Lehre

Ist eine Lehre noch attraktiv?

Das Kollektiv Scorpio aus Lernenden aller Branchen ruft am Samstag in Basel zu einer Demo für bessere Bedingungen in der Lehre auf. Sie fordern einen höheren und einheitlichen Mindestlohn und Gratis-ÖV für alle Lernenden. Gefordert werden auch sieben Wochen Ferien und eine 35-Stunden-Woche inklusive Schulzeit. Wie Daten des Kantons zeigen, laufen Lehrverhältnisse nicht immer wie geplant: Die Zahl der Lernenden, die ihre Lehre abbrechen, liegt zwischen 10 und 13 Prozent.  Gegenüber Bajour sagen Lernende, die wenigsten Unternehmen würden den Auszubildenden Zeit im Rahmen der Lehre geben, um für die Prüfungen der Berufsschule zu lernen. Daher appelliert Scorpio an die Betriebe, Lernende zu unterstützen, auch wenn sie sich für eine Berufsmatur entscheiden. Neben besseren Arbeitsbedingungen fordern die Lernenden auch einen Schutz vor Diskrimierung. Laut einer Umfrage der Gewerkschaft Unia fühlte sich fast jede*r Dritte im Arbeitsumfeld schon einmal unwohl wegen Mobbing.

761 Stimmen
Michelle Isler
Michelle Isler
Moderation
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Patrick Bossard
dipl. Elektro-Installateur

Lehrlings-"Lohn"

Dazu gilt zu erwähnen, dass es sich grundsätzlich um eine Entschädigung und nicht um einen Lohn handelt. Sie absolvieren eine Ausbildung. Das bedeutet, sie gehen 1-2 Tage in der Woche in die Berufsfachschule, erhalten zusätzliche interne Schultage und Vorbereitungswochen und sind rund 10 Tage pro Jahr in einem überbetrieblichen Kurs (üK). Und gerade zu Beginn benötigen sie (immer wie mehr) Unterstützung und Zeit, um den Beruf zu lernen. Neben diesen vielen "unproduktiven" Stunden, kommen noch Kosten für die üKs, Räumlichkeiten (Schulungen und Lager), Verbrauchsmaterial etc. dazu. Es geht nicht ums Jammern, lediglich ums Bewusstsein. Und es erstaunt mich, dass darüber so heftig debattiert wird. Denn während einer weiterführenden Schule gibt es keinen "Lohn". Und danach auch noch nicht. Hingegen ist man nach der Lehre arbeitsmarktfähig, verdient (gerade im Handwerk) so gut, dass dann ein eigener Haushalt gegründet werden kann und der Weg weiter (nach oben) in alle Richtungen offen steht.

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Beatrice Isler-Schmid
20. März 2025 um 07:17

Beide Seiten anschauen

Ich würde mir wünschen, dass Bajour dann auch die Lehrbetriebe mal anhört und anschaut. Es gibt immer zwei Seiten der Medaille. Dass es in der Lehre strenger ist, als wenn man zur Schule geht oder studiert, ist Fact und gehört zum Leben, zum Berufsleben. Und bez. des Lohns bin ich der Meinung, dass der Lehrlingslohn keinesfalls existenzsichernd sein muss, denn der überwiegend grössere Anteil der Lernenden wohnt noch daheim. Lernende sind keine Billiglohnarbeitende, sondern Menschen in der Ausbildung, die noch Unterstützung bekommen. Ausserdem finanziert der Lehrbetrieb ja quasi die Lücke, wenn die Lernenden in der Berufsschule sind und nicht im Betrieb arbeiten. Eigentlich sind die Bestrebungen gross, mehr Lehrbetriebe zu akquirieren. Massive Forderungen bez. Lohn und Freizeit schrecken künftige Lehrbetriebe wohl eher ab. Und ja, ich gebe es zu, es wird Lehrbetriebe geben, die aus dem Raster fallen, zu Ungunsten der Lernenden. Aber für das gibt es Aufsichtsstellen etc.

Nicole
20. März 2025 um 08:22

Es ist gut, wenn sich Jugendliche für ihre Rechte wehren…. aber was ich nicht verstehe. Seit wann muss ein Lehrlingslohn existenssichernd sein? Sind nicht die Eltern verflichtet ihre Kinder bis Abschluss einer 1.Ausbildung finanziell zu unterstützen? Ich würde es begrüssen, wenn die berufliche Lehre wieder attraktiver wird und mehr Jugendliche diesen Weg gehen. Eine Demo finde ich da kontraproduktiv, weil der Grossteil der Firmen verantwortungsvolle Ausbildner sind.

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Patrick Bossard
dipl. Elektro-Installateur

Lehre=Karriere

Leider gibt es einzelne (wenige) Lehrbetriebe, welche sich nicht an die üblichen Regeln halten. Die Mehrheit verhält sich jedoch korrekt und bietet bereits jetzt mehr Ferien und weitere Benefits an. Als angestellter Leiter Berufsbildung (und wohlgemerkt als Gewerkschaftsmitglied) in einem sehr grossen Unternehmen stört mich diese Demo etwas. Die Lehraufsicht schreitet bei Verstössen ein und die Lernenden sind i.d.R. gut geschützt. Dass im Kanton BS viel mehr Jugendliche ein Gymi oder eine FMS abbrechen, wird nicht erwähnt und ist viel störender. BS ist auch darum mit 85% am Schluss der Abschlussquote Sek II. Unterdessen haben wir zum Glück auch in BS einen RR, welcher das erkennt und wirklich etwas unternimmt. Das Erolgsrezept der Schweiz, nämlich die Berufsbildung, stärken.

