Lernende wollen gehört werden

Für Samstag ruft ein Kollektiv von Lernenden aus allen Branchen zu einer Demo für bessere Bedingungen in der Lehre auf. Im Gespräch berichten zwei junge Frauen von Diskriminierung und grossem Druck.

Scorpio Lehrlinge
Die beiden jungen Frauen und ihre Mitstreiter*innen sind bereit für die Demo. (Bild: Valerie Wendenburg)

Es ist kalt im Quartierstreff im Kleinbasel. Lilly* und Mona* könnten ein Feuer im Kamin machen, sie sind aber zu beschäftigt und lassen daher lieber ihre Winterjacken an. Die Zeit läuft und es gibt noch viel zu tun, bis zur geplanten Kundgebung am Samstag. Dann findet eine Demo für bessere Bedingungen in der Lehre statt, die die beiden jungen Frauen als Teil des Kollektivs Scorpio organisieren. Sie sind Anfang 20 und absolvieren eine Lehre im Handwerk. Kennengelernt haben sie sich über die Lernendenbewegung Scorpio. Sie verfolgen dieselben Ziele. «Wir möchten auf Missstände in der Lehre hinweisen und für unsere Rechte einstehen», sagt Lilly. 

Scorpio

Scorpio ist eine Gruppe von Lernenden, ehemaligen Lernenden und Unterstützer*innen, die sich Ende 2022 gegründet hat und sich seitdem gegen die Probleme in der Lehre wehrt. Auf ihrer Website heisst es: «Wir haben genug davon, unten in der Hierarchie zu sein. Wir stärken einander und leisten zusammen Widerstand.» Am Samstag, 22. März, ruft Scorpio zur Demo für bessere Bedingungen in der Lehre unter dem Motto «Ausbildung statt Ausbeutung» auf, die um 14 Uhr im De-Wette-Park startet.

Wie Dutzende ihrer Mitstreiter*innen möchten die beiden nicht mehr akzeptieren, «immer der schwächste Part in der Kette zu sein». «Ich bekomme ständig zu spüren, dass ich die billigste Arbeitskraft im Team bin und muss teils Dinge erledigen, die nichts mit meiner Berufsausbildung zu tun haben», sagt Lilly. Sie habe schon privat für ihren Chef einkaufen oder dessen Auto putzen müssen und fühlte sich bisher wehrlos, denn innerhalb des Teams kann sie sich an niemanden wenden: «Fast alle meine Kolleg*innen sind Männer, die viel älter sind als ich. Sie nehmen mich nicht ernst.»

Zwischen 10 und 13 Prozent brechen ab

Mona geht es ähnlich, sie hat bereits sexuelle Annäherungsversuche am Arbeitsplatz erlebt und letztlich Hilfe von ihrer Familie erhalten, die sie unterstützt und ihr geholfen hat, sich zu wehren. Laut einer Umfrage der Gewerkschaft Unia wurden 33 Prozent der befragten Lernenden am Arbeitsplatz bereits einmal sexuell belästigt und fast jede*r Dritte fühlte sich im Arbeitsumfeld schon einmal unwohl wegen Mobbing.

Nach Angaben des Erziehungsdepartements (ED) wurden seit August 2024 bei einem Gesamtbestand von knapp 6000 Lehrverhältnissen 413 Lehrverträge wieder aufgelöst. Die Zahl der Lernenden, die ihre Lehre abbrechen, lag in den letzten fünf Jahren konstant bei zwischen 10 und 13 Prozent. Wie Sandra Eichenberger, Leiterin Kommunikation im ED, betont, seien die Gründe für eine Vertragsauflösung vielfältig und die grosse Mehrheit der betroffenen Lernenden würde eine Anschlusslösung finden.

«Viele von uns leiden unter psychischen Problemen.»
Lilly, Lernende

Die beiden Frauen sind mit ihren Sorgen also nicht alleine. Wer aber meint, es ginge den Lernenden bei ihren Forderungen vor allem um mehr Lohn und mehr Ferien, der hat sich geirrt. Diese Punkte stehen auch auf ihrer Liste, aber mindestens genauso wichtig ist ihnen der Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz. Mona sagt: «Es heisst immer: ‹Da musst du halt durch› oder ‹Das war schon immer so›».

