Laurin ist fröhlich, dann beginnt der Unterricht

Die integrative Schule möchte eine «Schule für alle» sein. Für den Basler Knaben Laurin gibt es dennoch keinen Platz. Am Schluss landet er in der Psychiatrie. Eine gemeinsame Recherche mit der WOZ.

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Wenn es in der Schule drunter und drüber geht. (Illustration: Samuel Schuhmacher)

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Bereits von den Kinder­gärt­ner*in­nen hat Matilde Müller* täglich gesagt bekommen, was ihr Sohn wieder angestellt habe. Laurin* würde sich einfach so verstecken oder das Gelände verlassen, statt mitzumachen, er sabotiere Gruppenarbeiten und spiele immer nur, was und wie er gerade wolle. Laurin, erzählt seine Mutter heute, habe sich innert kurzem von einem fröh­lichen Kind in ein unberechenbares verwandelt. «Manchmal erkannte ich ihn kaum wieder.» Morgens hatte sie grosse Mühe, ihn für den Kindergarten zu motivieren.

Als sich das erste Jahr dem Ende zuneigt, erklärt die Kindergartenleitung den Eltern, sie könne ihre Aufsichtspflicht nicht mehr erfüllen. Ihnen wird nahegelegt, Laurins Situation in ­einer psychiatrischen Tagesstruktur abzuklären. «Ich bekam das Gefühl vermittelt, eine schlechte Mutter zu sein, wenn ich nicht mache, was sie mir sagen.»

Die Eltern entscheiden sich dennoch gegen diesen Vorschlag. Dem Abklärungsdruck indes kommen sie nach und lassen Laurin extern bei einer «Koryphäe» abklären, wie Müller sagt. Abgeklärt werden neben dem Intelligenzquotienten auch ADHS und das Autismusspek­trum. Eine eindeutige Diagnose wird nicht gestellt. Der Psychiater befindet, Laurin brauche keine Therapie, vielmehr müsse sein Umfeld geschult werden. Für Kinder wie Laurin, deren kognitive Fähigkeiten stark ausgeprägt sind, sind grosse Klassen problematisch, da sie dort zu vielen Reizen ausgesetzt sind.

Nur an Defiziten orientiert

Im zweiten Kindergartenjahr besucht Laurin ein Spezial­angebot mit nur wenigen Kindern. Der Psychiater schulte zudem das Umfeld im Sonderkindergarten. «Das war ein heilsames Jahr», sagt Matilde Müller. Laurin lebte wieder auf – und so gaben die Eltern auch dem Spezialangebot der Primarschule eine Chance. Optimal sei das Angebot nicht gewesen, sagt Müller – aber für eine Privatschule fehlte der Familie das Geld.

«Ich habe am Morgen ein Kind zur Schule gebracht und am Abend ein anderes abgeholt.»
Matilde Müller*, Mutter

Den Eltern wird nahegelegt, auch im Spezialangebot der Primarschule mit den Lehrpersonen so gut wie möglich in Kontakt zu bleiben. Doch Laurin findet sich nicht zurecht. Die Stimmung in der Klasse ist laut und aggressiv, auch haben seine acht Mitschüler unterschiedlichste Leistungsniveaus. Schulisch unterfordert, fühlt sich Laurin an dieser Schule überfordert. Der Fokus liegt auf seinem Verhalten, ständig geht es darum, was er besser machen könnte. «Defizitorientiert», sagt Müller.

War Laurin vor Beginn der Primarschule noch ein offenes Kind, erlebt ihn Müller jetzt nach der Schule oft wütend oder verschlossen: «Ich habe am Morgen ein Kind zur Schule gebracht und am Abend ein anderes abgeholt.» Von der Schulseite her wird die Familie zu erneuten Abklärungen gedrängt, mit dem Ziel einer heilpädagogischen Unterstützung. Erneut fällt die Diagnose uneindeutig aus.