Daniel Seiler
Daniel Seiler
Grossrat und Präsident der FDP Kleinbasel

Berufslehre als solide Basis

Die Schweiz hat ein weltweit einmaliges duales Berufsbildungssystem. Mit einer Berufslehre lernen junge Menschen früh Selbstbewusstsein und Selbständigkeit und können erfolgreich ihr Leben gestalten. Eine Berufslehre bildet die solide Basis für die berufliche Weiterentwicklung und bietet viele Chancen für den beruflichen Aufstieg auf der Karriereleiter. Ich persönlich habe zwei Berufslehren absolviert, bevor ich mein Studium als Betriebsökonom gestartet habe. Die erlebte Betreuung, Förderung und Motivation durch meinen Lehrmeister ermöglichten meine berufliche und persönliche Weiterentwicklung. Als Präsident der Schulkommission der Allgemeinen Gewerbeschule nehme ich die Berufslehre auch heute noch als attraktiv war.

Manuela Schällibaum
19. März 2025 um 16:13

Während früher eine Ausbildung als solider Karrierestart galt, wird sie heute oft als „Plan B“ für Schulabgänger gesehen, die es nicht ans Gymnasium geschafft haben. Hinzu kommen tiefe Lehrlingslöhne, wenig Flexibilität und das Gefühl, dass Studium und Bürojob mehr Prestige bieten. Die Realität sieht anders aus: Viele Akademiker landen nach dem Abschluss in befristeten Praktika, während gut ausgebildete Handwerker, Informatiker oder Techniker hervorragende Jobchance haben. Wie wäre es mit einer „Lehrlingsprämie“, um die tiefen Einstiegsgehälter auszugleichen? Oder einer Imagekampagne, die zeigt, dass eine Lehre nicht nur ein Sprungbrett, sondern ein eigenständiger Erfolgsweg ist? Oder steuerliche Vorteile für Firmen mit überdurchschnittlicher Ausbildungsleistung könnte in Betracht gezogen werden.

Isabelle Bellakovics-Aebin
20. März 2025 um 08:24

Lehre=Studium=Lohn

Ich war vor 35 Jahren eine KV-Lehrtochter in einer CH-Grossbank: Das Programm war miserabel. Ich erinnere mich an die Lottozettelabgabe am Freitagnachmittag & Pausenräumli-Pflege. Ich erinnere mich an (viel zu) wenig Fachausbildung. Ich habe dennoch in den Rängen abgeschlossen, vielleicht eher aus Trotz. Zum Glück sind diese Zeiten vorüber. Meine Söhne sind beide Lehrlinge und die Betreuung ist so viel besser geworden (nein, nicht perfekt). Die Forderungen von Scorpio sind nicht übertrieben: viele Betriebe bieten das Meiste davon bereits an und sind sehr bemüht. Aber es gibt die Anderen, und da muss sicher nachgebessert werden, auch mit der Unterstützung der Gesamtgesellschaft. Denn wir alle brauchen unsere Lernenden. Und das fehlende Ansehen eines Lehrabschlusses in der Gesellschaft wurzelt tief in der meritokratischen Logik. Erst wenn wir breiter über Arbeit nachdenken kann sich etwas ändern. Der Weg ist lang.

Peter Sidler
20. März 2025 um 07:20

Das Anliegen dieser jungen Leute ist wichtig und berechtigt. Lernende auf der einen und FMS- und Gym-Schüler:innen auf der anderen Seite erleben zwei komplett verschiedene Schul- und Arbeitskulturen. Die Kälte, Härte und Länge eines Lernenden-Tages ist nicht zu vergleichen mit dem wertschätzenden Klima während eines Schultages. Und „deutlich weniger Ferien“ heisst konkret: 5 Wochen statt 14 Wochen. Und bei Schwierigkeiten in der Schule oder bei privaten Problemen können Schüler:innen noch am selben Tag ein Gespräch mit einer Lehrperson bekommen oder mit der Klassenlehrerin oder dem Schulsozialarbeiter oder der Schulpsychologin oder dem für Nachteilsausgleich zuständigen Schulleiter oder mit einer Schlichtungsstelle oder der Schülerorganisation. Schüler:innen fühlen sich gesehen und ernst genommen, Lernende viel weniger. Da braucht es keine Image-Kampagne für die Lehre, sondern die Änderung von jahrzehntelangen Lehr-Traditionen.

Ueli Keller
20. März 2025 um 06:42

Ist es Zeit für Veränderungen?

So wie Arbeit und (Aus)Bildung organisiert sind, geht es vielen gut. Aber nicht allen. Werden letztere immer mehr, ist es Zeit, hin- und für Veränderungen zu schauen. Veränderungen sind nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem.

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