«Wehren können wir uns kaum, weil wir Angst haben, unsere Lehrstelle zu verlieren, wenn wir aufmucken.» Für sie und Lilly seien die Umstände in einem klassischen Handwerksberuf ohnehin hart. «Oft werden wir belächelt», berichten beide. 

Unter Druck

«Viele von uns leiden unter psychischen Problemen», sagt Lilly. Der Druck sei enorm, zumal die Lernenden Sorge vor einer Kündigung haben, selbst aber nicht einfach aus dem Arbeitsverhältnis aussteigen können. Denn eine Kündigung kann nur in gegenseitigem Einverständnis mit dem Lehrbetrieb ausgesprochen werden. «Wir haben einen Kollegen, der in der Pflege lernt und rassistisch diskriminiert wurde. Sein Chef hat ihm die Kündigung verwehrt, das zog sich über Monate hin und war sehr belastend», erzählt Mona.

Sie betont, wie wichtig ihr und den anderen Lernenden daher eine unabhängige Beratungsstelle ist, an die sie sich in solchen Fällen wenden können. Es gibt zwar heute schon kantonale Beratungsstellen, die aber stark überlaufen und zudem nicht wirklich unabhängig seien.

Allparteiliche Instanz

Das ED sieht dies anders. Eichenberger schreibt, die Fachstelle Lehraufsicht berate, unterstütze und vermittle bei Konflikten zwischen den Lehrvertragsparteien: «Sie ist somit für Lernende als auch für Lehrbetriebe Ansprechpartnerin und versteht sich als allparteiliche Instanz, die in einem ersten Schritt versucht, das Lehrverhältnis durch Gespräche am runden Tisch zu retten. Wo dies nicht möglich ist, wird die sinnvollste Lösung für die beteiligten Parteien gesucht bzw. werden Anschlusslösungen für die lernende Person besprochen.» Zudem sei die Ansprechbarkeit der Fachstelle hoch: «In der Regel werden Anfragen spätestens innerhalb von drei Arbeitstagen bearbeitet und/oder Termine innert nützlicher Frist vereinbart.»

Lehre
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Scorpio möchte die von den Lernenden genannten Missständen beenden. Diese organisieren sich selbst, stehen zusammen und möchten offen zeigen, dass sie sich die «Scheissbedingungen in der Lehre», wie im Flyer steht, nicht länger gefallen lassen. «Wir werden nicht wertgeschätzt und nicht respektvoll behandelt», sagt Mona – und hier spielt auch der Lohn eine Rolle.

Sie verdient im dritten Lehrjahr rund 1000 Franken pro Monat, es gibt aber Löhne zum Beispiel als Coiffeuse, die darunter liegen. Oft reiche das Gehalt, das weit unter dem Mindestlohn liegt, nicht aus, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Scorpio fordert daher einen höheren und einheitlichen Mindestlohn und Gratis-ÖV für alle Lernenden. Gefordert werden auch sieben Wochen Ferien und eine 35-Stunden-Woche inklusive Schulzeit. 

Unbezahlte Überstunden

Lernende sind teilweise 15 oder 16 Jahre jung, sie arbeiten, gehen in die Berufsschule und haben im Vergleich zu Schüler*innen ihres Alters deutlich weniger Ferien. «Der Alltag schlaucht, zumal wir Lernenden auch oft unbezahlte Überstunden machen müssen», sagt Mona. Die wenigsten Unternehmen würden den Lernenden zudem Zeit im Rahmen der Lehre geben, um für die Prüfungen zu lernen. «Das machen wir dann nach der Arbeit am Abend», so Lilly. Scorpio fordert auch einen freien Zugang zur Berufsmatura für alle und appelliert an die Betriebe, Lernende zu unterstützen, die sich für diesen Weg entscheiden. Aktuell bieten nicht alle Lehrbetriebe die Berufsmatura in Kombination zur Lehre an. Es ist Lilly und Mona aber auch wichtig, zu betonen, dass es durchaus junge Leute gibt, die grosses Glück mit ihren Lehrbetrieben haben, das aber sei leider alles andere als die Regel. Deprimiert wirken die beiden aber nicht, eher voller Tatendrang, sich für ihre Visionen einzusetzen.

