdem musste ich einen Monat in U-Haft», sagt er aufgebracht. Er will wissen, ob er nicht eine Entschädigung für die im Gefängnis verbrachte Zeit erhalten könne. Schliesslich habe die Untersuchung nichts ergeben. Wir blicken uns an und sagen, dass das eher unwahrscheinlich klingt. Der Mann, der uns seinen Namen nicht verraten wollte, verwirft die Hände, schimpft laut los und läuft sauer davon.
Weihnachten zu Hause
Gavril kaut noch immer an seinem Brot und hat die Szene wortlos mitangesehen. «Im Sommer kam ein Polizist zu uns und hat uns die Regeln erklärt. Wir halten uns daran und wollen keinen Ärger», sagt Gavril. «Ich bin katholisch. Ich würde nie stehlen», sagt er ernst. Cousin Mihail pflichtet ihm bei.
«Mihail taugt als Bettler nichts», sagt Gavril lachend. «Er ist zu schüchtern. Das nächste Mal nehme ich ihn nicht mehr mit.» Mihail ist etwas kleiner und schmaler als Gavril, trägt auch Schnurrbart und hat sich in mehrere dicke Pullis gepackt. Er schüttelt den Kopf, lacht verlegen und meint nur: «Ich wollte nicht betteln. Ich schäme mich. Aber ich habe meinen Job als Putzkraft verloren und darum mittlerweile keine Wahl mehr.»
Die beiden hoffen, in etwa einer Woche nach Hause reisen zu können. Sie würden die Festtage gerne zu Hause verbringen. An Weihnachten sitzt man mit der Familie zusammen, isst Sermale – rumänische Sauerkrautrouladen – und trinkt Cola. Und zieht von Tür zu Tür und singt rumänische Weihnachtslieder.
Bis dahin müssten sie aber noch mehr Geld erbetteln, um das möglich zu machen.
Mihail und Gavril gehen zu ihren Schlafplätzen. «Gute Nacht und bis morgen», sagen wir zu ihnen. «Bis morgen. Und vergesst nicht, mir eine Wurst mitzubringen», ruft uns Gavril noch hinterher. Dann schlüpft er unter seine Decke und zieht sie sich bis unters Kinn.
Wir gehen weiter, machen aber mit Gavril ab, dass wir später zum Schlafen zum Pavillon zurückkommen.
22 Uhr, Unterführung Heuwaage
Assia, Kalin und Ivo schlafen schon, als wir bei ihnen in der Unterführung an der Heuwaage auftauchen. «Hallo zusammen», rufen wir zaghaft. Eine Hand schiebt eine Stück Karton weg, darunter taucht eine dunkelhaarige Frau mit weisser Bommelmütze auf. Sie streckt verschlafen ihren Kopf hoch. «Oh, hallo», sagt sie erfreut zu uns auf Deutsch. Wir haben uns letzte Woche schon einmal unterhalten.
Assia, ihr Ehemann Kalin und ihr Bruder Ivo sind aus Bulgarien. Seit etwa einem Monat sind sie in Basel und betteln nach Geld. Ein schlimmer Autounfall, der Assias Ehemann vor zehn Jahren beide Hände kostete, stürzte die Familie zunächst in die Arbeitslosigkeit und dann in die Armut. «Eine Hand hätte nicht amputiert werden müssen. Aber wir hatten schon damals nicht so viel Geld und konnten uns die Operation nicht leisten.» Seither bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu betteln. Es sei das zweite Mal, dass sie in Basel seien. Das erste Mal waren sie im Oktober hier.
«Weisst du, wir sind das Problem. Nicht die Menschen hier, ich weiss das», sagt Assia in nüchternem Ton. Sie verstehe, dass die Menschen nicht gerne angebettelt werden. Aber sie und ihre Familienmitglieder würden nur stumm dasitzen, mit einem Becher vor ihnen. «Ich bin meistens vor der Post. Und die anderen beiden in der Shoppingstrasse», erzählt sie.
Damals, im Oktober, hätten sie deutlich mehr Geld zusammenbekommen. «Es gab Tage, da haben wir zu dritt bis zu 200 Euro erhalten», sagt Assia. Mittlerweile bekommen sie fast nichts. Es reichte aber immerhin für die Easyjet-Rückflugtickets. Denn morgen Samstag wollen sie zurück nach Hause.
Von ihrem anderen Bruder, der in Bern lebt, haben Assia und die anderen vom aufgehobenen Bettelverbot erfahren. Darum seien sie diesen Herbst nach Basel gekommen.
«Und warum lebt ihr nicht in Bern bei deinem Bruder?», will ich wissen.
«Er kann uns ja nicht alle durchfüttern. Und wir haben kein Geld, um ihm etwas an die Miete zu zahlen. Wir wollen ihm nicht zur Last fallen», sagt Assia und zuckt mit den Schultern.
«Heute ist es wenigstens nicht ganz so kalt», sagt sie. Sie hat Recht. Zwei Nächte zuvor stieg das Thermometer nicht über Minus 3 Grad. Der Regen hält weiterhin an. Aber in der Unterführung ist es immerhin trocken.
Dünner Karton schützt die drei Bulgar*innen vor dem kalten Asphalt. Sie teilen sich drei Wolldecken. Vorher hätten sie mehr warme Kleidung und Decken gehabt. Aber dann hat die Polizei ihre Sachen vor wenigen Tagen abgeräumt, erzählen sie.