Das ist der Moment, als Müller zu realisieren beginnt, dass das grosse Versprechen der «Schule für alle» ein leeres ist. «Für alle» heisst: nicht für Laurin.

Wenig Alternativen

In Basel-Stadt wird die «Schule für alle» seit rund zehn Jahren praktiziert. Das integrative Konzept der Volksschule sieht vor, dass prinzipiell alle Kinder die Regelklasse besuchen sollen – dank individuell abgestimmter Fördermassnahmen. Nun aber, da in manchen Klassen bereits jedes zweite Kind heilpädagogische Unterstützung braucht, hat im Januar ein Komitee aus dem Schulbereich eine Initiative lanciert, die neben Integrations- auch wieder Förderklassen einführen möchte.

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Für Schü­ler*in­nen wie Laurin jedoch ist selbst die breite integrative Schule zu eng gefasst. Erscheint eine integrative Beschulung nicht mehr möglich, kommen laut dem Basler Erziehungsdepartement die erwähnten Spezialangebote zum Zug. So werden aktuell 342 Schü­ler*in­nen separativ oder in einer nichtstaatlichen Sonderschule unterrichtet. Hinzu kommen Kinder, die ein Schulheim besuchen. Für all diese Kinder gibt es wenig Alternativen.

Manche von ihnen geraten in eine Abwärtsspirale – die sich im Fall von Laurin immer schneller zu drehen begann: Nach drei Jahren Sonderprimarschule wechseln Schulleitung, Klassenlehrerin und Klassenzusammensetzung. Die Eltern weisen die Schule darauf hin, dass das für Laurin schwierig sein ­könnte. Und dann der grosse Schock: Nur fünf Wochen nach Beginn des neuen Schuljahrs teilt man den Eltern mit, dass Laurin nicht mehr beschulbar sei. Nicht nur die Eltern, auch die Lehrpersonen wirken überfordert. Im Wissen um die begrenzten Möglich­keiten des schulischen Apparats empfehlen sie eine ausser­schulische Förderung.

«Ich bekam das Gefühl vermittelt, eine schlechte Mutter zu sein, wenn ich nicht mache, was sie mir sagen.»
Matilde Müller*, Mutter

Die Familie zieht die Notbremse und lässt Laurin krankschreiben. In den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) erfolgt eine erneute Abklärung. Insbesondere suchen die Eltern dort nach einer angemessenen Beschulungsform. Endstation Psychiatrie – mit neun Jahren? «Ich könnte kotzen», sagt Müller. Das Konzept der «Schule für alle» sei zwar «lobenswert», deren Umsetzung jedoch «eine Katastrophe». Ihrem Wunsch, konkrete Vorschläge für geeignete Privatschulen zu erhalten, sei man in der UPK nicht nachgekommen.

Aufgrund ihrer offenen Lernkonzepte könnten Privatschulen eine Alternative zur Volksschule darstellen. Im heutigen System jedoch werden sie laut dem Basler Erziehungsdepartement nur noch in Ausnahmefällen bezahlt, wenn kein eigenes bedarfsgerechtes Angebot verfügbar ist.

Von über 16 000 Volks­schüler*in­nen gehen derzeit nur 14 auf eine vom Kanton finanzierte Privatschule. Nur wenige Eltern können sich das aus eigenen Mitteln leisten. Die Lösung, die für Laurin in der UPK auf dem Tisch liegt, sieht denn auch vor, dass er in die Schule zurückkehrt, aus der er gerade erst rausgeflogen ist – oder in ein Schulheim kommt. Beides kommt für die Eltern nicht infrage. Hilflosigkeit macht sich breit. Gleichzeitig setzen die Abklärungen Laurin zu. In der UPK kann er nachts nicht mehr schlafen.