«Gemeinsam fühlen wir uns stärker und trauen uns, für unsere Rechte einzustehen.»
Lilly und Mona, Lerndende

Beide Frauen betonen, dass sie ihren Beruf sehr gerne ausüben, sie aber die Bedingungen in der Lehre stören. Seitdem sie sich bei Scorpio engagieren, fühlen sie sich stärker und trauen sich, gemeinsam für ihre Rechte einzustehen. Ob sie Angst haben? Schon auch, geben Lilly und Mona zu. Daher möchten sie lieber anonym bleiben. «Schliesslich wollen wir ja keinen Ärger mit unseren Chefs provozieren», sagen beide.

Das ED erachtetet es laut Eichenberger als «selbstverständlich, dass Lernende ihre Anliegen in Form einer Demonstration äussern dürfen – im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben». Wichtig sei aber, dass der Dialog mit allen Beteiligten geführt werde.

Attraktiver Standort für die Berufsbildung?

Auf Nachfrage sagt Sandra Eichenberger, die Attraktivität der Lehre sei ein zentrales Anliegen des Erziehungsdepartements. Der Fokus liege auf drei zentralen Zielen:

  • Stärkung der Berufsbildung über alle Stufen hinweg: Die Berufsbildung soll als gleichwertige Alternative zur akademischen Laufbahn gefestigt werden.
  • Mehr Sichtbarkeit für die Berufsbildung: Die Berufsbildung soll in Schulen, in der Gesellschaft und in den Medien noch greifbarer werden.
  • Engere Kooperation mit der Wirtschaft: Eine stärkere Vernetzung mit Unternehmen ist entscheidend, damit Jugendliche früh und praxisnah Berufe entdecken können. Der Kanton fördert Betriebsbesichtigungen, Praktika für Lehrpersonen und den Austausch zwischen Schulen und Betrieben. Zudem setzt er Anreize, um mehr Betriebe zur Ausbildung von Lernenden zu motivieren.

Zusätzlich werde die Qualität der Ausbildung durch gezielte Unterstützungsmassnahmen gesichert, heisst es. Etwa durch Fachkurse für Berufsbildende, finanzielle Anreize für Ausbildungsbetriebe und Programme zur Förderung benachteiligter Jugendlicher. Dies, damit möglichst viele Jugendliche eine Ausbildung erfolgreich abschliessen und Basel-Stadt als attraktiver Standort für die Berufsbildung weiter gestärkt werde.

Den Lernenden tut es offenbar vor allem gut, die Erfahrungen zu kollektivieren und die Schuld nicht immer nur bei sich selbst zu suchen: «Das Bedürfnis nach Veränderung und Unmut über die bestehenden Verhältnisse ist riesig. Das spüren wir überall», sagt Lilly. «Es ist sehr befreiend, nach einem blöden Arbeitstag, an dem man nur fertig gemacht wurde, andere Leute zu sehen, die das Gleiche erleben.»

Den Satz «Lehrjahre sind keine Herrenjahre» hätten sie schon viel zu oft gehört. «Genau dieses Mythos wollen wir durchbrechen», sagen beide und geben sich kämpferisch. «Es kann ja nur im Interesse aller sein, wenn die Lehrjahre wieder attraktiver sind und weniger Lernende ihre Lehre abbrechen, als dies heute der Fall ist», sagt Mona und sortiert die roten Flyer, die auf dem Tisch im Quartiertreff liegen. Eine Scorpio-Fahne hängt an der Wand, bereit zum Einsatz am Wochenende, wenn es in Basel heisst: «Ausbildung statt Ausbeutung». 

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*Klarnamen sind der Redaktion bekannt.

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Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

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