«Wir sprechen seit diesem Sommer darüber und suchen krampfhaft nach schnellen Lösungen. Wie aber auch in der Coronakrise gibt es diese hier nicht.»Beda Baumgartner, SP-Grossrat
Denn die Bettler*innen dürfen sich nur nachts im Park und in den Unterführungen einquartieren. Im Freien übernachten, ist in Basel nicht verboten. Aber die Polizei will, dass die Lager ab 7 Uhr geräumt werden. Tagsüber ist auch im Pavillon, wo die Roma übernachten, nichts mehr übrig von ihrem Schlafplatz. Sie schleppen während des Tages all ihr Hab und Gut mit.
Die SP ist nicht glücklich über den Umgang mit den Bettler*innen in Basel. Dass man sie vom Platz verweise und sogar eine Wiedereinführung des Bettelverbots im Grossen Rat diskutiert, sorgt für Unmut unter den Linken. So sagte SP-Grossrat Beda Baumgartner am 2. Dezember zur bz: «Wir haben ein grundsätzliches Problem und müssen einen anderen Umgang damit finden.»
Wie dieser Umgang aussehen soll, das weiss die SP allerdings auch nicht. Baumgartner wünscht sich einen stärkeren Dialog mit den Bettler*innen und sagt aber gleichzeitig: «Wir sprechen seit diesem Sommer darüber und suchen krampfhaft nach schnellen Lösungen. Wie aber auch in der Coronakrise gibt es diese hier nicht.»
Schneeregen
Wir wollen Assia, Ivo und Kalin nicht weiter vom Schlafen abhalten und beschliessen, zum Pavillon zurückzukehren. Als wir uns verabschieden, laden uns die drei ein, sie in Bulgarien irgendwann zu besuchen.
Wir stapfen durch den Park, vorbei an dem grün-weissen Schild der Stadtgärtnerei, das darauf hinweist, dass es verboten ist, sich im Gebüsch zu erleichtern. Ein Schild extra für die Bettler*innen, die hinter Büsche und an Kirchenmauern gepinkelt hatten.
Zurück beim Pavillon schlafen längst alle. Man hört bloss noch das leise Schnarchen Einzelner. Platz hat es für uns dort inzwischen keinen mehr. Darum legen wir uns zu den anderen drei Familienangehörigen, die vor der Sarasin-Bank übernachten. Eine ältere Frau mit ihrem Sohn und seiner Ehefrau.
Der Mann hebt bloss kurz den Kopf und nimmt uns kommentarlos zur Kenntnis. Dann verschwindet er wieder unter der Decke. Die Stunden vergehen nur zäh, während ich mich in meinem Schlafsack hin- und herwälze. Meine Füsse sind kalt. Dagegen helfen auch die Skisocken nicht. Ich spüre meine noch vom Regen feuchte Jeans durch die Thermoleggins. Gegen 2 Uhr, es ist etwa Null Grad mittlerweile, setzt der Schneeregen ein und peitscht auf den Asphalt. Der Dachvorsprung ist gerade so breit, dass wir davon verschont bleiben.
Mein Nachbar kann auch nicht schlafen. Er setzt sich auf und holt ein Stück Salami aus einer Tüte, in das er hineinbeisst, während er dem Schneeregen zusieht. Irgendwann, es ist etwa 3 Uhr, legt er sich wieder schlafen.
Kurz nach 5 wachen unsere drei Nachbar*innen auf. Sie beginnen ihre Sachen in grosse Plastiktüten zu packen. Die ältere Frau kniet sich auf ihre blau-weisse Decke, hält ihre kleinen faltigen Hände aneinander und beginnt zu beten. Dann erhebt sie sich, legt die Decke zusammen und läuft mit ihrem Sohn und seiner Frau davon.
Als ich aus dem Schlafsack steige, schüttelt es mich kurz vor Kälte. Wir packen rasch unsere Sachen und wollen uns einen Tee am Bahnhof holen gehen.
Vorher gucken wir aber noch beim Pavillon vorbei. Die meisten schlafen noch. Ein paar Plätze sind aber schon wieder frei.
Der nächste Tag
Am Bahnhof treffen wir die Frühaufsteher*innen in der Unterführung. Es sind Gabor und seine Frau Elena, die im siebten Monat schwanger ist. Für sie hat Gabor am Montag bei der Gärn gschee-Verteilaktion eine warme Jacke ergattern können. Davor trug sie bloss ein Gilet über einem dicken Pullover. Sie begrüssen uns lächelnd und mit verquollenen verschlafenen Gesichtern. Bald ziehen sie los in die Innenstadt. Aber zuvor stärken sie sich mit Kaffee aus dem Take Away am Bahnhof.
«Stimmt es, dass das Bettelverbot vielleicht wieder eingeführt wird?», fragt Gabor. Sie hätten sowas gehört.
«Es wird von der Politik verhandelt», sagen wir.
Gabor nickt und sagt nichts.
Gegen 8 Uhr verabschiede ich mich von ihnen, steige in den Bus und fahre nach Hause. Die Sonne geht langsam auf, die Stadt erwacht, die Läden sind wieder offen. Die Bettler*innen begeben sich in Position.
Und ich stelle mich zu Hause unter die heisse Dusche, spüre, wie die stechende Kälte langsam nachlässt und wieder mehr Gefühl in meine Gliedmassen zurückkehrt. Ich schäme mich für mein Privileg – heute Abend kann ich wie gewohnt in meinem warmen Bett schlafen, die Minustemperaturen können mir nichts mehr anhaben. Gavril und die anderen Roma müssen wieder mit dem Pavillon vorlieb nehmen.
Mitarbeit (interkulturelle Übersetzung): Natalie Sigg.
Telebasel hat auch eine Nacht lang mit Bettler*innen verbracht. Die Reportage gibt's hier zu sehen.