Flucht ins Ausland

Die Mutter entscheidet sich für einen radikalen Schritt: Sie wandert gemeinsam mit ihrem Sohn aus und entzieht sich damit der hiesigen Schulpflicht. Sie atmet durch und findet neue Per­spektiven für Laurin, für sich. Müller spricht von «Heilung», die notwendig sei, bevor ihr Sohn einen Neuanfang wagen könne. Laurin selbst sagt, dass es ihm wieder gut gehe, seit er Schule und Abklärungen hinter sich habe.

Die Geschichte hat ein Happy End, weil Müller den Mut hatte, auf ihr Bauchgefühl zu hören und den Jungen vorerst aus der Schule zu nehmen. «Ich hätte früher handeln sollen», sagt sie heute. Im Rückblick hätte sie jeden zusätzlichen Job angenommen, um das Geld für eine Privatschule aufzutreiben.

«Die UPK ist keine End-, sondern eine Zwischenstation.»
Irène Fontanilles, Leiterin Klinikschulen

Seit Februar besucht Laurin eine ausländische und dadurch wesentlich günstigere Privatschule. Und plötzlich scheint alles einfach: Den Schüler:innen wird auf Augenhöhe begegnet, sie werden gefördert, wo sie stark sind – und bekommen mehr Zeit, wo sie sie brauchen. Laurin, so Müller, erzähle nun täglich motiviert, welchen neuen Stoff er gelernt habe.

Davon jedoch, dass Privatschulen mit ihren alternativen Konzepten etwas leisten, was Regelschulen nicht leisten (können), sind nicht alle überzeugt. Irène Fontanilles etwa berichtet, dass in ihrer langjährigen Karriere als Leiterin der Klinikschulen an der UPK noch nie keine Lösung für ein sogenannt schwer integrierbares Kind gefunden worden sei: «Ziel der Abklärung ist es, herauszufinden, warum manche Kinder sich so verhalten, dass der Verdacht entsteht, sie seien schulisch nicht integrierbar.» Die UPK sei «keine End-, sondern eine Zwischenstation», immer mit dem Ziel einer Reintegration. In ihrer Erfahrung sei «die Schule nicht der Ursprung der Krise oder gar der Erkrankung des Kindes, diese mag sich im schulischen Umfeld jedoch zeigen».

Urs Bucher, Leiter der Basler Volksschule, verspricht «Verbesserungen im System». Doch eine Rückkehr zur Kleinklasse lehnt er ab. Stattdessen rät er zu einer Rückbesinnung im Bildungswesen, auf das, was er «unsere Daseinsberechtigung» nennt: «Das Kind steht im Zentrum aller unserer Tätigkeiten – nicht die Lehrpersonen.»

«Die Schule konnte in seinem Fall den Lehrauftrag nicht erfüllen.»
Matilde Müller*, Mutter

Matilde Müller bringen solche «aalglatten Aussagen» auf die Palme: Ihr Erleben als berufstätige Mutter, die jahrelang dafür kämpfte, dass ihr Sohn die ihm zustehende Bildung in ­einem entsprechenden Rahmen erhält, deckt sich nicht mit diesen Aussagen. Laurins Verhaltensauffälligkeiten, worauf die Schule den Fokus hauptsächlich gerichtet habe, hätten sich eher an der Schule manifestiert. Lehrpersonen hätten ihr bestätigt, dass Laurin auf eine kleine Klassengrösse angewiesen und im staatlichen Spezialangebot schulisch unterfordert sei. Müllers Fazit: «Die Schule konnte in seinem Fall den Lehrauftrag nicht erfüllen.»

* Namen von der Redaktion geändert.

Valerie Zaslawski
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Nach einem ersten journalistischen Praktikum bei Onlinereports hat Valerie verschiedene Stationen bei der Neuen Zürcher Zeitung durchlaufen, zuletzt als Redaktorin im Bundeshaus in Bern. Es folgten drei Jahre der Selbständigkeit in Berlin, bevor es Valerie zurück nach Basel und direkt zu Bajour zog, wo sie nun im Politikressort tätig ist.

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